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Eric Pfeils Pop-TagebuchKolumne

Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Doom im Zitronenbaum

Was tun, wenn die ganze alte Musik den Schuss nicht gehört hat und selbst jüngste Veröffentlichungen im Angesicht der Krise nostalgisch anmuten?

Folge 204

Wie dichteten bereits die großen Philosophen von Fool’s Garden in ihrem Lied „Lemon Tree“: „Isolation is not good for me / Isolation – I don’t want to sit on the lemon tree“.

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Die Welt erscheint dem sensiblen Betrachter dieser Tage als Zitronenbaum. Trefflicher lässt es sich nicht ausdrücken. Und wer im Zitronenbaum sitzt, läuft Gefahr ulkig zu werden. Zerstreuung, ja vielleicht sogar Trost seien in der Kunst zu suchen, heißt es immer wieder. Also hört man Musik, schaut Filme und liest Bücher.

„Na, wann kommt denn hier das Ordnungsamt?“

Doch hier stellt sich bald ein Problem: Der Großteil der Songs, Filme und Bücher scheint auf einem fernen Planeten zu spielen. Einem Planeten, auf dem man anderen Menschen begegnen, reisen, in Bars abstürzen, durch die Betten springen, Morde begehen, Morde aufklären, kurz: sich frei bewegen kann.

Vor ein paar Tagen erst sah ich einen Film, in dem sich in einer Szene drei Menschen in einem Café trafen. „Na, wann kommt denn hier das Ordnungsamt?“, durchzuckte es mich. Auch bei „The Good, the Bad & the Ugly“ war einer zuviel; gestern dann brach ich „Die glorreichen Sieben“ mittendrin ab, weil niemand auftauchen wollte, um den reitenden Herren zu erklären, dass von Zusammenrottungen im Namen der Ballerei und Reiterei im Augenblick dringend abzusehen ist.

https://www.youtube.com/watch?v=h1PfrmCGFnk

Es ist ein Problem: Die Kunst scheint noch nicht über die gegenwärtige Situation in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Bleiben wir bei der Popmusik: „Dancing in the Streets“? „Walking in Memphis“? „Goin’ to Acapulco“? „Come together“? Alles keine Option. Selbst eben erst veröffentlichte Alben und Songs umweht mit einem Mal der Hauch der Nostalgie.

Corona-Krise: Ignorieren – oder Doom Metal hören

Mir scheint, es gibt es drei Möglichkeiten, dem geschilderten Problem zu begegnen. Erstens, immer gern genommen: Ignorieren. Einfach weiter Musik hören, ganz gleich welche, und die darin besungenen Verheißungen außerhäuslichen Herumspringens, Flüchtens, kollektiven Aufbegehrens oder Promiskuitierens nicht als schmerzlich klaffende Lücke zu empfinden. Haut auf Dauer leider nicht hin, da populäre Musik zu einem beträchtlichen Teil von Identifikation lebt und die besungenen Freuden nicht allzu fern und unwirklich erscheinen dürfen.

Die zweite Möglichkeit: ausschließlich nur noch skandinavischen Doom Metal hören, weil in diesen Tagen der Fan gruseligen Weltuntergangsgeknüppels nun mal die Nase vorn hat. It’s never too late to doom! Dieser Ansatz wurde nach gut dreistündiger Prüfung im Haushalt ihres Autors allerdings ebenfalls verworfen. Es liegt kein Segen auf Dauerdoom im Zitronenbaum.

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Möglichkeit Nummer drei: Man stellt sich, wie gerade häufig praktiziert, eine Playlist mit Musik zusammen, die in irgendeiner Weise diffus um die momentanen Reizthemen (Epidemien, Viren, Isolation) kreist. Hier ist das Problem, dass die meisten Lieder die genannten Begriffe eher metaphorisch verwenden oder trotz Nennung der Schlagworte in Titel und/oder Refrain ganz besonders auffällig am derzeitigen Ausnahmezustand vorbeidudeln. Die in vielen Liedern besungene Einsamkeit, Isolation und Paranoia hat mit der aktuellen Ausprägung dieser Begriffe einfach zu wenig zu tun.

Es führt also kein Weg daran vorbei: Es muss ganz schnell neue Musik her. Musik quasi, die um die Situation weiß. Mehr noch: Es geht um nichts weniger als darum, mit Musik auf eine neue, ungehörte und undämliche Art Hoffnung zu verbreiten, die der gegenwärtigen Situation jenseits hohler Beschwörungen gerecht wird. Das stellt eine Herausforderung dar, schließlich begegnet der diskursiv aufgekratzte Hörer musikalischen Hoffnungsverbreitern zurecht mit Argwohn.

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Aber wie gesagt: Es geht um eine neue Form der Hoffnung. Ganze Konzeptalben wären hier denkbar. Vielleicht gründet auch irgendjemand ein total aufgekratztes, utopistisches 2-Personen(!)-Elektrozappel-Projekt namens „Die neue Hoffnung“. Ich weiß, ist noch ausbaufähig.

Aber ich bin frohen Mutes. Irgendetwas wird mit der Musik passieren. Bald. Und es wird hoffentlich mehr sein als das drohende ewig währende Nachholkonzert nach der Krise. Noch aber muss man warten. Isoliert mit lauter oller Musik zu Hause. Beziehungsweise im Zitronenbaum.

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