Mit den Gespenstern deutscher Vergangenheit feiern JOACHIM WITT und RAMMSTEIN Erfolge
Endzeit, Wagner & Riefenstahl: Mit den Gespenstern deutscher Vergangenheit feiern JOACHIM WITT und RAMMSTEIN Erfolge - auch die Amerikaner applaudieren schon
Der Herbergsvater sitzt im Hinterhof des Reeperbahn-Clubs „Grünspan“ inmitten von Unkraut an einer Abrißmauer. Ein Fernsehteam des SAT.l-Revolvermagazins „blitz“ befragt ihn zwischen Mückenattacken zu seinem Erfolg mit dem Stück „Die Flut“, für das ihm in der Nacht Platin verliehen wird – pittoresk in der Michaelis-Kirche seiner Heimatstadt Hamburg.
Es ist das erste Platin für Witt, dessen „Goldener Reiter“ es 1981 nicht ganz geschafft hat. Seither krebste der ehemalige Schauspieler mal so, mal so mit Alben wie „Märchenblau“, „Moonlight Nights“ oder „Mit Rucksack und Harpune“ durch das deutsche Musikschaffen, alles notorisch unverkäuflich und deprimierend. Mit der Morgendämmerung von Rammstein kam ihm ein Gedanke, der erst im Song „Das geht tief“, dann in „Die Flut“ und zuletzt dem Album „Bayreuth Eins“ gipfelte. Doch die Plattenindustrie wollte seinen apokalyptischen Schwurbel erst mal nicht haben.
Anders das Hamburger Gruft-Label Strange Ways: Mit dessen Protagonisten Peter Heppner, Vorsteher der Schwarzvögel Wolfsheim, produzierte er „Die Flut“. Das anheimelnde Katastrophen-Szenario, ein genialisches Konstrukt aus schwarzer Romantik, Endzeit-Kitsch und Jenseits-Hoffhung, eroberte erst manche Diskothek und den Goth-Markt, ehe ein Gewaltiger des Sony-Labels Epic den Brecher ins Programm nahm – und eine beispiellose Reklamekampagne fiirs „Bayreuth“-Opjs lostrat. Es dauerte Monate, schließlich kam die Erfolgsmeldung: alles gelohnt
Witt, heute mit feinziseliertem Bakkenbart und antiquiertem Bratenrock ausgestattet, gibt nun eine Art „Postman“, wie er Kevin Costner gefallen würde. Als apokalyptischer Reiter versucht er in dem Video zur „Flut“, seine Truppen – die „Braunen“ – in die Arche zu retten. Und zwar „in ein anderes großes Leben“, wie der Text verheißt. Die Staubmantel- und Trümmer-Phantasien fanden nicht nur Beobachter des „Morgenmagazins“ von ARD und ZDF so befremdlich, daß sie Witt in einen „deutschen Sumpf“ kriechen sahen. Auch redundante Erklärungen Witts, Wagner werde von ihm herbeizitiert, „weil meine Musik sehr viel mit Wagner zu tun hat“, trugen nicht zur Aufklärung bei. In Sütterlin-Schrift und Opern-Ausstattung wird nun ein weiterer Knaller nachgereicht: „Und… ich lauf“ ist wieder eine tiefstimmig geraunzte und gerollte Attacke, die sofort an Rammstein-Schauerlieder erinnert. Im Video sieht Witt aus wie Dracula und läuft in einem gotischen Turm die Treppe hinauf, um zu der holden Jungfrau zu gelangen, die sich just vom Gemäuer stürzt Wie James Stewart in Hitchcocks „Vertigo“ kommt der Retter auch in der Wiederholung der Geschichte zu spät Und sie fällt. Diesmal boykottiert MTV – schon „Die Flut“ paßte dort nicht ins Bild. Und „Bild“ meldet nun aus der Sendezentrale: „Zu drastisch.‘ Da kommt Selbstmordstimmung auf!“ Witt kontert kühl: „Die Herren haben nichts verstanden.“
Es ist auch nicht einfach mit Witt, der Staat und Justiz „zu liberal“ findet, aber PDS wählt und einen „neuen Umgang der Menschen miteinander“ anmahnt. Er sei „sehr emotional“. Die Lektüre von Erich Fromm bringt ihn auf Gedanken, die andere in den 70er Jahren hatten. Seine Rede, leise und tastend, bleibt dunkel. Die 24jährige Freundin erklärt er damit, daß er sich mit Menschen seines Alters nicht so gut verstehe. Und das mag so sein.
