EM-Prognose: Wird Deutschland Europameister?
Sommermärchen 2024 oder erneut ein Turnier-Flop: ROLLING STONE analysiert die Chancen der DFB-Elf.
Nach den fatalen Testspielniederlagen gegen die Türkei und Österreich votierten nur kühne Optimisten für einen Finalsieg der DFB-Elf bei der EM im eigenen Land. Doch dann stellte Bundestrainer Nagelsmann seinen Kader um, berief einige der Helden von Leverkusen und Stuttgart in den ersten Kreis und die Mannschaft rang überzeugend die Niederlande und Frankreich nieder. Also zwei Gegner, die bei der Euro 2024 zum Favoritenkreis zählen. Und plötzlich fand mehr als jeder zweite Befragte in Umfragen: Deutschland wird Europameister.
Natürlich staunt das Ausland schon länger über die emotionale Wankelmütigkeit der Deutschen, nicht nur im emotionalen Umgang mit ihrer liebsten Elf, aber die Wahrheit, was dem Team bei diesem besonderen Turnier (Gastgeber wird man wohl frühestens wieder in 40 Jahren) zugetraut werden kann, liegt irgendwo zwischen den extrem schwankenden Leistungen der Nationalmannschaft in den letzten Jahren und dem begnadeten Talent einiger ihrer Spieler. Was also kann man Neuer, Tah, Kroos, Musiala und Füllkrug zutrauen? Kann Deutschland wirklich Europameister werden?
Bedenkliche Momente in den letzten Tests
Die letzten Testkicks gegen die Ukraine und Griechenland haben den robusten Eindruck der Partien gegen Les Bleus und Oranje etwas relativiert. Die Offensive zeigte sich gegen die fürs Turnier qualifizierten Osteuropäer zunächst als viel zu wenig effektiv, auch wenn viele Chancen herausgespielt wurden. Immerhin stand die Defensive weitestgehend, trotz des bedenklichen Fehlpasses Neuers kurz vor Schluss.
Der einstige Welttorwart, nach der vergeigten WM in Katar und nach seiner schweren Beinverletzung erstmals wieder im DFB-Tor, rückte im Spiel gegen die Hellenen noch sehr viel mehr in den Fokus, als er einen harmlosen Schuss direkt vor dem Gegner abprallen ließ. Das führte geradewegs zum Führungstor für die vorpreschenden Griechen, die auf dramatische Weise die Qualifikation für die EM verpassten und sichtbar motiviert waren. Aber auch sonst war es eine erste Halbzeit zum Vergessen, trotz der Real-Giganten Kroos im Mittelfeld und Rüdiger in der Abwehr.
Dass nach 90 Minuten kein Rückschritt zum Rumpelfußball stand, lag vor allem an der Disziplin in der zweiten Hälfte und einem hübschen Dropkick von Pascal Groß. Symptomatisch könnte dieses Tor stehen für die als Joker vorgesehenen Fachkräfte, denen Trainer Nagelsmann schon in der Vorbereitung ihre konkrete Rolle bei der Europameisterschaft vorgegeben hat. Das dürfte auch für den bei den Bayern seit Wochen mit Blessuren kämpfenden Sané gelten, der nach seiner Einwechslung direkt Druck machte und Räume öffnete.
Die erste Elf steht soweit fest. In ihr finden Kreative (Musiala, Wirtz) genauso Platz wie Allrounder (Havertz), Strategen (Kroos, Kimmich), Arbeiter (Andrich) und Frischmotivierte (Mittelstädt). Auf der Bank sitzen viele Fachkräfte, die in den letzten Monaten starke Form zeigten, wie Undav und Führich aus Stuttgart, ebenso Talente wie Pavlovic und der gegen Griechenland erstaunlich unbekümmert aufspielende Beier. Dazu der inzwischen zum Herbergsvater gereifte ewige Müller, der für späte Impulse in einem Spiel genauso gut ist wie für die stabile Stimmung in der Kabine. Augenscheinlich hat der Münchner diese Rolle angenommen. Und auch die anderen Spieler sind danach ausgesucht – so scheint es Nagelsmanns Plan zu sein –, dass sie bedingungslos das Team unterstützen, ohne erbittert um einen Stammplatz zu kämpfen. Auch deshalb ließ der Coach die im Grunde formstarken, aber auch mit gesundem Ego gesegneten Hummels und Gortezka auf der Couch.
Für den DFB-Trainer ist die Zusammenstellung des Teams nicht nur nach Leistung, sondern auch nach Verträglichkeit ihrer Charaktere ein Erfolgskriterium. Oder anders: Nagelsmann hat in der Analyse des letztlich verdienten Ausscheidens in der Vorrunde bei der WM in Russland und Katar hier eine besondere Schwäche ausgemacht. Die offensichtlich strukturellen Probleme seines Teams vor allem in der Verteidigung, aber auch in Ermangelung mehrerer unbekümmerter Stoßstürmer neben dem soliden Füllkrug, will der Trainer offensichtlich durch die richtige Komposition im Teamgefüge und auch eine optimale Einstellung auf den Konkurrenten ausgleichen. Das zeigte er mit im Laufe seiner kurzen Amtszeit sehr unterschiedlichen Aufstellungen, wobei die taktische Ausrichtung eher ähnlich blieb. Bloß niemanden überfordern. Diese Lehre zog der Coach aus seiner abrupt beendeten Zeit beim FC Bayern.
