Hausbesuch bei Ennio Morricone: „Immer diese romantische Vorstellung vom Komponisten, der am Klavier klimpert!“
Genial, selbstbewusst, mürrisch: So empfing der Filmkomponist den ROLLING STONE - und räumte gleich mal mit allen Klischees auf. Erinnerung an Ennio Morricone.
Der Maestro ist genervt. Soeben hat ein TV-Journalist die Torheit besessen, den weltgrößten Filmmusikkomponisten nach der Musik zu „Spiel mir das Lied vom Tod“ zu fragen. Überhaupt ist Sergio Leone, der Erfinder des Italo-Western, ein enormes Reizthema, bei dem der 85-jährige Morricone entweder wortkarg oder – noch lustiger – ganz patzig wird. Schließlich habe er, wie Morricone immer wieder betont, um die fünf hundert Filmmusiken geschrieben, von seinem nicht-filmischen Werk mal ganz abgesehen. Aber immer wieder wollen alle über die Leone-Filme sprechen, „vor allem in Deutschland“, wie er pikiert hinzufügt. Kein Wunder also, dass der Künstler vor seinem Konzert in Berlin auf der Leinwand zunächst einen zehnminütigen Film zeigen lässt, der ihn vor allem als Komponist ernster Musik – oder wie er es nennt: musica absoluta – präsentiert. Danach dirigiert er freilich eine Auswahl seiner größten Filmscores, darunter ganz viel Leone.
Weitere Fragen, mittels derer man sich eine entnervte Reaktion Morricones einhandeln kann: „Haben Sie eine Lieblingsfilmmusik?“ Antwort: „Nein.“ Waren Sie mal mit einem Film unzufrieden?“ Antwort: „Nein, dann hätte ich gar nicht erst zugesagt.“ „Wie komponieren Sie?“ Antwort: „Zu Hause.“ „Am Klavier?“ Augenrollen. „Nein, am Schreibtisch. Immer diese romantische Vorstellung vom Komponisten, der am Klavier klimpert und ab und zu ein paar Noten aufschreibt. Nur Dilettanten komponieren so.“ Es ist ebenso unterhaltsam wie schmerzvoll, zuzuhören, wie Morricone unterinformierte Interviewpartner abkanzelt. Natürlich signiert er dennoch am Schluss bereitwillig einen Leone-Soundtrack.
Es ist ein schwieriges Verhältnis, das Morricone zu seinem Schulfreund, dem 1989 verstorbenen Italo-Western-Gott Sergio Leone, pflegt. Morricone weiß, dass er Leone alles zu verdanken hat. Und er betont, dass bei dem Kino-Erneuerer etwas möglich war, das ihm nur wenige andere ermöglichen konnten, nämlich die Musik – wie in „C’era una volta il West“ („Spiel mir das Lied vom Tod“) – zum Hauptcharakter des Films zu machen. Nicht umsonst sagte Leone von Morricone gerne, er sei wohl mehr ein Drehbuchautor als ein Komponist, was nicht zuletzt seinen Ausdruck darin fand, dass der Regisseur den Maestro bat, den Großteil des Scores stets vor dem Dreh fertigzustellen, um ihn zum Zwecke der Atmosphäre-Steigerung am Set einzuspielen und die Schauspieler auf die Musik reagieren zu lassen. Morricone wird daher, wenn er einmal in der richtigen Laune ist, nicht müde zu betonen, dass Leone verstanden habe, dass man einer guten Filmmusik viel Zeit geben muss.
