Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Ein Lob der Ignoranz
Über einen Sampler mit 80er-Jahre-Hinterzimmerstudio-Musik zwischen Pop und Avantgarde und den zwingenden Hineinbuddelreflex.
Folge 178
Mein Musikhörverhalten scheint mir zunehmend seltsam zu werden. Im vergangenen Jahr kaufte ich mir einen Sampler namens „Uneven Paths: Deviant Pop From Europe, 1980–1991“. Ich höre seither nahezu ausschließlich diese eine Platte. Auf dem Doppelalbum sind 21 ursprünglich nur in Kleinstauflage erschienene Stücke versammelt, die in den 80er-Jahren in europäischen Hinterzimmerstudios von kurzlebigen Projekten eher amateurhafter Prägung aufgenommen wurden.
Stücke, die sich nicht recht entscheiden können, ob sie halb gare Avantgarde oder halb garer Pop sein wollen. Die Ergebnisse dieses Spagats sind fast durchweg faszinierend und erzählen, wie klingende Fußnoten zum zeitgleichen Treiben im Mainstream, eine alternative Geschichte der Popmusik jener Tage: Man hört griechische Outsider-Disco, belgische Spoken-Word-Elektronik, verdaddelten Hawaiihemden-Pop-Rock und nachgebastelte Weltmusik.
AmazonVieles klingt wie in lauen Sommernächten im Schlafzimmer produziert. Immer wieder lege ich diese Platte auf, alles andere lässt mich kalt. Der einzige andere Musiker, dem es seither gelang, sich dann und wann zwischen mich und die Compilation zu zwängen, ist Mark Kozelek. Und Mark Kozelek sollte man bekanntlich nicht sagen: „Das passt jetzt gerade aber überhaupt nicht, ein andermal bitte!“ Ansonsten aber: immer wieder der komische Sampler.
Phasenhörer graben gerne
Was schon immer angelegt war, verhärtet sich mit fortschreitendem Alter: Ich bin ein Phasenhörer. Einmal von einem Künstler oder einem Genre berührt, muss ich mich ganz hineingraben. Alles, was aus dieser jeweiligen Welt stammt, muss dann gehört werden. Jeder anderen Musik wird in diesen Phasen mit Ignoranz oder Desinteresse, bestenfalls mit höflicher Kenntnisnahme oder unverbindlichem Respekt begegnet.
Ich empfinde dieses Verhalten als gleichermaßen irritierend wie logisch: Ich stelle fest, dass die meisten meiner Bekannten ständig allerhand Musik aus den verschiedensten Ecken hören, dabei natürlich durchaus ihre Vorlieben pflegen, aber eben an den unterschiedlichsten Ecken des musikalischen Büffets unterwegs sind. Für mich selbst empfinde ich dieses Hineingraben in ein Thema allerdings als absolut zwingend.
Sagen wir so: Vielfalt und Abwechslung nehmen in meinem Weltbild keinen allzu hohen Stellenwert ein, am allerwenigsten wenn es um Kunst, Musik, Literatur oder dergleichen geht. Ich will ehrlich sein: Ich verachte den Wunsch nach Vielfalt und Abwechslung sogar. Er scheint mir ein Indiz für ästhetische Ungefestigtheit zu sein.
Nun ist es freilich einigermaßen leicht, einmal von Neil Young oder Joni Mitchell gepackt, nach und nach deren Werk zu erforschen. Erst alle guten, dann alle mittleren, schließlich auch die schlechten Alben zu hören. Irgendwann Live-Platten zu erforschen und zuallerletzt in Bootleg-Welten verloren zu gehen. Was aber, wenn der monokulturelle Hineinbuddelreflex auf einen Sampler anspringt, auf dem wie im vorliegenden Fall 80er-Jahre-Hinterzimmer-Produktionen versammelt sind?
AmazonNatürlich: Man kann, so wie Ihr Chronist, die ganze Zeit den Sampler rauf und runter hören. Aber da ist diese verdammte Lust auf mehr! Da das Schaffen der Beteiligten aber überschaubar ist und man nicht unbedingt 1.526 Euro für irgendeine ultrarare Originalsingle ausgeben will, hört man sich bald im Schallplattenladen fragen: „Führen Sie Alben von erfolglosen europäischen Amateurmusikern, die sich in den 80er-Jahren nicht zwischen Avantgarde und Pop entscheiden konnten?“
Leider lautet die Antwort keineswegs: „Natürlich, dort hinten, wo das Schild mit der Aufschrift ‚Platten von erfolglosen europäischen Amateurmusikern, die sich in den 80er-Jahren nicht zwischen Avantgarde und Pop entscheiden konnten‘ hängt!“ Man wird von guten Schallplattenhändlern vielleicht noch mit etwas belgischem Wave oder italienischen Sphärensounds konfrontiert, aber so richtig erfüllt ist man von diesen Sachen nicht.
Es gibt auch kein Pop-Christkind, das man um weitere Europa-Obskur-Sampler bitten könnte. Gut, dass es in diesen Momenten Mark Kozelek gibt!