Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Ein Jahr geht um die Welt
2024 war einiges los im Pop: Adele, Taylor Swift – und Coldplay, die bewiesen, dass man für KI-Musik keine KI braucht.
Folge 275
Mein Lieblingsbuch des Jahres 2024 trägt den Titel „1967“. Geschrieben hat den schmalen Band mit dem Untertitel „How I Got There and Why I Never Left“ der Songwriter Robyn Hitchcock. Er erzählt darin von seiner musikalischen Erweckung im titelgebenden Jahr vor dem Hintergrund seines Einzugs ins Internat: Ständig erscheinen neue elektrisierende Platten, die Popmusik erklimmt höchste Gipfel und entzündet dort ein Feuer nach dem anderen – rosige Hoffnung an allen Horizonten.
Am Ende des Buchs ist das Jahr 1967 zwar vorbei, für den Sänger aber sollte es nie enden. Zugegeben: Das Jahr 2024 wird, was kulturelle Gipfelstürmerei anbelangt, vielleicht nicht in ähnlichem Maß in die Legenden und Gesänge eingehen, es war nicht eben ein Annus mirabilis des Pop. Wer dabei war, weiß jedoch: Es war durchaus einiges los.
Beth Gibbons sang wieder, Nick Cave lud zum Gottesdienst, The Last Dinner Party spielten rüschigen Goth-Pop für eine neue Generation, und Beyoncé ritt den Country-Schimmel. Die Wahl Trumps konnte die Sängerin – ebenso wie der Rest der US-amerikanischen Pop-Oberschicht – freilich nicht verhindern. Stattdessen obsiegte das Faustrecht der Prärie. How the West was won 2024.
Den hiesigen Konzertsommer der Liebe prägten zwei andere Vertreterinnen des musikalischen Establishments: Taylor Swift und Adele. Städte wurden umbenannt und tragbare Pop-up-Arenen errichtet; zur Adele World zählten ein Biergarten, die Adele Spritz Lounge, ein Riesenrad und ein Kettenkarussell: die Eventisierung des Pop auf Rollschuhen. Nach dem Abbau der Adele World fand auf demselben Gelände eine Baumaschinen-Fachmesse statt.
Die in vielerlei Hinsicht betrübliche Weltlage führte 2024 bei einigen Künstlern zu Affekthandlungen: Aus lauter Schreck über den drohenden Untergang der menschlichen Zivilisation vereinten sich im August aus Versehen Oasis wieder – mit ihrem Originalgitarristen Bonehead! Der sieht inzwischen aus wie der Zweitplatzierte beim letzten Ian-Anderson-Ähnlichkeitswettbewerb, es kann also nur großartig werden.
Coldplay-Sänger Chris Martin wiederum teilte der perplexen Weltöffentlichkeit im September mit, dass seine Band eventuell, also ganz vielleicht, in ein paar Jahren mit dem Musikmachen aufhören werden, mal sehen. Parallel veröffentlichten Coldplay aber erst mal eine neue Platte, die eindrücklich Zeugnis davon ablegt, dass man für KI-Musik keine KI braucht.
Zurück nach Deutschland: Im November untersagt Herbert Grönemeyer zuerst Friedrich Merz und kurz darauf auch Robert Habeck, seinen Song „Zeit, dass sich was dreht“ für ihre wahlwerberischen Zwecke zu nutzen. Als Merz daraufhin ersatzweise Nico Haaks „Schmidtchen Schleicher“ bei seinen Auftritten verwenden will, schreiten auch die Erben des holländischen Sängers ein. Dass Markus Söder und Christian Lindner bislang noch keine deutschen Schlager zur Untermalung ihrer Wahlkampfauftritte eingesetzt haben, bleibt das Positivste, was sich über die beiden sagen lässt.
Mehr Texte von Eric Pfeil
- It’s not dark yet
- Eine Kiste Christenrock
- Summer Of Pop
- Gründet eine Band!
- Der Samt-Frosch mit der Flöte
- Mutters Asche für den Star
- Reise zu den Stars
- Wenn die Mamba spielt
- Über das Tragen von Band-T-Shirts
- Söldner im B-Movie
- Trübe Tage mit Jimmy Buffett und Sangria
- Wenn der Rücken zwickt
- Preziosen im Ramsch
- Wie ich einmal neue Lautsprecherboxen brauchte
- Heute keine Platte!
- Zum Tag des deutschen Bieres
- Was man NICHT in den Platten-Grabbelkisten finden will
Mein persönliches Musik-Highlight 2024 waren die Deutschlandkonzerte Bob Dylans, auf denen der Sänger mit dem Rücken zum Publikum musikwissenschaftlich bislang unerforschte Dinge auf der Gitarre zum Besten gab. Es war die reine Gottesebenbildlichkeit.
Sollte ich 2044 immer noch Pop-Tagebuch führen, werden Coldplay vermutlich ihre Wiedervereinigung angekündigt und The Last Dinner Party eine Country-Platte veröffentlicht haben. In der Bob Dylan Spritz Lounge wird noch immer Licht brennen, außerdem feiern wir 2044 alle gemeinsam mit der amerikanischen Präsidentin Charli XCX das Brat-Summer-Revival.
Nichts scheint so weit entfernt wie die jüngste Vergangenheit, schreibt Robyn Hitchcock. Was 2024 angeht, muss leider gesagt sein, dass man es – anders als der britische Musiker sein elysisches 1967 – schleunigst mit wehendem Haar verlassen sollte. Nehmen Sie die Beine in die Hand!