Erdmöbel-Special: Hätte Sehnsucht Gewicht
Eine Reise ins Werk der virtuosesten deutschen Pop-Band
„Nie ist nur irgendwann/ Gestern war mal morgen/ Niemand ist einfach nur irgendwer“, begrüßen uns die Erdmöbel ein wenig rätselhaft auf ihrem neuen Album „Guten Morgen, Ragazzi“. „Nichts ist nur irgendwas/ Mach dir keine Sorgen/ Kaffee oder Tee?/ Guten Morgen.“ Für ihre herzwarmen Melodien, ihre verspielten Arrangements und ihre vertrackten Texte, die sich emotional blitzschnell, intellektuell oft sehr viel später erschließen, wird die Kölner Band um den Songwriter Markus Berges und den Produzenten/Arrangeur Ekki Maas von Fans und Feuilleton seit vielen Jahren geliebt. Auch in der Redaktion des ROLLING STONE ist die Freude jedes Mal groß, wenn ein neues Erdmöbel-Werk eintrifft. „Guten Morgen, Ragazzi“ ist besonders schön geworden. Ein idealer Anlass, um zusammen mit Berges und Maas auf das beeindruckende Oeuvre dieser Band zurückzublicken, die Mitte der Neunziger als Songwriter-Projekt begann und sich zu einer eigensinnigen Popband entwickelte, zu der mit dem Schlagzeuger Christian Wübben und dem Keyboarder Wolfgang Proppe noch zwei virtuose Instrumentalisten gehören.
„Das Ende der Diät“ (1996)
Die erste Melodie auf einem Erdmöbel-Album wird von einer Posaune gespielt. Nicht unbedingt üblich in der Zeit, als der Grunge allmählich abklang und der BritPop Fahrt aufnahm. Aber „Das Ende der Diät“ ist keinesfalls aus der Zeit gefallen, es gibt tatsächlich so eine Post-Grunge-Katerstimmung in Stücken wie „Das Leben ist trivial“, „Ich Ich Ich“ oder „Mein Herz bleibt dumm“, und auch die Liebe zu klassischem britischen 60s-Pop ist auf diesem Album nicht zu überhören. Das grandiose „Zu deutsch für Rock’n’Roll“ klingt zudem wie ein Gastvortrag in der Hamburger Schule.
Ekki Maas: Die Platte haben wir 1994 aufgenommen und hatten nichts. Keinen Plattenvertrag, keinen, der sowas mit solchen deutschen Texten schon mal gemacht hatte. Nur mein Tonstudio, das gab es schon. Ein 20 qm großer Raum ohne Fenster, dem man jeden Tag 4 Liter Wasser aus der Luft extrahieren musste. Aber wir waren schon fast in Originalbesetzung. Wenn man mal von dem Bassisten absieht, denn ich habe noch Gitarre gespielt. Wolfgang war damals unser Techniker, der manchmal als Keyboarder aushalf. Ich mag die Platte, obwohl wir auch live damals ne laute Gitarrenrockband waren.
Markus Berges: „Wir hatten ja nichts damals“ ist als Erinnerung natürlich auch lustig. Aber es stimmt, dass diesen eigenen Erdmöbel-Ansatz, an dem wir damals rumgedoktert haben, eigentlich niemand wollte außer uns. Wenn ich das Album heute höre, ist mir einiges ein bisschen peinlich, anderes bewundere ich auch. „lang schon tot“ zum Beispiel ist toll gespielt. Und, natürlich, diesen einen Hit spielen wir heute noch auf fast jedem Konzert: „dreierbahn“.
„Erste Worte nach Bad mit Delfinen“ (1999)
Neil Young, Elvis Costello, Van Morrison – Erdmöbel go Classic Rock. Naja, fast. Es gibt mächtige Gitarren, einen muskulösen Bass und einmal sogar eine Mundharmonika. Aber irgendwie haben sie ihre Einflüsse dann doch nochmal auf links gedreht, und Eigensinn und Originalität überwiegen auf „Letzte Worte nach Bad mit Delfinen“. Unseres Wissens hat auch niemand der oben genannten Künstler jemals die Wörter „Tatauierung“, „Melusinenschwarm“ oder „Thrombosestrumpfhose“ in einem Song verwendet. „Wette unter Models“ weist schon auf die Pop-Melancholie der nächsten Alben, und der Refrain ist wohl immer noch die Essenz des Erdmöbel-Werks: „Hätte Sehnsucht Gewicht, wieviel Zentner wöge ich?“)
Ekki: Die erste Version dieses Albums haben wir weggeschmissen, denn die klang wie Neil Young in seiner altfürzigsten Zeit. Neu war danach, dass alles digital durch den Wolf gedreht wurde, so gut das damals schon ging. Die Musik wurde in Stückchen geschnitten und aufwändig neu zusammengepuzzlet. Ich weiß noch, wie wir zusammen „wette unter models“ zum ersten mal vollständig hörten und alle mit Gänsehaut und zu Tränen gerührt vor den Boxen erstarrten. So neu erschien uns das Erreichte. Live haben wir ab da immer so leise gespielt wie das eben ging.