Ganz gut versteht Witt sich mit den Mannen von Rammstein. Deren Triumph, so wird gemäkelt, habe Witts Wagnergewitter erst ausgelöst Der Beschuldigte sieht das nicht so stringent: Da lag schon lange etwas in der Luft, auf dem Gemüt Außerdem, erläutert Witt in „Bild am Sonntag“, seien Rammstein überhaupt „viel härter“ und hätten „keine Melodien“. Immerhin habe man sich schon bei einem Konzert in Berlin getroffen.
Gemeinsam ist man nämlich unverstanden in Deutschland, wenn auch mit schönstem Verkaufserfolg. Während Witt in seinen Videos offenbar Eisenstein, Tarkowskij und Murnau belehnt, provozierten die seit je angefeindeten Rabulisten von Rammstein mit dem Video zur Depeche Mode-Hymne „Stripped“ einmal mehr aufgeregte Betroffenheit, weil sie Szenen aus Leni Riefenstahls Olympia-Dokumentarfilm verwendetet haben. Riefenstahl, heute 96 Jahre alt und noch immer auf Tauchstation, muß es freuen. Auch Amerika, das ehedem schon deren Olympia-Film bejubelte, feiert Rammstein derzeit für ihr pyrotechnisches Teutonen-Theater, während das befreundete europäische Ausland etwas gram ist: Wehret den Anfangen! Unnnötig zu sagen, daß die Rammstein-Show ungefähr so gefährlich ist wie eine Aufführung von Alice Cooper und ebenso authentisch.
In den USA sind 500 000 Stück von „Sehnsucht“ verkauft; man ist jetzt unterwegs mit Korn und anderen Brachial-Bands. Petra Husemann, Abteilungsleiterin bei Motor Music und von Beginn an für Rammstein zuständig, widmet gelassen einen guten Teil ihrer Arbeitszeit der Apologie ihrer Entdeckung: Es handle sich ja um Phantasien, die womöglich jeder mal habe; das Publikum wolle nur Spaß und Grusel; der Amerikaner schätze technoide Deutsche, siehe Kraftwerk. Und die Medien würden ja auch nicht gescholten für Gewaltdarstellungen, die nur auf den Effekt zielen.
Zu den Protesten gegen das „Stripped“-Video verschickte Husemann eine eloquente Presseerklärung, die den bloß ästhetischen Charakter des Clips betont. „Rammstein“, sagt sie kategorisch, „sind nicht politisch.“ Sie geben auch keine Interviews mehr. Schon vor dem Debütalbum verlangten die Neulinge nach einem Pressesprecher, denn sie glaubten die einzelnen Musiker in den Gesprächen nicht gebührend repräsentiert. Ihr Sänger und Texter Till Lindemann, durchaus keine Plaudertasche, wurde ständig ausgefragt, blieb Antworten aber lieber schuldig. Der im deutschen Osten sozialisierte Kraftmensch empfand den Westen wie einen „Wildpark“. Heute, erzählt Petra Husemann amüsiert, finde er das Land ganz okay, aber Amerika sei „total krank“. Bei Ausflügen in die maroden Viertel amerikanischer Großstädte war den Rammstein-Recken plötzlich angst und bange, es fehlte Schutz. Sorgen macht den Künstlern auch die eindrucksvolle Performance ihres Tournee-Gefährten Ice-Cube, der sich selbst als illuminierte Riesenstatue auf die Bühne bringen läßt, und zwar vor dem Auftritt von Rammstein. Das eigene Feuerwerk ist für mittlere Clubs konzipiert und erscheint den Musikern vor 10 000 Menschen als armselig. Die engagierten Pyrotechniker jubeln dagegen bei Freiluft-Festivals, weil sie die Flammen dort viel höher lodern lassen können.
Petra Husemann, das Sprachrohr der Band, denkt derweil an einen Hit ihrer Schützlinge in den USA. Ihre Pudelmütze ziert der Schriftzug „Rammstein“; kürzlich wurde sie für ihre Marketing-Kampagne mit dem Preis der deutschen Phono-Akademie ausgezeichnet. Der Rummel um die Feuerköpfe belustigt die Erfolgsgewohnte mehr als daß er sie bekümmert; die Kontroverse garantiert Frische und immerwährende Medienpräsenz. „Nachhaltigkeit“ ist hier das entscheidende Wort – das Rammstein-Debüt Jierzeleid“ stieg über Monate hinweg in den deutschen Charts und war auch nach dem Gipfel kaum totzukriegen.
Und so trägt die deutsche Musikindustrie mit ihren deutschesten Produkten ihr Scherflein zum bedrohten Standort Deutschland bei und stiftet zugleich deutsche Botschafter im Ausland, wo seit dem Tod des Österreichers Falco und der Wiederkehr des Mittelalters qua Michael „Enigma“ Cretu eine Lücke klafft. Die in Amerika für Rammstein zuständige Plattenfirma bewirbt „Stripped“ pragmatisch nach Art des Landes: „True art speaks for itself.“