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Eric Pfeils Pop-TagebuchKolumne

Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Eine Kiste Christenrock

Wie ich eine Musikerin aus Litauen mit dem Rad überfuhr und einen Karton mit Sacropop-Platten fand.

Folge 272

Wenn es mal wieder gilt, die Popkultur im Alltagstreiben aufzustöbern, reicht es oft, ein Ründchen mit dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren. Hierzu ist es von Vorteil, wenn man eine Stadt zur Hand hat, natürlich. Auf dem Land kann man da mitunter lange radeln. In meinem Fall ist es eine durchaus seltsame Stadt, wir reden hier immerhin von Köln.

Unlängst kurvte ich gerade mal wieder durch die Gassen, als ich um ein Haar eine junge bedreadlockte Frau überfuhr. Während ich noch mit dem Schrecken rang und Entschuldigungen vor mich hin japste, hatte sie sich bereits erholt und rief mir mit gefärbtem Zungenschlag zu: „Mögen Sie Rock? Wir sind eine Rockband aus Litauen!“ Erst da sah ich, dass sie einen Stapel selbst gebrannter CDs in Händen hielt. Ich verneinte reflexhaft und fuhr, immer noch leicht durchrüttelt, weiter. Nach einigem Radeln überkam mich das schlechte Gewissen: Hatte ich zu barsch reagiert? Warum vermochte das Konzept „Rockband aus Litauen“ mich kaum mehr zu verführen als das Konzept „regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen“?

Ich ging hart mit mir selbst ins Gericht und zieh mich des Schnöseltums und der Ignoranz. Als ich aber in eine Nebengasse einbog, machte ich dort eine Entdeckung, die mir die reuevollen Gedanken schlagartig vertrieb. Dort stand vor einem Haus ein Karton mit Schallplatten – offenkundig zur Mitnahme. Doch nicht der übliche Ramsch befand sich darin, wie ich beim fiebrigen Durchwühlen feststellte. Es waren vielmehr Alben mit verheißungsvollen Titeln wie „Die Statuten des Menschen“ oder „Fünf Brote und zwei Fische. Kinderbeatmesse“.

Größen des Sacropops

Ich wühlte mich weiter durch die Kiste und entdeckte „Exodus. Zur Hoffnung berufen“ von Oskars Kirchenmäusen und der Altstadt-Studio-Combo und „Unterwegs … in das Land der Verheißung. Ein geistliches Spiel“ von der Gruppe Impulse. Ich studierte die Rückseiten der Cover, die zum Großteil Peter „Piet“ Janssens und Ludger Edelkötter, die Päpste des deutschen Sacropop, als Verantwortliche benannten.

Namen wie Versprechen – ach was: Verheißungen! Aber auch eine Hervorbringung von Ingo Barz feat. Karl Scharnweber mit dem Titel „Und alle brauchen Wärme“ war Teil des Konvoluts. Ein klarer Fall: Vor mir stand, bestens erhalten und zur kostenlosen Mitnahme, eine Kiste Christen-Rock. Meine Leserinnen wissen natürlich: Nichts wärmt die Seele des obskur orientierten Plattensammlers in grau melierten Zeiten so verlässlich wie Musik, die das Lobpreisen des Erlösers mit dem Freiheitsversprechen des Pop vermählt.

Klare Sache: Die einzig sinnvolle Parole konnte nur „Zugriff!“ lauten. „Frischauf, Pfeil!“, rief ich mir selbst zu. Meine Seele schwang hörbar mit dem Kosmos. Dumm nur, dass ich mit dem Fahrrad unterwegs war. Es war aber auch ein Kreuz mit den Dingern: Entweder man überfuhr um Dreadlockbreite litauische Rockmusikerinnen oder man stand plötzlich vor dem Schatz der Nibelungen und bekam ihn nicht auf den Gepäckträger geschnallt!


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Es half nichts, ich musste mein Rad an der nächstbesten Laterne anbinden und mir zwecks Abtransports der Kostbarkeit ein Auto besorgen. Drei Straßenecken weiter fand ich einen Carsharing-Wagen, den ich souverän durch das Einbahnstraßengewirr zurück zum Fundort steuerte. Doch bei meinem Ankommen musste ich feststellen, dass die Kiste fort war. In der Zwischenzeit musste ein anderer findiger Schallplatten-Anhäufer zugeschlagen haben. Ich fühlte mich, als hätte mich mittschiffs ein Torpedo getroffen.

Vor meinem geistigen Auge lief mein Leben als Loser-Tragödie mit Überlänge ab. Das Banner der Schande prangte auf meiner Stirn. Da stand ich also dumm in der Gegend herum und konnte einen lauter und lauter werdenden Gedanken nicht mehr verscheuchen: Wäre mir mehr Glück beschieden gewesen, wenn ich der litauischen Musikerin eine CD abgekauft hätte? Hatte mich der alttestamentarische Gott kurzerhand für meine kurz zuvor begangene Sünde bestraft? Als trockenem Katholiken war mir schnell klar: Die Antwort war allein in der Bibel zu finden. Oder in der nächsten Kiste Christen-Rock.

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