Markus: Und das Publikum immer mit ziemlich aggressiver Geduld gezwungen, auf dem Boden Platz zu nehmen.
„Altes Gasthaus Love“ (2003)
Der Beginn der Erdmöbel, wie wir sie heute kennen. Weg von der Gitarren- zur Popband mit Bläsern, Synthesizern, Studiospielereien und einem prominenten und sehr verspielten Bass. „In den Schuhen von Prefab Sprout“ hieß damals die Überschrift zu einem Erdmöbelporträt in ROLLING STONE. Mit „In den Schuhen von Audrey Hepburn“, „Die Devise der Sterne“ und „Dawei Dawei“ ist „Altes Gasthaus Love“ reich an ewigen Lieblingsliedern.
Markus: Ich glaube, erst mit diesem Album haben wir uns künstlerisch gefunden.
Ekki: Eine intime Platte. Im Nachhinein Markus‘ „Blue“ (Joni Mitchell). Nach unserer elektronischen Phase (erdmöbel versus ekimas) nähern wir uns wieder dem Klang richtiger Instrumente an. Ich spiele Gitarre und Beatlebass, Wolfgang die Keyboards als richtiges Bandmitglied. Viele Klassiker befinden sich auf dem Album.
„Für die nicht wissen wie“ (2005)
Eine Art Übergangsplatte. Wohin geht man nach einem perfekten Pop-Album wie „Altes Gasthaus Love“? Erdmöbel covern/übersetzen ziemlich unnachahmlich den von Burt Bacharach und Hal David geschriebenen Carpenters-Hit „Close To You“ („Nah bei dir“) und Henri Mancinis meisterhaftes „Nothing To Lose“ („Nichts zu verlieren“), Markus Berges geht auf die Suche nach „gefundenen“ Songtexten, rezitiert Anton Tschechow und Gottfried Keller, schreibt ein „Lied über gar nichts“ und mit „Was ich an deinem Nachthemd schätze“ seinen schönsten Songtext. Der ziemlich faszinierende dunkle Stern in der Erdmöbel-Diskographie.
Ekki: Meine Lieblingsplatte, auch weil sie ein bisschen untergeht in unserem Oeuvre. Ein Album „über garnichts“. Tolle Songs, extreme Produktion, ein wunderbares Coverfoto. Man hört eine glückliche Band, die findet, dass man nicht notwendigerweise Wichtiges sagen muss, wenn man gute Musik macht. Ah, und „nah bei dir“ ist auf dem Album, unsere erste Coverversion und Hommage an die Easy-Listening-Musik der 60er.
Markus: Und unsere zweite Coverversion: „nichts zu verlieren“. Ich mag den sehr pathetischen Text. Großartig auch die Szene, in der das Henry-Mancini-Original im Film „The Party“ von Peter Sellers performt wird.
„No. 1 Hits“ (2007)
Nachdem das mit dem Covern auf „Für die nicht wissen wie“ so gut geklappt hatte, erhoben die Erdmöbel es zum Konzept. Aber sie spielen nicht einfach Lieblingslieder nach, sondern interpretieren ausschließlich Songs, die mal auf Platz 1 der Charts waren. Erdmöbel spielen Vengaboys, Nirvana, Kylie Minogue, Procul Harum, Bee Gees. Und Berges gibt ihren Songs durch seine Textübersetzungen nochmal eine neue Dimension. Am schönsten geraten die Stücke, die der eigensinnigen Erdmöbel-Melancholie am nächsten sind: die Bearbeitung von Joan Osbornes „One Of Us“ (aus der Feder von Hooters-Sänger Eric Bazilian) und die Gilbert O’Sullivan-Schnulze „Alone Again (Naturally)“ .
