Eurosonic / Noorderslag Tag 2: Körperbehaarung, Kunst und Kapitulation
Mit Liveberichten zu The Kyteman Orchestra, Vimes und Mile Me Deaf.
Verdammt, wo ist das Fahrrad? Der morgen des dritten Tages auf dem Eurosonic dämmert mit dem Eingeständnis, dass es gestern Nacht wohl doch etwas länger und lustiger wurde. Wer schläft, verpasst was. Wer zu Fuß geht, auch. Daher schien es eine gute Idee Tag 2 in Groningen mit der Beschaffung eines Hollandrades zu beginnen – besagtes Rad, das nun vermisst wird. Bevor es wohl oder übel daran geht, aus etwa 500.000 Fahrrädern Leihrad Nummer 77 zu finden, bleibt noch ein wenig Zeit um das, was von gestern übrig ist Revue-passieren zu lassen.
Im Plattenladen PLATO und in der angrenzenden Coffee Company geben sich seit dem frühen Nachmittag Künstler, die später am Abend spielen, die Klinke in die Hand. Spielen ein paar Songs um Appetit auf den großen Auftritt zu wecken. Dies gelingt hier und da. LCMDF ein finnisches Duo, irgendwo zwischen Spice Girls und Pipettes, versprüht ein bisschen zu viel Retro-Girl-Power. Indie-Pop Band Balthazar aus Belgien hingegen ist ein Genuss. Virtuoses Gitarrenspiel, das an Junip erinnert, gibt es von Franky Chávez, nebenan.
Um acht tritt The Kyteman Orchestra auf der großen Open-Air-Bühne auf dem Marktplatz auf. Kyteman selbst dirigiert zweitweise über 15 Musiker und sieht dabei aus wie eine Mischung aus Sir Simon Rattle und Tingle Tangle Bob. „Preaching to the Choir“ heißt ein Song – und offensichtlich macht die epochale Mischung aus klassischer Musik, Jazz, Pop, Rap und Blues den Großteil des Publikums tatsächlich zu Jüngern. Ich bin nicht ganz so euphorisiert – zu viel Effekthascherei.
Im Zirkuszelt ähnlichen Venue namens Cathedral spielt Blaudzun, eine einheimische Folk-Rock Band. Zwar sind sie keine Newcomer, doch erst im vergangenen Jahr haben sie mit ihrem Album Heavy Flowers in den Niederlanden für Furore gesorgt. Immer wieder fiel der Name auf den Straßen Groningens, da kann man mal hin: Eingängige, originelle Musik, die sich bezaubernd mit der Mange-Atmosphäre verbindet.
VIMES, ein Kölner Elektro-Pop Duo, spielt im Anschluss im Simplon. Gut für die Band, schlecht für mich: Die Schlange ist so lang, dass schon die Hälfte ihrer Show rum ist, als ich drin bin. Ein rasanter Aufstieg für die Jungs, die es binnen kürzester Zeit geschafft haben, als Support von Hot Chip in Mexiko zu spielen und dieses Jahr eine Einladung zum SXSW eingeheimst haben. Im Simplon ist es zu voll, ansonsten würden alle tanzen, ganz bestimmt.
Ein weitere Name, deren Ruf ihr vorauseilt: Mile Me Deaf aus dem schönen Österreich. Katzenhemd, Baseballcap und Chain-Saw-Massacre-T-Shirt – ein bisschen sehen sie aus wie ein nerdige Schülerband aus den 90er Jahren. Grunge-Gitarre zu Popmelodien und einem prominenten Schlagzeug, interessante Stimme und elaborierte Arrangements. Es ist laut, es ist tanzbar, und auch beim ersten Hören hat das ganze Hitpotential. Zudem auch noch auf eine Napoleon-Dynamite-Art wirklich witzig. Mile Me Death, ihr seid auf dem Radar!
Viel versprechend klang auch die französische Elekro-Rock-Disco Skip The Use, doch die ewiglange Schlange vor der Vera ließ Plan B plötzlich wesentlich attraktiver erscheinen. Jacco Gardner aus den Niederlanden im Huis de Beurs. In einem Saal, der aussieht wie aus einem Cluedo-Spiel, führt der Multiinstrumentalist in Begleitung dreier weiterer Musiker eine muntere psychedelische Pop-Oper auf. Ein bisschen Syd Barrett, etwas Pet-Shop-Boys, eine Prise Badly Drawn Boy – fertig ist ein super Konzert, dessen einziges Manko fehlendes Bühnencharisma bleibt. Sicherlich etwas, woran Gardner noch arbeiten kann.
Da der Abend bisher wirklich Gutes im petto hatte, ist nun Zeit für ein Experiment gekommen. Ich fahre auf meinem Radel ins De Walrus, einer schrammeligen Bar, die abseits des offiziellen Programms lokalen Acts eine Bühne bietet. Der Frontmann sieht zwar Michael Stipe zum Verwechseln ähnlich, doch Avery Plains spielen soliden Rock. Im Publikum ausschließlich Einheimische, kommuniziert wird auf niederländisch. Fühlt sich an wie ein ganz gewöhnlicher Abend in Groningen.
Weiter geht’s über Brücken, die über den ringförmigen Wassergraben führen, der die Innenstadt Groningens vom Rest trennt, zum Museum. Zwischen niederländischen Meistern der Landschaftsmalerei von 1880 bis 1920 tritt Ghostpoet auf. Leider gibt es technische Probleme und der Auftritt verschiebt sich um 30 Minuten nach hinten, gerade lang genug um zu bemerken, dass einem so langsam das Abenteuer des Tages in die Glieder kriecht und ich müde bin. Der düster-schöne XXX Elekto-Soul fasziniert, macht aber nicht gerade wach.
Nach ein paar Muntermacher-Bieren im De Spieghel treten wir tief in der Nacht die Reise zur Machinefabriek an, um Roosevelt zulauschen, dem jungen deutschen Pop-Frickler und Multiinstrumentalisten. Vor ein paar Wochen als Support von Balthazar in Köln wusste er zu überzeugen, ganz sicher hat er das gestern Abend wiederholt. Gehört haben wir es leider nicht, denn wir sind nie dort angekommen. Irgendwo auf dem Weg muss ich auch das Fahrrad abgestellt haben, ganz bestimmt, hoffentlich …