Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Mutters Asche für den Star
Social Media dokumentiert mit Handy-Videos, wie allerlei Krempel auf Bühnen geworfen wird.
Folge 268
Auf Pop-Konzerten, das ist bekannt, herrschen nicht immer beste Ballmanieren. Die Rede ist nicht von alttradierter alkoholbefeuerter Entgrenzung oder anderen zur Rock’n’Roll-Folklore zählenden Rüpelhaftigkeiten. Ich spreche vielmehr davon, dass hier – moderner Technik sei es gedankt – so hemmungslos mitgefilmt wird wie früher von Vati mit der Super-8-Kamera auf dem Schützenfest.
Das Bejammern dieses Umstands ist freilich eines der fadesten Themen, um die sich eine popmusikalisch motivierte Kolumne ranken kann. Man muss das positiv sehen: Der Vielfilmerei auf Konzerten ist es zu verdanken, dass Musikfreundinnen und -freunde weltweit erstaunt Kenntnis von zwei Trends auf dem Live-Sektor nehmen durften:
Zum einen wird bei Konzerten in letzter Zeit verstärkt Krempel auf die Bühne geworfen – und dabei nicht selten der im Zentrum der Aktivitäten stehende Künstler getroffen.
Zum Zweiten wird zuletzt auf Bühnen, so scheint es, sehr viel gestolpert und gestürzt.
Zieht langweilige Pop-Musik solche rohen Unsitten an?
Was die Werferei angeht, muss ich zugeben, dass mich das perplex zurücklässt – I just can’t relate. Ich selbst war noch nie der große Werfer und halte das Herumschmeißen von Krempel für keine zielführende Form der Kontaktaufnahme. Einige Fans internationaler Superstars sehen das offenkundig anders: So wurde etwa Lady Gaga mit Spielzeug beworfen, der Rapper Drake und die Sängerin Bebe Rexha mit Mobiltelefonen und Harry Styles mit Chicken Nuggets und Süßigkeiten. Bei einem Konzert der Sängerin Pink flog gar eine Tüte mit der Asche einer Fan-Mutter auf die Bühne.
Ihr staunender Chronist vermag sich noch keinen rechten Reim auf diese Mode zu machen: Ist sie schlicht ein weiteres Indiz für die vielfach geäußerte These, dass wir in einer zunehmend verrohten Welt leben – oder zieht eine bestimmte Form langweiliger Popmusik diese Rituale zwangsläufig nach sich?
Übrigens: Zum Zeitpunkt der Niederschrift kam es noch zu keinem dokumentierten Fall von Krempelwerfen bei einem Taylor-Swift-Konzert (dafür aber hiermit zur ersten Erwähnung der Künstlerin in dieser Kolumne).
Kommen wir zum zweiten Trend, dem anscheinend zunehmenden Stolpern und Fallen auf großen Konzertbühnen. Es mag meinen persönlichen Social-Media-Präferenzen geschuldet sein, zuletzt wurden mir jedenfalls verstärkt Videos von Stars hereingespült, die sich im Rahmen ihrer Großkonzerte auf die Mappe packten: Madonna, Nelly Furtado, Bruce Springsteen – sie alle atmeten vor großem Publikum den Staub der Demut. Und kamen dem Betrachter dadurch sonderbar nah: Wer je selbst (wenngleich natürlich weniger öffentlich) stürzte, weiß, wie unschön es sich anfühlt, wenn man aus dem Nichts von Gottes Daumen herniedergedrückt wird.
Auf einer Bühne aber wiegt eine solche Erfahrung noch schwerer: Eben noch fühlte man sich erhaben wie Michelangelo, der dem Moses den Bart modelliert, im nächsten Moment schon ist man nur noch ein trauriger Tünnes auf Augenhöhe mit dem Bühnenbelag. Wie schnell doch ein Unternehmen voll Mark und Nachdruck aus der Bahn gelenkt werden kann!
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Um es aber im Sinne der Wahrheit aufzulösen: Natürlich steckt hinter dem Werfen und Fallen kein neuer Trend – es liegt schlicht am oben angesprochenen Mitfilmwahn, dass derlei Zwischenfälle heute häufiger dokumentiert werden. Vermutlich bekamen schon die Rolling Stones irgendwelche Objekte an den Kopf geworfen, und wahrscheinlich glitt bereits Little Richard auf dem Podium aus und schlug unglücklich hin. Denken Sie auch an Tom Jones, der so erbarmungslos mit Damenunterbekleidung beworfen wurde, dass man ihn viele Jahre mehr für diesen kollateralen Effekt als für seine Lieder kannte.
Was man meines Erachtens unbedingt vermeiden sollte, ist, mit Chicken Nuggets beschmissen zu werden. Am Ende aber ist doch das ganze Leben ein Vom-Schicksalbeworfen-Werden, ein Torkeln, Taumeln und Stürzen. Im Angesicht des Falls ist der Mensch so nah bei sich wie eine Katze beim Kotzen.
Wie sangen schon The Mamas & The Papas: „One wrong step and that’s all/ You’re gonna stumble and fall.“