Dennoch spricht er lieber über andere seiner tollkühnen Arbeiten, beispielsweise über das Titelstück zu Pier Paolo Pasolinis sozialkritischem Schelmenstück „Uccellacci e uccellini“ („Große Vögel, kleine Vögel“), bei dem – wohl einmalig in der Filmgeschichte – die Credits des Vorspanns gesungen wurden: „Dabei war das noch nicht einmal meine Idee“, gibt Morricone zu, „Pasolini selbst hatte diesen Einfall. Ich habe mir dann eine bewusst etwas alberne Musik ausgedacht, fast ein Kinderlied, zu der Domenico Modugno dann all diese Filmberufe singt. Unvergleichlich!“ Nein, falsche Bescheidenheit liegt Morricone fern: Den Oscar für sein Lebenswerk, den er 2007 auf Drängen Robert De Niros erhielt, bezeichnet er als „überfällig“; von anderen Filmmusikern grenzt er sich gerne ab. Vollkommen zu Recht: Morricones musikalische Leistung ist einzigartig, sein Einfluss auf die Popmusik immens. Als er in den Sechzigern für die Italo-Western-Soundtracks Kojotengeheul, unheimliches Pfeifen und Ambossschläge zum Einsatz brachte, revolutionierte er nicht nur die Filmmusik, er erfand zugleich das moderne Arrangement und beeinflusst bis heute so unterschiedliche Musiker wie Calexico, Depeche Mode oder Danger Mouse. Für Morrissey schrieb er ein Streicherarrangement, die Pet Shop Boys durften gar mit ihm einen Song komponieren. Wenn heutigen Filmkomponisten gar nichts mehr einfällt, sampeln sie eben Morricone (wie Hans Zimmer für „Pirates of the Caribbean – Am Ende der Welt“). Auch die letzten Tarantino-Filme profitierten arg von der Wiederverwertung alter Morricone-Stücke – für „Django Unchained“ bekam der italophile Regisseur gar ein brandneues Stück vom Maestro komponiert.
Morricone, der am 28. Februar 1928 im römischen Stadtteil Trastevere zur Welt kam, schrieb laut eigener Aussage seine ersten Kompositionen im Alter von sechs Jahren. Mit 14 begann er am Konservatorium von Santa Cecilia in Rom Trompete und Chormusik zu studieren. Um seine Familie zu unterstützen, spielte er nachts Trompete in den Nachtclubs der ewigen Stadt. 1956 tritt Morricone eine Stelle als Komponist und Arrangeur für Unterhaltungsmusik bei der italienischen RCA an. Schon in diesen Popstücken ist sein kompositorisches Genie deutlich zu erkennen. Ein Paradebeispiel ist „Se Telefonando“, das er für die italienische Ikone Mina schrieb. Die Struktur dieses grandiosen Prachtexemplars der musica leggera, der italienischen Ausprägung der Popmusik, ist beispiellos: Nur eine Strophe und dann ausschließlich Refrains, die sich in acht Tonartwechseln immer weiter nach oben schrauben. Morricone, für jedes Lob unempfänglich, erklärt die Sache ganz sachlich: „Na ja, ich wollte ein Stück schreiben, das sich auf drei Töne beschränkt, etwas ganz Minimales. Gleichzeitig brauchte ich aber auch Abwechslung, also habe ich mich, was das angeht, eben in den Tonarten ausgetobt.“
Als hätte Morricone den Italo-Western noch vor dem Regisseur erfunden
Es war auch eine dieser Musica-leggera-Arbeiten, welche die Basis für seine Zusammenarbeit mit Leone legte und damit Morricones Karriere als Filmkomponist lostrat: Im Arrangement des Woody-Guthrie-Songs „Pastures Of Plenty“, den Morricone für den Sänger Peter Tevis mit Glockengeläut und Peitschenhieben arrangiert hatte, fand Leone die Ironie, den Donner und das Drama, nach dem er so lange gesucht hatte: den Sound, der für den Italo-Western ebenso wichtig wurde wie Detailaufnahmen von Augen, Todesballette, Gewalt und Obrigkeitskritik. Hört man das Stück heute, kommt es einem fast vor, als hätte der Komponist den Italo-Western noch vor dem Regisseur erfunden.
