Erregungsgemeinschaften
Pazifisten sind die neuen Impfgegner. Das befürchtet zumindest unser Kolumnist Rocko Schamoni
Am Freitag war das Wetter in der Hamburger Innenstadt gut. Wenn das Wetter gut ist, kommen alle von überallher. Alle wollen dort sein und rumstehen und auf irgendetwas zeigen. Vor Corona waren schon sehr viele Menschen hier, aber jetzt, danach, sind es noch viel mehr. Die Menschen mögen gerne in großen Gruppen zusammenkommen und dahin gehen, wo noch mehr von ihnen sind und auf irgendetwas zeigen, dann fühlen sie sich wohl. Auf einmal wird es etwas lauter.
Vor dem Hotel Vierjahreszeiten steht ein Menschenpulk, bei näherem Betrachten stelle ich fest, dass es Impfgegner sind, eine verhältnismäßig kleine Gruppe, vielleicht 50, stehen dort mit Plakaten und Trillerpfeifen. Auf den Plakaten steht etwas von „Impfzwang“ und „Menschlichkeit“. Die Impfgegner sind erregt, aber ihr Impuls will nicht übergreifen, die Sonne scheint, der Frühling ist da, die Impfpflicht ist abgesagt, Lauterbach ist gescheitert, vor allem aber: Russland hat die Ukraine überfallen.
Das hält die Impfgegner nicht davon ab, lauthals zu skandieren, sie pochen auf ihr Recht sauer zu sein, ihren Unmut äußern zu dürfen, auch wenn es der Unmut über etwas bereits Vergangenes ist, sie demonstrieren gegen etwas, das nur theoretisch hätte stattfinden können. Vielleicht möchten sie auch einfach ihren Unmutsmuskel trainieren. Weil es doch so schön war, in einer Gruppe gemeinsam gegen etwas zu sein. Jetzt ist ihnen leider der Krieg in die Quere gekommen, der die meiste Aufmerksamkeit absorbiert. Erregungsgemeinschaften bieten den Menschen ein scheinbar sinnvolleres Zusammensein in Gruppen, als wenn man einfach „nur so“ um die Alster schlendern würde, denn hier tritt man für oder gegen etwas an.
Ich weiß, wovon ich rede, ich bin ja selber auch gern in Erregungsgemeinschaften über die sich vermutlich andere lustig machen. Zum Beispiel Erregungsgemeinschaften über Waffenproduktion und Waffenhandel. Wie gestrig, und verloren mögen wir Pazifisten mit unseren naiven, weichlichen Vorstellungen jetzt dem Rest der Welt vorkommen. All den Leuten die schon in meiner Jugend über mich den Kopf schüttelten, wenn ich mich gegen Militär und Manöverübungen erregte. Sie alle scheinen Recht behalten zu haben – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf –, und weil die Möglichkeit von Gewalt jederzeit in der Luft liegt, müssen wir uns mit Waffen gegen diese potenzielle Gefahr schützen.
Mir kommt eine Erkenntnis: Wir, die wir in den frühen Achtzigern als junge Punks aufwuchsen, uns gesellschaftskritisch verhielten, uns politisch formulierten, Religion und Militär für endgültig veraltet erklärten, wir also, die Kinder der Generation, die den großen Traum von Freiheit, Gleichheit und weltweitem Frieden 1968ff. in einer neuen Form erschuf, sind mittlerweile: ein verblassender Hippietraum.
Im Geiste dieses Traumes wurden wir gezeugt und unter seinen Slogans wuchsen wir auf, ich wäre nie darauf gekommen daran zu zweifeln, warum auch („What‘s So Funny About Love, Peace & Understanding“, haben Nick Lowe und später Elvis Costello gesungen), nichts schien falsch daran und dennoch ist der Traum obsolet, ausgeträumt, die Hippies sind tot, die Punks haben graue Haare und ansonsten glauben mehr Menschen denn je an irgendwelche absurden Götter und bringen sich gegenseitig deshalb um, wählen Autokraten an die Macht, und im Angesicht des Klimawandels, der größten Aufgabe der Menschheitsgeschichte, meinen verblendete Potentaten auch noch, Kriege führen zu müssen, um ihre Großmachtphantasien ausleben zu können. Es erscheint alles völlig irre, grotesk und chaotisch. Und dann wählen auch noch 42 Prozent der Franzosen Le Pen! Ausgerechnet die Franzosen! Wenn dann demnächst in den USA Trump wiedergewählt wird (und die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering), höre ich sofort auf und ergebe mich endgültig. Erkläre mich als ausgeträumt. Verpuffe ich.
Es war alles nur ein schöner, kleiner Hippietraum.
Autorenbild von Kerstin Behrendt