Ekki: Begann als Quatschprojekt und wir wussten schon früh, dass wir einen größeren Plattenvertrag für das Album hatten. Regel: wir covern Songs, die Welthits gewesen waren, nicht weil wir sie gut finden, sondern weil sie so unfassbar große Hits gewesen waren. Dass unsere Bearbeitungen uns hinterher so sehr gefallen würden, war gar nicht unsere Absicht. Wir hatte außerdem nicht mit so komplexen Songs gerechnet, weder musikalisch noch textlich.
Markus: Interessant war, dass wir uns hinterher oft anhören mussten, wir hätten ja wohl gezeigt, mit welch jämmerlichen Texten man Welthits landen könne. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall, denn für uns hatten die Originale in jedem einzelnen Fall auch textlich mindestens einen genialen Dreh und oft viel mehr als das. Zum Beispiel das minimalistische „Up And Down“ von den Vengaboys.
„Krokus“ (2010)
Das absolute Meisterstück. Die konsequente und auch durchaus radikale Weiterführung des Popansatzes, den die Erdmöbel auf „Altes Gasthaus Love“ entwickelt hatten. Markus Berges hat mittlerweile eine eigene assoziative und rhythmisch groovende Sprache entwickelt, die Musik gibt sich ähnlich vertrackt wie die Songzeilen, ohne aber jemals den Kontakt zu Emotion und Melodie zu verlieren. Aussichtsreicher Anwärter auf den Titel des besten deutschsprachigen Pop-Albums.
Ekki: Wir waren irgendwie frustriert vom Unverständnis der Welt. Hatten wir doch immer versucht es den Menschen leicht zu machen indem wir auf sie zugehen. Wir haben wirklich versucht, die Musik so zu verpacken, dass keiner mehr fragt: „Hä? Was singen die da?“ Wir waren gescheitert. Dann also keine Rücksicht mehr. Die ersten Worte des Albums: „rosen ochsen holz turmalin krepp“. Noch Fragen? Unsere erfolgreichste Platte!
Markus: Nee. Keine Fragen.
„Kung Fu Fighting“ (2013)
Die Situation war wohl eine ähnliche wie nach „Altes Gasthof Love“ – wohin nach dem perfekten Album? Doch während die Antwort damals war: zum Fragment! War sie dieses Mal: zu noch mehr Perfektion! Es wirkt, als hätten die Erdmöbel auf „Krokus“ noch einen draufsetzen, vertrackter und verrätselter werden wollen. Auch auf die Gefahr hin, uns und sich selbst dabei manchmal zu verlieren. Wenn dieser Ansatz funktioniert, wie auf „Blinker“, „Gefäße“ und „Vivian Maier“, ist das aber ziemlich grandios.
Ekki: „Club der senkrecht Begrabenen“ und „Blinker“ sind da drauf. Ansonsten ne Dosis funky 60s-Jazz und Steely Dan. Der Höhepunkt der Querflöten-Phase. Ein ungünstiger Abstand zur Entstehung dieses Albums verhindert eine vernünftige Haltung meinerseits dazu. Doch doch, ganz gut das Ding. Das schöne Lied mit dem Küssen-Video ist auch drauf!
Markus: Mich quält daran nichts, denn, wenn ich mal songmäßig was nicht so toll finde, dann freut mich die Produktion und „die Gefäße weiten sich“ (so heißt ein Song auf dem Album).
„Geschenk“ (2014)
Man muss keine Karnevalsband werden, wenn man in Köln wohnt. Man kann auch eine Weihnachtsband werden. Alles begann wohl mit einer äußerst famosen Cover-Version des die Playlisten der Radiosender in der Adventszeit verstopfenden Wham!-Klassikers „Last Christmas“. Von da an veröffentlichten die Erdmöbel jedes Jahr ein Weihnachtslied. Einige davon, etwa „Goldener Stern“ und „Lametta“ (ein Duett mit der Schauspielerin Maren Eggert), gehören zu ihren besten Songs überhaupt. Irgendwann hatten sie genügend Lieder für ein Album, „Geschenk“, beisammen, und mittlerweile gehen sie alljährlich, wenn George Michael wieder im Radio singt, damit auf Tour. Diese Konzerte sind unkitschige, warmherzige Abende mit Freunden, die dem idealen Weihnachtsfest näher kommen als die realexistierende Familienfeier. Wenn man mal Weihnachten nicht aus Wut, Verzweiflung und Enttäuschung weinen möchte, sondern aus Rührung und Glück, sollte man zu einem dieser Weihnachtskonzerte gehen.
