Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Welche Musik die Zugmitreisenden wohl hören
Schweifende Gedanken während einer Zugfahrt: Eine bekrümelte Santana-Hörerin, Camp-David-Jungs und der JJ-Cale-Hörer Liam Neeson
Folge 239
Irgendein Musiker, ich habe vergessen, wer es war, sagte einmal, Züge seien optimale Orte, um Songs zu schreiben. Das Zusammenspiel von vorbeifliegenden äußeren Reizen und Festgepfropftheit im Raum sei optimal, um einen Arbeitszustand herzustellen, der Dinge zulasse, die fürs Songwriting nun mal unerlässlich seien. Dass Gleiches auch für das Schreiben von Pop-Tagebüchern gilt, möchte ich schon an dieser Stelle bezweifeln. Ich schreibe diesen Text in einem ICE von Köln nach München, und während die möglicherweise im Abteil mitreisenden Songwriter vermutlich schon Material für acht Trennungsalben und fünf Platten voller aufrüttelnder Gesellschaftskritik verfasst haben, hält sich meine Inspiration bislang in Grenzen.
Wer nun meint, dass dieser Text zu einem weiteren Bahn-Bashing ausartet, irrt. Bislang ist noch nichts Schlimmes passiert – wenn man von einer Reisegruppe älterer Herren absieht, die durch das vehemente Tragen von Camp-David-Klamotten auffallen. Nein, der Zug zuckelt mit angemessener Geschwindigkeit seinem Ziel entgegen, er ist weder überfüllt, noch ist irgendetwas defekt. Auch Freunde von loriotesken Kommunikationsverknäuelungen entnervter Passagiere schauen in die Röhre. Und so schweifen die Gedanken ins Unendliche: Welcher Musik mögen die Leute im Abteil unter ihren Kopfhörern wohl lauschen?
Ich habe mich immer gefragt, was für Menschen das sind, die Nico Santos hören
Die Dame dort, ungefähr in meinem Alter und übersät mit Croissantkrümeln, hört vermutlich Santana. Menschen, die Santana hören, ist es egal, wenn sie mit Croissantkrümeln übersät sind. Oder der Typ neben mir, um die dreißig, mit deutscher Fußballspielerfrisur, der eben noch einen in metallenem Graugrün gedrehten Liam-Neeson-Film schaute und nun mit geschlossenen Augen zu irgendetwas mitwippt: Was mag es sein, das hier den Mitwippreflex antrigert? Ich vermute, es ist Nico Santos. Ich habe mich immer gefragt, was für Menschen das sind, die Nico Santos hören.
Es müssen ja eine ganze Menge sein, warum sollte also nicht einer von ihnen neben mir sitzen? Die grauhaarige Dame Mitte sechzig in Pünktchenbluse wiederum, die soeben durchs Abteil schlurft, hört ganz eindeutig Patti Smith. So wie sie sahen neulich beim Patti-Smith-Konzert alle aus. Was meinen absoluten Segen hat.
So, jetzt ist doch etwas defekt, und zwar der ganze Zug. Ein „Reset“ ist zwingend erforderlich, weshalb während des Herumstehens auf freier Strecke die Türen nicht geöffnet werden. Bei den Camp-David-Boys setzen sogleich die üblichen Reflexe ein: „Deutsche Bahn. War ja klar! Sollten wir uns mal in der Firma erlauben!“ Was wohl der auf dem Bildschirm meines Sitznachbarn um sich ballernde Liam Neeson für Musik hört? Ich könnte mir vorstellen, dass er – entgegen seinem Rollenklischee in Filmen mit Titeln wie „Cold Pursuit“ – eher selten Musik lauscht, zu der es sich mit lauter Schürfwunden im Gesicht vortrefflich mit einer Pistole herumfuchteln lässt. Meine Vermutung: Liam Neeson hört so was wie JJ Cale oder die Allman Brothers. Ja, je länger ich darüber nachdenke, desto mehr scheint mir Liam Neeson ein JJ-Cale-Hörer wie aus dem Bilderbuch zu sein. Gottlob macht er anders als einige Schauspielerkollegen selbst keine JJ-Cale-Musik! Das ist gut so, denn die klänge dann wie Eric Clapton.
Der Zug fährt jetzt wieder, allerdings in die falsche Richtung, was im Camp David für erste Gewaltfantasien sorgt. Wo ist die sedierende Kraft der Musik von JJ Cale, wenn man sie braucht? Hat Liam Neeson eigentlich schon einen in metallenem Graugrün gehaltenen Film gedreht, der in einem Zug spielt, der von einer eben noch ganz harmlos wirkenden croissantkrümel- übersäten, nunmehr aber schwer bewaffneten Dame in ihre Gewalt gebracht wird? Falls nicht, sollte er es dringend tun.
Das Abteil ist jetzt in der Hand der Camp-David-Hemden, die lautstark ihrem Verdruss über die Bahn und den allgemeinen Niedergang Ausdruck verleihen. Gott sei Dank ist das Bordbistro außer Betrieb, sonst täten sie dies wohl mit Pils-Atem. Man kann das ja machen, es nutzt aber keinem; zudem ist lautstark vorgetragener Verdruss für andere eher uninteressant. Glücklich kann sich schätzen, wer Musik auf dem Kopfhörer hat. Vielleicht hätte ich doch besser einen Song schreiben sollen.