Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Gewitter in der Popmusik
Donner in der Nacht: Beispiele von Nick Cave, Elton John, Bob Dylan, dem Electric Light Orchestra – und Frankensteins Ururenkel
Folge 261
Es gibt Situationen, die nach angemessener musikalischer Begleitung verlangen. Vor ein paar Tagen etwa, ich saß gerade mit einem Freund auf dem Balkon, ging ein Gewitter über der Stadt hernieder. Voller Staunen schauten wir der Naturgewalt zu, stellten aber bald fest, dass mal wieder die richtige Musik für den Moment fehlte. Die vom engagierten Besucher rasch aufgerufene Spotify-Playlist „Thunderstorms“ erwies sich schnell als Sackgasse, denn sie enthielt ausschließlich reproduzierte oder mitgeschnittene Donner-Blitz-und-Wolkenbruch-Sounds von Künstlern mit Namen wie Shaman, Stormy Zeus oder In Natura.
„Es müssen drollige Menschen sein, die während eines Gewitters akustisch nachgebastelte Gewitter hören“, sagte ich. „Ja, aber Menschen, die bei bestem Wetter Gewittersounds hören, dürften kaum weniger drollig sein“, antwortete der Freund. Jedenfalls: Danke für gar nichts, Spotify! Dabei gibt es so viele Gewitterlieder – mehr sogar noch als Lieder über Schlittschuhlaufen im Zebrakostüm bei Vollmond! Lassen Sie mich ein paar Beispiele ansprechen.
Mein liebstes Gewitterstück ist „Tupelo“ von Nick Cave & The Bad Seeds. Vielleicht weil es das erste Gewitterstück war, das ich je hörte. Das Lied beginnt erwartbarerweise mit dem Sound eines Blitzeinschlags, dann setzt ein knorriger Bass ein, gefolgt von Caves Zeter und Mordio. Es geht um nicht weniger als Elvis Presleys Geburt in einer Gewitternacht. „The beast, it cometh, cometh down!“, barmt Cave.
Nun muss es ja nicht immer gleich die halbe Bibel und der ganze Elvis sein. Vom Electric Light Orchestra gibt es das hübsche „Summer And Lightning“, ein typisches Beispiel für Jef Lynnes hochsympathisches Vielzuviel, das ebenfalls mit Blitzsounds hantiert. „Gibt es denn überhaupt Gewitterlieder ohne obligatorische Gewittersounds?“, werden jetzt vielleicht meine Leserinnen fragen. Ja, gibt es: Lana Del Reys „Thunder“ zum Beispiel, eine entrückte Klavierballade, die den Donner als Metapher für ein stürmisches Temperament verwendet. Oder sind da etwa doch Donnerklänge im Hintergrund zu vernehmen? Wahrscheinlich höre ich nach Cave und ELO schon Phantomgewitter.
Elton Johns „Thunder In The Night“ von 1979 kommt ebenfalls ohne Gewitter-Field-Recordings aus. Leider aber nicht ohne nachgeäfte Disco-Produktion. Auch muss festgehalten werden, dass das Stück mit dem wohl schwächsten Refrain aufwartet, den der Künstler je komponiert hat. Was nicht heißt, dass dem arglosen Hörer besagter Refrain nicht noch durch den Kopf gewittern würde, wenn der letzte Thunderstruck längst eingeschlagen ist.
Apropos: Über den beliebten AC/DC-Gassenhauer schreibe ich nichts, weil ich lieber gleich zum besten Gewittersong aller Zeiten komme. Der stammt von einem Deutschen. Die Rede ist von „Der Ur-Ur-Enkel von Frankenstein“ von Frank Zander. Gleich am Anfang setzt es erst einmal einen Blitzeinschlag, der sich gewaschen hat, gefolgt vom besten Sargdeckelknarren, das je in einem Song zu hören war. Das Lied ist allein schon deshalb der beste Gewittersong, weil er sich nicht in der Beschreibung des Naturschauspiels erschöpft, sondern vielmehr thematisiert, wofür so ein Gewitter am Ende wirklich zu gebrauchen ist – nämlich um zuvor zusammengeklaubte Leichenteile mittels Elektrizität in ein Lebewesen zu verwandeln.
Der Blödelbarde Bob Dylan griff Zanders Idee fast fünfzig Jahre später für seinen Song „My Own Version Of You“ auf. Der Zander-Song ist über die Maßen erstaunlich: eine Art Proto-Rap über einen stoischen Beat mit einem Synthesizer-Käuzchen. Warum arbeiten nicht mehr Songs mit Synthesizer-Käuzchen? Als Produzent fungierte der Künstler selbst; auch Kollege Gunter Gabriel war in die Vorgänge verstrickt. „Der Ur-Ur-Enkel von Frankenstein“ erschien 1974 auf dem ein Jahr zuvor gegründeten Hansa-Ableger der andere song, wo überwiegend komödiantisch orientierten Künstlern eine Spielfäche geboten wurde.
Wissen Sie was? Vergessen Sie das mit den Gewittern. Was wir wirklich brauchen, sind mehr Songs mit Synthesizer-Käuzchen.