Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Novalis’ megastarke Blockflöte
Unser Kolumnist registriert die schrumpfende Popularität eines hassgeliebten Holzblasinstruments – ein kultureller Verlust?
Folge 34
Als ich kürzlich bei einem Glas Eierpunsch die Morgenpresse überflog, fiel mir eine Meldung ins Auge: Unter der Überschrift „Kinder lassen Blockflöte liegen – Alternativen sind hipper“ wurde da Beunruhigendes berichtet: Die Zahl der Blockenflötenschüler habe sich einer Statistik des Verbands Deutscher Musikschulen zufolge von 100.000 im Jahr 1995 mittlerweile nahezu halbiert. Doch der Artikel beließ es nicht bei der Verbreitung von Untergangsstimmung, sondern wagte analytische Ursachenforschung: Womöglich fehle es ja an Vorbildern „à la Stargeiger David Garrett“. Es fiel mir für den Rest des Tages tatsächlich einigermaßen schwer, das Bild eines blondmähnigen, mit allerhand Amuletten behangenen Starflötisten im weit aufgeknöpften Rüschenhemd aus meinen Gedanken zu vertreiben.
Doch soll der mir hier gebotene Platz keineswegs für billige Witzchen über den Niedergang der Blockflöterei missbraucht werden. Schließlich habe ich selbst als junger Bub einst die Blockflöterei erlernt. Außerdem gibt es ganz tolle Popsongs, in denen Blockflöten vorkommen, nämlich … äh … na ja … hm … Sind das bei „Fool On The Hill“ am Ende nicht Blockflöten? Wahrscheinlich sind es ganz andere Geräte, die da beflötet werden, und ich kann jetzt schon mal anfangen, aus meinem Aerobic-Zimmer die Medizinbälle rauszurollen, um Platz für die Wäschekörbe voller Protestbriefe und E-Mails zu machen. Warum derlei Post immer in Wäschekörben aufbewahrt wird, bleibt mir wohl ewig ein Rätsel. Wichtiger aber ist für den Moment, zu entknobeln, in welchen Popsongs Blockflöten vorkommen.
Halbgare Recherchen lassen mich im Internet auf ein Buch namens „Megastarke Popsongs für Sopran-Blockflöte“ stoßen. Doch bei den hier versammelten Stücken handelt es sich freilich keineswegs um megastarke Popsongs, in deren Ursprungsfassung tatsächlich Blockflöten aufspielen, sondern um megastarke Blockflöten-Arrangements megastarker Hits wie „My Heart Will Go On“, „Amazing Grace“ oder „House Of The Rising Sun“. Auch der Band „Flöten-Hits für coole Kids“ hilft, wie eine eilige Sichtung ergibt, nicht weiter. Der Wikipedia-Eintrag zur Blockflöte verweist diffus auf die Beatles, die Rolling Stones, Jimi Hendrix und Led Zeppelin. Immerhin bringe ich in Erfahrung, dass der Song „Henry Thomas“ von Lovin’ Spoonfool der bekannteste Popsong ist, in dem eine Nasenflöte zum Einsatz gebracht wird. Doch der Artikel „Kinder zeigen Nasenflöte die kalte Schulter – Wäschekörbe sind hipper, was soll nur werden??!“ ist hier ja nicht unser Thema.
Irgendwann verliere ich die Lust an der weiteren Recherche; sollen die Wäschekörbe ruhig kommen. Meine Gedanken schweifen von der Blockflöte zum deutschen Folkrock der Siebziger. Dessen Protagonisten führten sicher nicht nur regelmäßig allerhand Flöten zum Munde, sie hatten auch tolle Albumtitel. Ganz vorne dabei war die Band Novalis. Ein guter Freund wollte mir vor ein paar Wochen seinen liebsten Novalis-Albumtitel nennen. Sicher, da war das dritte Album „Sommerabend“, da waren auch „Brandung“ und „Vielleicht bist du ein Clown?“. Doch keiner davon ist der zauselbärtige König unter den Novalis-Albumtiteln. Es sind auch nicht „Sonnenwende“ oder „Flossenengel“. „Der beste Novalis-Albumtitel“, sprach der Freund feierlich, „lautet: ‚Wer Schmetterlinge weinen hört‘.“ Eine Pause entstand. Der Freund guckte kurz komisch. „Oder war es ‚Wer Schmetterlinge lachen hört‘? Jetzt bin ich irritiert.“ Ein paar Sekunden vergingen, dann fügte er hinzu: „Es könnte auch sein, dass die Platte ‚Wer Schmetterlinge weinen oder lachen hört‘ heißt.“
Ich habe mir das Werk bislang nicht angehört, da ich gegenüber deutschem Folkrock törichte Vorurteile hege. Ich will ihn aber trotz ulkiger Albumtitel nicht verdammen, schließlich habe ich die schöne Erfahrung gemacht, dass eine der Freuden des Älterwerdens darin besteht, Musikgenres entdecken zu dürfen, um die man früher stets einen Bogen machte. Doch der Tag wird kommen. Spätestens, wenn ich auf die in Vergessenheit geratene Band Eichendorff stoße. Bestes Album: „Wenn Schmetterlinge flöten lernen“.