Endstation Box-Set
Für das Feuilleton stand die Zeitdiagnose des Pop-Jahres 2011 im Buch „Retromania“ des britischen Musikkritikers Simon Reynolds: „Der Pop wird nicht mit einem großen ‚Bang‘ enden. Er endet mit einem Reissue-Box-Set, das man nicht mehr anhören wird, und mit einem überteuerten Ticket für eine Wiederaufführung des Pixies– oder Pavement-Albums, das man als Erstsemester zu Tode gehört hat.“ Bei Wild Flag machte es 2011 nicht „Bang“, sondern „Boom“ – so heißt eine dieser grandios rockistischen Abrissbirnen auf dem Debütalbum der All-Girl-Band, deren historisierende Stilisierung zu einer „female supergroup“ durch die Musikpresse Reynolds These bestätigte: Die Sehnsucht nach dem Neuen, sie steckt bleiern in den alten Initiationsriten.
Im Mikrokosmos der Festival-Reihe „All Tomorrow’s Parties“ im englischen Minehead hat man ein weniger diskursives Verhältnis zur Retro-Manie. Hier dürfen sich Independent-Althauer wie Archers Of Loaf nach Herzenslust wiedervereinigen. Wild Flag, die hier ein erstes, furioses Europa-Konzert spielen, haben durch ihre Ex-Bands Sleater-Kinney, Helium und The Minders viel Ruhm angehäuft. Wäre es da nicht ein Leichtes gewesen, sich rund um den 20. Jahrestag der Riot-Grrrl-Bewegung als deren Gralshüterinnen zu inszenieren?
Janet Weiss, 46, grinst im Tourbus unter ihrer Pelzmütze hervor und sagt: „Nein, es ist großartig, noch mal von vorn anfangen zu können.“ Mary Timony und Rebecca Cole nicken, Carrie Brownstein hat sich entschuldigen lassen. Weiss hat neben Sleater-Kinney für viele Bands Schlagzeug gespielt: bei Quasi, für Stephen Malkmus, Bright Eyes, die Go Betweens. Doch eine so auf den Augenblick konzentrierte Euphorie wie bei Wild Flag hat sie noch nicht erlebt: „Frauen mittleren Alters haben oft gar keine Möglichkeit, jenseits des Alltags zu Heldinnen zu werden. Doch wenn ich uns höre, wenn Carrie und Mary in die Luft kicken und mit ihren Gitarren herumwirbeln, geschieht genau das.“
Der Zufall war es, der die vier zusammengebracht hatte. Brownstein hatte 2010 den Auftrag für einen Soundtrack zu der Dokumentation „Women Art Revolution“ bekommen, die Rechte für Sleater-Kinney-Songs waren der Filmemacherin zu teuer. Also scharte Brownstein neben der Weggefährtin Weiss in Cole und Timony zwei Musikerinnen um sich, mit denen sie immer arbeiten wollte. Man spielte erst die Instrumentals für den Film, danach erste eigene Songs ein. Weil sie der Harmonie nicht trauten, gingen Wild Flag schließlich sogar auf Tour, wo sie ihr Repertoire noch einmal erweiterten.
Vor Wild Flag hatte jede der vier Frauen auf ihre Art Abstand von der Musikkarriere gewonnen: Rebecca Cole trat mit Janet Weiss als skurrile Coverband kostenlos in Bars auf, Mary Timony verdiente ihr Geld in Washington als Gitarrenlehrerin. Nach vier kaum beachteten Soloalben hatte sie am wenigsten an eine Bühnenrückkehr geglaubt. Carrie Brownstein dagegen war als Autorin und Hauptdarstellerin von „Portlandia“ ein Coup gelungen. Die TV-Serie nimmt am Beispiel der Hipster-Metropole Portland auf urkomische Weise subkulturelle Lebensstile auf die Schippe.
Bevor die Band Anfang Februar für drei Konzerte nach Deutschland kommt, hat sie schon an neuen Songs gearbeitet. Weiss jedenfalls formuliert ihr Glaubensbekenntnis von altersgerechtem, feministischem Ungehorsam so: „Diese Band wird keiner Gebrauchsanweisung folgen. Nur, weil wir Frauen und bald allesamt über 40 sind, müssen wir noch lange nicht einpacken.“ Die Reissues werden noch warten müssen.