Eric Pfeils Pop-Tagebuch: Musiker, Fan und Forscher
Das popmusikalische Deutschland ist ein Dorf: Über die erbaulichen Gespräche in dem Podcast „Reflektor“ des Tocotronic-Bassisten Jan Müller.
Folge 220
Zu den interessanteren Aspekten des Corona-Jahres 2020 zählt, dass Menschen plötzlich Dinge taten, die ihnen vorher nie in die Tüte gekommen wären. Dinge wie wandern gehen, eine weitere Fremdsprache erlernen, Radiohead doch noch mal eine Chance geben, endlich Wim Wenders’ Spätwerk sichten, verrückte Sachen kochen, Podcasts hören.
Das mit dem Radiohead-noch-mal-eine-Chance-Geben war natürlich nur ein Scherz. Aber Podcasts – meine Herren! Ich hielt Podcasts lange für mindestens so fad wie Seriengucken. Sie schienen mir ähnlich pilzartig aus dem Boden zu schießen wie Poke-Bowl-Läden und darüber hinaus dem ohnehin schon grassierenden Trend zur Neuen Gemütlichkeit Vorschub zu leisten.
Podcast „Reflektor“ von Tocotronic-Bassist Jan Müller
Wie verblendet ich war! Zum Erbaulichsten, was ich im letzten Jahr hören durfte, zählt „Reflektor“, der Podcast des Tocotronic-Bassisten Jan Müller. Die ausgedehnten Spaziergänge durch die Grünanlagen meiner Heimatstadt mit Müllers Gesprächen im Ohr waren in einem Jahr des dröhnenden Stillstands nicht selten Tageshöhepunkte.
Jan Müller macht im Grunde das Naheliegende: Er spricht mit Musikern. Das allein konnte es nicht sein, was mich so in den Bann zog: Ich bin selbst Musiker und halte diesen Berufsstand nicht per se für interessanter als andere. Die schillernden Aspekte der Tätigkeit werden meinem Empfinden nach überbetont – im Vergleich zu den eher drögen: stundenlange Autofahrten, Gezwirbel an technischen Gerätschaften und Herumgehacke auf Mobiltelefonen in Backstageräumen.
Gleichzeitig habe ich in früheren Jahren selbst mehr Musiker interviewt, als mir lieb ist, und kann nicht behaupten, immer nur weisen Orakeln gegen-übergesessen zu haben oder häufig mit allzu großem Erkenntnisgewinn nach Hause gegangen zu sein. Entscheidend ist also nicht, was Müller tut, sondern wie er dies tut.
Der Wahlberliner ist in den von ihm geführten Gesprächen alles gleichzeitig: Musiker, Fan und Forscher. Müller ist offen und undogmatisch, sich seiner Rolle als Künstler aber in jedem Moment voll bewusst. Es könnte in die Hose gehen, wenn er seine Gäste nur aus der Musikerperspektive befragen würde und man ausschließlich kichernd dargebotenen In-Jokes aus dem Anekdotenbuch des Deutschpop lauschen müsste: „Weißt du noch damals, wie der Tourmanager von Turbonegro so besoffen war, dass er im Gepäckfach eures Bandbusses gepennt hat?“ Es gibt diese Seite in den Gesprächen durchaus, zum Glück, aber sie ist eben nur eine Facette.
Weitere Folgen von Eric Pfeils Pop-Tagebuch:
- Huren, Heuchler, Heilige
- Krautrock-Stammtische, Pfauenfederohrringe und Drag-Köche – wiedergehörter Indie-Krempel aus den 80ern
- Ist doch nur Krach
- Keine Träne ist umsonst
- Oldenburg, Großenkneten, Seattle
Musiker sprechen gerne mit Musikern
Der Umstand, dass es ein Musiker ist, der hier fragt – ein angenehm uneitler zudem! –, hat viel eher den Effekt, dass sich die Gäste mehr zu öffnen scheinen als gegenüber Journalisten, ihr Treiben mehr infrage stellen und in der Spiegelung manchmal sich selbst erkennen. Einige von Müllers Gästen zählen zu meinen hiesigen Lieblingsmusikern, andere sind alte Bekannte, wieder andere hatten mich zuvor nicht die Bohne interessiert.
Mit dem Wanda-Sänger Marco Michael spricht Müller über Größenwahn im hiesigen Pop-Betrieb, mit Thees Uhlmann geht es unter anderem um die Künstlersozialkasse, Goethe-Institut-Tourneen durch Sibirien und den feigen Umgang der Medien mit deutschem Menschenverächter-Rap. Carsten Friedrichs von Superpunk diskutiert mit dem Tocotronic-Bassisten über Auftritte im Sauerland, Lieder über Jeans und Bier und den Respekt vor Mods.
Meine Lieblingsfolge ist die mit Tilman Rossmy, dem großartigen Texter und Sänger von Die Regierung, der so schön schnodderig vom Auf und Ab seiner sondersamen Nichtkarriere erzählt, dass man hofft, das Gespräch möge nie zu Ende gehen. Was auch wieder klar wird: Das popmusikalische Deutschland ist ein Dorf. Jeder kennt jeden. Man läuft sich über kurz oder lang über den Weg, ob man will oder nicht. Und die Grenzlinien sind mitunter längst nicht so hart gezogen wie häufig angenommen.
Am Ende geht es bei „Reflektor“ immer wieder um die handfesten Bedingungen hiesigen Musikmachens – kein unwichtiges Thema im Jahr 2020. Es geht darum, wie aus dem juvenilen Wunsch, bierbetankt auf Bühnen herumzuspringen, eine kommerzielle und/oder künstlerische Erfolgsgeschichte werden kann. Oder eben auch nicht.