EUROPAS NEUE WILDE
An den Mauerfall kann sich Jan Albrecht genau erinnern: „Ich stamme aus der Nähe von Braunschweig, Zonenrandgebiet, und als in der ,Tagesschau‘ auf der Deutschlandkarte die Grenze zur DDR durch eine gestrichelte Linie ersetzt worden ist, fand ich das sehr ergreifend.“ Die Rührung ergriff damals viele, allerdings dürften die meisten älter gewesen sein: Albrecht lernte 1989 als Erstklässler gerade Lesen und Schreiben. Heute ist er 30 Jahre alt. Der Jurist ist der jüngste deutsche Abgeordnete in Brüssel und sitzt für die Grünen im Europaparlament. In seinem kleinen Büro hängen Bilder vom Mauerfall und eine Fahne mit der Aufschrift „St. Pauli gegen Rassismus“. Albrecht sagt: „Wir sind eine Basispartei. Wenn wir nicht in der Regierung sind, dann sind wir Bewegung.“ So spricht der Mann, der das Urheberrechtsabkommen ACTA zu Fall brachte und nun den Kampf um den Datenschutz im Internet aufnimmt. Als Berichterstatter ist er so etwas wie der Vorsitzende im Innen-und Justizausschusses des Parlaments.
Dort vollzieht gerade sich eine stille Revolution. Früher hieß es: „Hast du einen Opa, dann schick‘ ihn nach Europa.“ Heute gilt: Eine neue Generation erobert das Parlament. Sie haben mit Erasmus-Stipendien im Ausland studiert, denken europäisch -und pragmatisch. Auffallend viele von ihnen sitzen in der Grünen-Fraktion. Auffallend viele kommen aus Deutschland. Wie Sven Giegold: Der Ökonom ist 44 Jahre alt. Früher hat er bei den Globalisierungskritikern von Attac für die Finanztransaktionssteuer und gegen die Macht der Banken gekämpft. Dann boten ihm die Grünen den Wechsel an, seit vier Jahren treibt Giegold seinen Kampf in Brüssel voran. „Attac war sehr auf Konsens ausgerichtet, das ist die Arbeit hier auch“, sagt Giegold. Im Flur vor Giegolds Büro steht in Lebensgröße ein Eisbär, das Fell grün gefärbt. Gleich dahinter liegt das Abgeordnetenzimmer von Rebecca Harms. Die Fraktionschefin steht für Kontinuität und hält die Truppe auf Kurs. „Es lohnt sich, hier offensiv für einen Kompromiss zu kämpfen. Ein kluger Kompromiss ist immer auch ein Weg zur Veränderung.“ Harms gesteht aber auch: „Meinetwegen könnte es zwischen den Fraktionen und Lagern hier ruhig ein bisschen mehr politischen Richtungsstreit geben.“
Europas Grüne: mittendrin, aber auch anders. Sie haben in Finnland regiert und sitzen in Dänemark an der Macht. Doch die deutschen Pragmatiker, geschult durch lange Jahre der Regierungspolitik, geben bei Europas Grünen den Takt vor. Rebecca Harms ist Fraktionsvorsitzende, Reinhard Bütikofer Parteichef der europäischen Grünen. Und über allen schwebt Daniel Cohn-Bendit -obwohl er seinen Abschied plant. Auch für die jungen Grünen ist das Parlament nur ein Lebensabschnitt. „Ich will nicht ausschließen, wieder für eine NGO zu arbeiten“, sagt Sven Giegold. „Als Anwalt Leute raushauen, die gegen rechts demonstriert haben oder gegen Atomtransporte“ – das wäre eine Option für Jan Albrecht.
Der Autor ist Europa-Korrespondent der „Berliner Zeitung“.