Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Heute keine Platte!
Wie der Eigentümer eines Plattenladens mit Caféanschluss keine Alben verkaufen will, sondern seine Kunst beschützt
Folge 258
Neulich habe ich mir bei einem Besuch in einer deutschen Großstadt keine Schallplatte gekauft. Das war nicht einfach, da ich von Städtereisen nur zu gern Vinyl-Trophäen mitbringe. Aber ich habe es hinbekommen. Plattenladen Nummer eins hatte zu, Plattenladen Nummer zwei hatte keine guten Platten, im dritten roch es zu sehr nach Mann, zudem pflegte man dort jene Folklore der Unfreundlichkeit, die Schallplattenverkäufern ja nur zu gern hinterherhornbysiert wird.
Dann kam Plattenladen Nummer vier. Ein kleines, neben einem Café gelegenes Geschäft mit der sympathischen Anmutung einer Rumpelkammer, in dessen schmalem Schaufenster einige alte Kostbarkeiten drapiert waren. Ebenfalls in dem Fenster befand sich ein großes Pappschild, auf dem in knalligen Lettern „Eingang: Bitte durchs Café gehen“ geschrieben stand. Ich handelte wie gewünscht und betrat das Café. Drinnen stand hinter der Theke ein Herr, mutmaßlich der Cafébesitzer, und aß Kuchen. Just als ich den ortstypischen Gruß entbot (ich wurde nicht zurückgegrüßt), kam aus dem nur behelfsmäßig abgegrenzten Vinylgeschäft ein weiterer Gentleman gestürzt, offenbar der Plattenladenbesitzer. In seinen Augen stand die schiere Panik.
„Mist!“, rief er atemlos, „Die Leute sollen eigentlich nicht im Café nach dem Plattenladen fragen!“ Irritiert erwiderte ich, dass das Pappschild ja doch recht offensichtlich den Weg durchs Café weise und ich zudem lediglich gegrüßt hätte. Ich schaute zum Cafébesitzer, doch der sah unbeteiligt die Wand an und aß Kuchen. „Ja klar, sicher, aber hier kommen ständig Leute rein und stellen Fragen“, sagte der Plattenladenmann, ein strubbeliger T‑Shirt-Träger, und klang plötzlich seltsam mafiös. Offenbar stand es um das Klima zwischen den beiden nachbarschaftlich aneinandergeketteten Ladenbesitzern nicht zum Besten. Der Plattenladenmann verschränkte die Arme, versperrte noch etwas mehr den Durchgang zum Laden und fragte leutselig, ob ich denn etwas Bestimmtes suchte. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich lieber finde als suche. Ein Fehler.
„Also ich hab wirklich nur total ausgewählte Sachen. Die Leute kommen ständig und sagen, sie suchen Post-Punk-Platten. Suchst du Post-Punk?“ „Äh …“ „Hab ich nix!“, blaffte er, ohne meine Antwort abzuwarten. Ich sagte, dass ich Post-Punk dann wohl eher nicht so dringend suchte. „Krautrock?“, schoss er hervor. „Puh, weiß nicht, also …“ „Absolutely zero!“, informierte er, woraus ich folgerte, dass er eher keine Krautrock-Alben führte. Er habe Jazz,
Black Music aller Art, bisschen Library-Sounds, so was. Aber gerade passe es ohnehin nicht so gut. Spätestens jetzt war ich fasziniert: Der Mann hatte offenbar nicht das geringste Interesse daran, eine Platte zu verkaufen.
Ein Typus des Plattenladenbesitzers, der mir bislang noch nicht untergekommen war.
„Ach, Sie haben gerade gar nicht geöffnet?“, fragte ich. Obwohl ich merkte, dass ich es offenbar mit einem absoluten Original zu tun hatte, ging ich noch immer von einem Missverständnis aus. „Doch, schon, aber ein andermal wär echt besser.“ „Ich bin leider nur noch heute in der Stadt.“ „Verstehe, aber grad ist wirklich schlecht. Weißt du, hier kommen ständig Leute und wollen irgendwas. Ich komm dann überhaupt nicht mehr dazu, meine Tracks fertig zu machen. Ich mache ja auch noch Tracks.“
Jetzt fiel der Groschen: Der Mann war vorrangig Künstler! Und wie jeder gute Vertreter dieser Spezies räumte er seiner Berufung absoluten Vorrang vor allen niederen Alltäglichkeiten ein. Die verschränkten Arme, das Versperren des Eingangs: das war keine Abwehr. Hier beschützte jemand seine Kunst! Ich sagte, ich verstände nur zu gut, und
würde ein andermal wiederkommen. „Cool!“, sagte der Plattenladenbesitzer und ging zurück in sein kleines Geschäft. Beim Verlassen des Cafés sagte ich diesmal vorsichtshalber nichts. „Tschüs!“, rief der Cafébesitzer.