Ekki: Das mit dem Weihnachtslied jedes Jahr war auch so ein Quatschprojekt von uns, das später zu einer ernsthaften Leidenschaft von uns wurde. Hier versammeln sich all unsere Jahresendlieder. Das Werk wird jeden November um ein Lied erweitert. Unsere Weihnachts-Tour ist auch für uns selbst ein Höhepunkt des Konzertjahres.
Markus: Natürlich wird das mit dem Jedes-Jahr-Ein-Weihnachtslied nicht leichter, aber die letzten drei waren doch ziemlich gut, finde ich. Zudem werden dafür unsere Weihnachtsshows immer leichter, weil das Publikum dabei allmählich fast mehr Show macht als wir selbst. Das macht süchtig.
Hinweise zum Gebrauch (2018)
Ein naher Verwandter von „Für die nicht wissen wie“ – eine Band auf der Suche: gefundene Texte (ein Schauspiel-Tutorial in „Tutorial“, eine Agenturmeldung in „Barack Obama“), ein gemeinsam mit Judith Holofernes geschriebener Protestsong („Hoffnungsmaschine“), Rückkehr zu einer weniger komplexen Songwriter/Storyteller-Sprache („Rasenmäher“ und „Sven & Raul“) und mit „Ich bleibe jung“ und „Hinweise zum Gebrauch“ zwei Songs für die Ewigkeit.
Ekki: Die Politik hat uns mit den Jahren immer mehr herausgefordert. Das hatte mit Krokus begonnen, dass wir unsere Wut auch ganz konkret in Musik gepackt haben. Bei „Hinweise zum Gebrauch“ erschien uns dann eigentlich jedes Lied so politisch, dass wir sogar ein politisch künstlerisches Cover gestaltet haben. Ein für unsere Verhältnisse ungewöhnlich konkretes Politstück war auch drauf. „Die Hoffnungsmaschine“ hat dann ich rechten Kreisen viel Feindseligkeit ausgelöst. Message angekommen. Fascho-Reaktionen weitestgehend von uns aus dem www gelöscht.
Markus: Es sind aber auch einige schöne eher introvertierte Sachen auf dem Album, zudem einige Song-Ready-Mades mit geklauten Texten, die ich so (auch bei uns selbst) noch nicht gehört habe. Tutorial ist so ein Stück. Das Video zu „Tutorial“ schaue ich mir sogar ab und zu selbst an, zum eigenen Vergnügen.
„Guten Morgen, Ragazzi“ (2022)
Es klingt, als sei da (mal wieder) ein kreativer Knoten geplatzt: „Guten Morgen, Ragazzi“ ist wie „Altes Gasthaus Love“ und „Krokus“ ein Album, auf dem Erdmöbel ihre eigenwillige Vision von Pop noch einmal weitertreiben und plötzlich an einem Ort sind, wo sie noch nie waren. Schon der verspulte Eröffnungssong „Guten Morgen“, in dem eine spröde Gitarre sich wie eine Fräse ins Ohr bohrt, ist ziemlich überraschend. Aber den Erdmöbeln können wir unsere aufgebohrten Ohren anvertrauen, sie gehen pfleglich damit um, schütten herrliche Songs über Physik und Liebe, Endlich- und Unendlichkeit hinein, und am Ende singen wir alle nur noch mit tränenüberströmten Gesicht: „Eine rosa Plastiktüte weht durch dein Zimmer, und sie flüstert, flüstert, flüstert, flüstert, flüstert/ Und du verstehst jedes Wort.“
Ekki: Das neue Album ist immer das beste. Aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir tatsächlich immer besser und komplexer werden. Markus‘ Songwriting ist mittlerweile so sophisticated, dass man getrost drauf warten kann, dass es einen beim Hören plötzlich völlig unerwartet irgendwo anfasst, wo man lange nichts gefühlt hat. Musikalisch ziehen wir mit Leichtigkeit Dinge aus dem Hut, die in dieser Kombination Neues sagen. Wir üben grade die neuen Songs ein. Klappt gut und wir freuen uns auf die Tour.
Markus: Wow. Danke, Ekki. Natürlich hast du Du wie immer Recht. Und tatsächlich macht das Proben dieses Albums gerade Freude wie lange nicht.