Eurosonic / Noorderslag Tag 2: Neues aus der Muziekschool
Der zweite Tag des Eurosonic / Noorderslag in Groningen glich bisweilen einem Volksfest: Während die Branchenhasen durch die Clubs streiften und Acts wie The Suicide Of Western Culture entdeckten, lauschten die Anwohner im Café dem Blues von Jamie N Commons und feierten vor einer Riesenbühne die kleine Selah Sue.
Wir sind momentan auf dem holländischen Festival Eurosonic / Noorderslag und berichten täglich. Lesen Sie hier den Bericht des ersten Tages. Am Montag finden Sie zudem eine große Fotogalerie zum Festival auf unserer Website.
Muziekschool, Stadsschouwburg, Grote Markt, Huize Maas, De Spieghel – es hat einen ganz eigenen Klang, wenn man am nächsten Morgen noch einmal die Stationen des Abends Revue passieren lässt. Gegen die Kopfschmerzen, die man sich diesmal in einer sehr langen Nacht eingefangen hat, hilft das allerdings auch nicht. Ebenso schwierig ist es, einen Tag auf dem Eurosonic einigermaßen sortiert in einen Nachbericht zu bekommen. Da man sich doch die meiste Zeit treiben lässt, das, was man unbedingt sehen will, oft verpasst, weil der Club schon voll ist, und man ja doch immer in diversen Gruppendynamiken verstrickt ist, fällt es schwer, den Tag 1:1 wiederzugeben. Andererseits: Braucht man sowas überhaupt? Bei diesem Festival geht es ja immerhin um neue Musik …
… und davon gab es wieder einen ganzen Batzen, salopp gesprochen. In der Tat ist die Musik hier oft so neu, dass man bei einigen Bands das Gefühl hat, sie spielen noch nicht wirklich lange zusammen. So gestand Jamie N Commons, dass die Band bei einem Song das Ende vergessen hatte. Oder aber, man sieht ihnen den Nervosität an. So war es zum Beispiel beim zweiten Auftritt von 2:54, die diesmal im Huize Maas aufspielten, aber nicht so richtig den Weg in den Feedbackkeller ihres Doom-Pops fanden. Dass sich die Künstler hier ins Zeug legen und sich dabei manchmal verheben, wundert nicht wirklich, wenn man weiß, dass rund 3.000 Booker, Festivalorganisatoren und Journalisten mit dem Publikum durch die Clubs wuseln.
Oft spürt man schon im Vorfeld, welche Künstler von einem leichten Buzz begleitet werden. „Ich wollte mir heute The Intergalactic Lovers (Foto) anschauen, nachdem mir jeder zweite gesagt hat, DIE müsse man sehen“. Sätze wie diesen hört man oft – und geht der Sache ebenso oft nach. Im Falle der belgischen Band tat man auch gut daran: Zwar muss man Punktabzug wegen des bescheidenen Bandnamens vergeben, aber das machen sie musikalisch locker wieder wett. Ihr Pop mag bisweilen etwas glatt geraten sein, aber Stimme, Bühnenpräsenz und Optik von Sängerin und Gitarristen Lara Chedraoui sind schlichtweg umwerfend. Da müssen The Jezabels gut aufpassen…
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Auch Jamie N Common wurde ja von vielen – unter anderem von uns – wärmstens empfohlen. Was zur Folge hatte, das abends vor der Stadsschouwburg eine riesige Schlange im Regen stand. Allerdings gab es früher am Tag schonmal die Chance, den jungen Briten mit seiner Band live zu sehen. Im Rahmen des parallel stattfindenden Festivals „Platosonic“, initiiert vom Plattenlanden Plato, fanden schon ab dem frühen Mittag Konzerte mit den Festivalacts statt, abwechselnd in der Coffee Company nebenan oder eben zwischen den Regalen des Plato. Jamie N Commons spielte leider in der Starbucksfilialen-ähnlichen Coffee Company, was nicht so ganz zu seiner staubigen Stimme passen wollte. Dennoch: Sobald der Knabe singt – und dabei klingt wie ein ganzer Kerl – ist auch ein plappernder Kaffeetrinker ruhig.
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Boy wurden ebenso von besagtem Buzz umgeben und füllten die Halle der Machinefabriek spielend. Auch diesen Damen war die Nervosität ein wenig anzumerken. Ihre Band – mit zwei Keyboardern und sogar zwei Schlagzeugern recht üppig besetzt – war dann vielleicht doch ein wenig zu groß geraten. Aber selbst, wenn es manchmal kurz holperte: Das Duo hat sich mit seinem Auftritt, den sie mit dem wundervollen „Drive Darling“ begannen, für die europäische Festivalwelt empfohlen – was man ja irgendwie erwartet hatte. James Vincent McMorrow und Anna Calvi erfüllten später ebenso die Erwartungen: Bei beiden hatte sich ja schon lange vor dem Festival herumgesprochen, dass sie, jeder auf seine Weise, mitreißende Live-Künstler sind. Vor allem McMorrows „We Don’t Eat“ biss sich dabei in Herz und Hirn fest.
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Fast schade, dass man oft zu den Acts tendierte, die man eh schon auf dem Zettel hatte. Oder bei Selah Sue hängen blieb, die ja schon am Abend zuvor einen kleinen Auftritt hatte und nun auf der großen Bühne auf dem Grote Markt einen übergroßen Gig spielte. Die Bühne dort war nämlich Open Air und frei zugänglich – eine Einladung, der vor allem die Studenten der Stadt nicht widerstehen konnten. Die Belgierin meisterte diese Menschenmasse in Stadtfeststimmung mit ihrer Band dann erstaunlich gut.
Aber zurück zu den Neuentdeckungen: Schon am Nachmittag im Plato konnte man sich ebenso gruseln wie amüsieren – beim Anblick von Bitches With Wolves. Unter dem Namen firmiert James O’Neill, ein junger Mann mit Hipsterhaarschnitt, Glitzerfummel – und einer offensichtlichen Liebe zu den Pet Shop Boys und Erasure. Erst wirkte er ein wenig verloren, wie er dort, mit seinen zwei ebenfalls überall mit Glitzer behangenen Bandkollegen stand. Als er dann aber Song für Song einen seltsamen Bastard aus treibendem UK-Electro und dem schönsten und schlimmsten der 80er raushaute, und dabei zu jedem Song eine eigene Ein-Mann-Choreographie parat hatte – das war dann doch irgendwie beeindruckend. Selbiges Adjektiv hörte man ebenfalls in Verbindung mit der Show von Jessie Ware, ebenfalls eine Empfehlung von uns .
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Der Abend endete schließlich (oder vielmehr: der von Live-Musik beschallte Teil des Abends) mit dem Gig von The Suicide Of Western Culture, die im ersten Moment irritierten, einem aber nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen – vermutlich weil ihr lediglich mit Keyboards und Effektpedalen erzeugter Drone-Sound, dem Summen der eigenen Kopfschmerzen nicht unähnlich ist. In Verbindung mit den stimmigen Visuals und der fortgeschrittenen Uhrzeit wurde dann also selbst der letzte, eher zufällig besuchte Gig des Tages einer der eindringlichsten.