Trotz aller Hollywood-Erfolge – die Essenz von Morricones Werk findet sich in seinen Arbeiten für italienische Filme: in Bertoluccis „Novecento“ (dessen Thema zur Hymne der spanischen Sozialisten wurde), in Giuliano Montaldos „Sacco e Vanzetti“ (dessen von Joan Baez gesungener Protestsong „Here’s To You“ in Wes Andersons „The Life Aquatic with Steve Zissou“ wiederverwendet wurde) oder in „Vamos a matar, compañeros“ („Zwei Companeros“), einem derben Revolutionswestern des „Django“-Regisseurs Sergio Corbucci, für das Morricone eine Titelmusik schrieb, zu der man am liebsten sofort zu den Waffen greifen würde: „Für dieses Stück habe ich mich an einem gregorianischen Chor orientiert. Das merken die meisten Leute natürlich nicht. Aber für mich ist das eine Möglichkeit, mich selbst ein bisschen zu unterhalten.“
Ein Thema, über das Morricone sehr gerne spricht, ist seine Arbeit mit der Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza, dem weltweit ersten Improvisationsensemble im Bereich der Neuen Musik, deren Album „The Feed-Back“ zahlreichen Hip-Hop-Künstlern als Sample-Material diente. Es ist typisch für Morricone, dass er die sperrige Musik des Kollektivs einige Male auch für Filmsoundtracks nutzte, so etwa im Fall von Elio Petris „Un tranquillo posto di campagna“ („Das verfluchte Haus“): „Die Hälfte des Soundtracks habe ich komponiert, die andere Hälfte wurde mit der Gruppo vor der Leinwand improvisiert. Petri, der Regisseur, war dabei sehr engagiert, er schrie unentwegt Sachen wie: ,Mehr von diesem, mehr von dem dort!'“ Ein anderer Regisseur, mit dem Morricone häufig arbeitete, ist der italienische Horror-Papst Dario Argento, bei Fans geliebt für seine surrealen Angst-Opern voll fetischisierter Gewalt: „Bei Dario war das so eine Sache“, erzählt Morricone lachend. „Ich hatte für ihn erstmals in meiner Lauf bahn eine organisierte Improvisation geschrieben. Als ich ihm die Musik vorlegte, sagte er nur, dass sich alle Dissonanzen, die ich für die verschiedenen Spannungsszenen geschrieben hatte, völlig gleich anhörten. Ich wurde sogar zu seinem Vater Salvatore, damals ein großer italienischer Produzent, bestellt. Ich sagte ihnen, dass man sich die Dissonanzen mal hintereinander anhören solle, dann wäre leicht zu bemerken, dass sie sehr unterschiedlich seien. Aber wenn man keine Ahnung hat … Na ja, ich habe dann einige Jahre nicht mehr mit Dario zusammengearbeitet, aber wir haben wieder zueinander gefunden.“ Generell, so der Maestro, sei es hilfreich, wenn ein Regisseur Ahnung von Musik habe. Darum arbeite er so gerne mit Giuseppe Tornatore („Cinema Paradiso“) zusammen, der ein sehr gutes Ohr habe.
Am Abend beim Konzert gibt es natürlich die Scores der Tornatore-Filme zu hören, selbstverständlich auch „Mission“ oder „Die Unbestechlichen“, „Der Clan der Sizilianer“ oder das flirrende „Chi Mai“, berühmt durch die Belmondo-Granate „Der Profi“. Vor allem aber gibt es Leone, immer wieder Leone. Die Argento- und Corbucci-Filme bleiben leider unrepräsentiert, dafür kommen Freunde des Lounge-Morricone mit dem süffigen „Metti una sera a cena“ auf ihre Kosten. Was in dieser Zusammenstellung mal wieder offensichtlich wird: Morricone gelingt es wie keinem zweiten Filmkomponisten, schwerblütige Romantik und sperrige Avantgarde zu verbinden -oft im selben Score, nicht selten im selben Thema. In seinen leichten Stücken ist stets der Fan von Bach und Anton Webern zu hören, während der gewiefte Melodiker auch in kantigen Stücken wie dem Thema zu Elio Petris Oscar-preisgekröntem „Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger“ durchscheint. Hier beantwortet sich auch eine der Fragen, die man Morricone einfach nicht stellen kann: Ob er denn nie unterschieden habe zwischen großer Kunst wie etwa den Filmen Pasolinis, grellem Volkskino, leichten Komödien und bluttriefendem Horror. Natürlich nicht! Der einzige Unterschied, den er macht, ist der zwischen angewandter Musik, die einem Zweck dient, und der heißgeliebten musica absoluta.
Und auch die Frage, ob er je aufhören wird, Sergio Leone zu dirigieren, erübrigt sich. Die Westernscores werden auch im Herbst, wenn Morricone erneut Konzerte in Deutschland dirigieren wird, im Programm sein. Natürlich immer Leone und immer „Spiel mir das Lied vom Tod“. Nur den Teil mit der Mundharmonika lässt er heute gerne weg.
Aus dem ROLLING-STONE-Archiv 2014