Engel des Nordens
MANCHE SAGEN, DASS Luke Haines den Britpop erfunden hat (er hat es angeblich sogar selbst behauptet). Das ist natürlich übertrieben, doch mit seiner Band The Auteurs half der Sänger und Multiinstrumentalist Anfang der Neunziger, den Fokus wieder auf ein Songwriting zu richten, bei dem es um klassisches Handwerk und konzise Melodien ging. Ein Britpopper ist Luke Haines deshalb nicht, eher ein englischer Eulenspiegel, der die Popmusik seiner Heimat aus sehr eigenwilligen Perspektiven betrachtet.
Nach den Bands Black Box Recorder und Baader Meinhof nimmt Haines seit einigen Jahren eklektische Soloalben auf, bei denen es weniger um die Karriere und ein stimmiges Oeuvre geht als um die große Neugier des Künstlers. Das neue Werk heißt „Rock And Roll Animals“ und ist eine Art Fabel, in der ein Dachs namens Nick Lowe, ein Fuchs namens Jimmy Pursey und eine Katze namens Gene Vincent den Rock’n’Roll (bei Haines ein Symbol für die Freiheit) verteidigen müssen. „Ich glaube an die drei großen Rs – Rock and Roll and Righteousness“, sagt Haines, „insbesondere Lowe und Pursey stehen für diese drei Rs. Lowe, weil er der Übervater der New Wave ist, und Pursey (Sänger der Punkband Sham 69 – Anm. d. Red.), weil er seine Rolle als Sänger so ernst genommen hat, obwohl die Öffentlichkeit ihn eher als Witzfigur gesehen hat. Ich wollte ein Album machen, das eine ganz einfache Geschichte erzählt -so eine Mischung aus Kinderbuch und Setz-den-Kopfhörer-auf-und-nimm-Drogen-Platte für Erwachsene.“ Dafür verwandelt Haines die genannten Musikerpersönlichkeiten in Tiere und lässt sie in seiner Heimatstadt -das kleine Walton-on-Thames, in dem auch Lowe und Pursey aufwuchsen -gegen die Inkarnation des Bösen antreten: den Engel des Nordens, in Wirklichkeit eine riesige Rostskulptur in der Nähe von Gateshead. Das monströse Ding ist ein Denkmal für die industrielle Geschichte Englands und laut Haines das Gegenteil von righteous, weil es von Funktionären gemachte Kunst sei.
Trotz solcher Symboliken will Haines seine Platte nicht als politischen Kommentar verstanden wissen. „Sie ist alles andere als das. Es ist im Moment ja sehr schwierig, nicht zu kommentieren -in den sozialen Netzen hat jeder zu allem eine Meinung, alles ist ein Kommentar zu einem Kommentar und so weiter. Mein Album hat keinen Standpunkt; es geht darauf gewissermaßen um nichts. Ich wollte ein Kunstwerk schaffen, das die Fantasie ein bisschen weitet und dem Zeitalter des neuen Rationalismus, in dem wir leben, etwas entgegensetzt. Wenn die Platte unbedingt etwas sein muss, dann das: ein Hoch auf die Vorstellungskraft.“
Die Musik dazu klingt wegen der höfischen Melodien, der Blockflöte und der eingeschobenen Lesungen der Schauspielerin Julia Davis tatsächlich ein bisschen nach Kindermusik, aber nur zur Hälfte. Denn genauso hören wir natürlich Haines‘ spleenigen Pop, der hier zudem auf die britische Psychedelik der 70er-Jahre anspielt. „Im Gegensatz zur eher extrovertierten amerikanischen Psychedelik, war die englische Version des Genres introvertiert -ein bisschen viktorianisch vielleicht. Daran habe ich gedacht, als ich dieses Album schrieb, und natürlich an meine Kindheit -wir können ja nur über die Vergangenheit schreiben, denn etwas anderes kennen wir ja nicht. Die Zukunft? Wer weiß, ob ich da bin, wenn sie kommt.“
Dass Haines die Kunst sehr wichtig ist, sieht man auch in einer Dokumentation über seine Karriere, die der irische Filmemacher Niall McCann im vorigen Jahr präsentierte. „Art Will Save The World“ entstand über einen Zeitraum von fünf Jahren und lässt neben dem Künstler Freunde und Kollegen zu Wort kommen, darunter der Schriftsteller John Niven sowie Jarvis Cocker, mit dem Haines Ende der Achtziger auf demselben Label war. „Wenn du lange genug durchhältst, macht irgendjemand irgendwann eine Doku über dich“, relativiert Haines. „Ich kann mir durchaus Besseres vorstellen, als einen Film über mich zu sehen, aber McCann ist ein toller Regisseur -mir gefallen vor allem die etwas surrealen Szenen, die keinen richtigen Zweck haben. Davon haben es ein paar in den Film geschafft.“ Hauptsache: Kunst.