Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Größer als die Beatles
Nachdenken über den Karneval, ein Autogramm der Bläck Fööss in einem Autohaus und Prügel von juvenilen Kiss-Fans für AC/DC-Anhänger
Folge 221
Sprechen wir über eine deutsche Großstadt in der popkulturellen Krise. Sprechen wir über Köln.
Ausmaß und Tragweite der Covid-19-Pandemie werden dem Kölner mit beträchtlichem Zeitversatz erst in diesen ersten Monaten des Jahres 2021 so richtig klar. Das tatsächliche Ausbleiben aller karnevalistischen Aktivitäten kommt für die lebensfrohen Rheinländer einem leitkulturellen Super-GAU gleich. Über Deutschlands fröhlichster Großtadt hängt eine Wolke der Depression, die kölsche Seele ist von tückischem Mehltau befallen. Ein Leben ohne Pappnase, Lappenclown-Kostüm und reflexhaftes „Viva Colonia“-Gekrähe – kann man ein solches überhaupt als Leben bezeichnen?
Es sei gestanden, dass ich über das diesjährige Ausbleiben des großen karnevalistischen Täterätäs so gar kein bisschen traurig bin. Erstmals wird mein Februar nicht von verirrten Paukenspielern, inkontinenten Alaaf-Touristen und lokalpatriotisch gestörten Krakeelern dominiert werden. Erstmals werde ich mir den Weg nach draußen nicht durch ein Heer von zugereisten Frohsinns-Amateuren in SWAT-Uniformen bahnen müssen, die mir sechs Tage lang vor lauter Lebensfreude in den Hauseingang vomieren. Und erstmals werde ich nicht „En unserem Veedel“ von den Bläck Fööss verfluchen müssen, diesen sentimentalen Kölschrock-Evergreen über nachbarschaftliche Solidarität, der zur Saison inflationär oft aus den umliegenden Airbnb-Wohnungen schallt.
„Ich habe diese Alben geliebt, bis heute kann ich sämtliche Texte auswendig“
Die ersten (und letzten) Autogramme meines Lebens bekam ich von den Mitgliedern der Bläck Fööss. Es muss 1977 oder 1978 gewesen sein: Mein Vater war mit mir zu einer Autohauseröffnung in Bergisch Gladbach gefahren, deren musikalischer Teil von der Band bestritten wurde. Ich kannte die Musik der Bläck Fööss von zahlreichen TV-Karnevalssitzungen – und aus dem Partykeller meiner Eltern, wo die Alben der Band auf höchster Rotationsstufe liefen. Ich habe diese Alben geliebt, bis heute kann ich sämtliche Texte auswendig.
Für mich waren die Bläck Fööss größer als die Beatles. Sie hatten mindestens genauso gute Melodien, verfügten aber über den Vorteil, dass sie deutsch sangen. Beziehungsweise kölsch. Die Aussicht, die Band live zu erleben, war, gelinde gesagt, mind-blowing. Dass diese transzendentale popkulturelle Initiation im Rahmen einer Autohauseröffnung stattfinden sollte, schien mir in keiner Weise merkwürdig. Ich wusste noch nichts von Clubs und Mehrzweckhallen und ging davon aus, dass die Beatles nahezu jedes Liverpooler Autohaus mit eröffnet hatten.
Bläck Fööss: die ersten echten Rockgötter
Als wir auf dem Gelände ankamen, hatte die Band gerade den letzten Ton gespielt und begann damit, die Kabel zusammenzurollen. Mein Vater spürte meine Enttäuschung. Um mich zu entschädigen, lief er kurzerhand zum Betreuer der Band und besorgte mir eine Autogrammkarte, mit der wir von einem Bandmitglied zum anderen zogen. Dass ich das Konzert verpasst hatte, spielte keine Rolle mehr. Ich war tief beeindruckt: Nicht etwa weil die Musiker sehr freundlich waren, sondern weil ich nicht umhinkam festzustellen, dass sie mit ihren langen Haaren, Lederjacken und Schlagjeans großartig aussahen. Die Bläck Fööss waren die ersten echten Rockgötter, denen ich begegnen durfte. Selig zog ich an der Hand meines Vaters nach Hause. Nie hätte ich gedacht, dass mein Verhältnis zum Kölner Brauchtum je eine Eintrübung erfahren könnte.
Ich habe 1981 mit dem Karneval abgeschlossen. Es war das Jahr, in dem meine Wahl für das Weiberfastnachtskostüm, in dem ich zur Schule gehen wollte, auf „Angus Young“ gefallen war. Meine Oma hatte mir zu diesem Zweck eine perfekte samtene Schuluniform genäht. Voller Stolz kam ich damit ins Foyer der Gesamtschule spaziert. Doch die Freude währte nicht lange: Kaum hatten mir meine Mitschüler Respekt für mein gelungenes Kostüm gezollt, traten vier Kiss-Fans aus einer höheren Klasse auf den Plan und verprügelten mich. So war das nämlich damals auf den Gesamtschulen: Ständig wurden AC/DC-Fans von Kiss-Anhängern verprügelt – und umgekehrt. Es war ein lächerlicher Irrweg: Kiss vs. AC/DC – popmusikalische Fliegengewichte im Boxring. Ich hätte Bläck-Fööss-Fan bleiben sollen.