Gündogan steht für den DFB-Fußball 2024
Nagelsmann ist ein Getriebener, was die Suche nach Lösungen für schwierige Probleme angeht. Er hat Neuer als verlängerten Arm auf dem Platz, der seinen Wert eben nicht nur durch erstklassige Paraden zeigt, sondern auch durch seine Fähigkeit, die Abwehr vor ihm zu dirigieren. Zudem ist mit Ilkay Gündogan ein Leader dabei, der seine Aufgaben still und doch präzise erfüllt. Er geht voran, ohne dafür sich selbst zu sehr in den Mittelpunkt zu rücken und hat keine Probleme, für andere Freigeister in einem schwierigen Match zu weichen. Das ist auch deshalb nötig, weil der Lenker des FC Barcelona von seiner Weltklasseform in Manchester deutlich eingebüßt hat.
Gündogan steht aber, unabhängig von der Brillanz von Musiala, Wirtz und Kroos, für die Unaufgeregtheit des deutschen Fußballs. Dieser ist, wenn er denn nicht zurückfällt in jene Momente der Behäbigkeit beim Aufbauspiel, das in der Vergangenheit selbst gegen schwächere Gegner zum Kontern einlud, ergebnisorientiert. Er zeigte sich in den besseren Momenten der Vorbereitungsmonate fürs Turnier in unbedingter Entschlossenheit. Manche sehen darin eine Renaissance deutscher Tugenden.
Ein Erfolgsrezept für das DFB-Team könnte sein, dass es gelingt, gerade in den nicht unbedingt einfachen Spielen gegen Schottland, Ungarn und die Schweiz von Beginn an die Ruhe zu bewahren. Auch wenn es sich mindestens bei den beiden Letztgenannten um gute Umschaltmannschaften handelt, die jeden Fehler der Deutschen schnell bestrafen können, aber insgesamt keinen druckvollen Fußball spielen.
Eine überragende Rolle wird hier den Champions-League-Siegern Kroos und Rüdiger zukommen. Kroos agiert mit seiner gigantischen Passquote und seinem bestechenden Stellungsspiel als Metronom im Mittelfeld, Rüdiger muss als kantiger Abräumer neben dem flexiblen und schnellen Tah gerade auch in brenzligen Strafraumsituationen jenes Gladiatorengefühl vermitteln, das er bei den Königlichen an den Tag legt. Das wäre dann auch das Quentchen Psychologie, das den Künstlern in der Mannschaft die Möglichkeit gibt, auch in engen Partien Ungewöhnliches zu versuchen oder auch einmal rätselhafte Laufwege zu gehen. Wirtz und Musiala allein die Aufgabe des Unberechenbaren unterzuschieben, wäre allerdings ein Fehler.
Niemand wird die Vorrundengegner unterschätzen, aber sie sind genau das, was sie auf dem Papier versprechen: unangenehm. Keines der Spiele wird große Räume bringen. Knappe Ergebnisse dürften die Folge sein. Doch schon im Eröffnungsspiel gegen die klobigen Schotten könnte ein erstes Ausrufezeichen gesetzt werden, und wenn es erst spät mit der Einwechslung eines von Nagelsmann für jede Spielsituation ausgesuchten Rollenspielers gelingt.
Nach der ersten Spielrunde warten auf Deutschland im Achtelfinale Serbien, Dänemark oder Slowenien. Das sind Gegner, die zu schlagen sind, die in den letzten Jahren eine gute Rolle im europäischen Fußball spielten, aber den Rasensport sicher nicht neu erfunden haben. Wenn es seltsam kommt, dann wäre auch ein Spiel gegen England möglich. Das wäre kein Beinbruch, denn erstens hat die DFB-Elf nach der Pleite vor drei Jahren im Wembley noch eine Rechnung offen und zweitens zeigten die Three Lions in den letzten Spielen absteigende Form. Gegen Island verlor man zuletzt zuhause 0:1. Ja, genau, jenes Island, das den damaligen Teamchef Rudi Völler zu seinem legendären „Scheißdreck“-Interview veranlasste.
Gute Stimmung und geschlossene Reihen
Apropos Völler: Was der deutschen Nationalmannschaft bei dieser Heim-EM auch helfen könnte, ist der Anspruch, wieder gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Politische Aktionen wie in Katar? Soll es nicht geben. Zweifel an Mannschaft und Trainer? Werden von Völler einfach abgeräumt. Das ist wichtig nach all den Querelen der letzten Jahre. Lange geisterte immer wieder die Vorstellung eines neuen Sommermärchens durch den Blätterwald.
Es ist nicht verwegen, zu behaupten, dass es KEIN weiteres Sommermärchen geben wird. Dass sich Deutschland als ein anderer Gastgeber präsentieren wird als noch 2006. Dass das Wetter auch mal dunkle Wolken und Regen zulassen wird oder ungemütlichen Störaktionen den freien Fluss des Fußballs momentweise einschränken. Wir haben andere Zeiten, an der Außengrenze Europas sterben Menschen, Israel führt einen Krieg gegen eine islamistische Terrororganisation, die letzte EM stand noch im Zeichen der Corona-Pandemie und die aktuelle wird ausgetragen trotz grassierender Rekordinflation.
Hinzu kommt ein Gastgeber, der sich seiner Identität nicht mehr sicher, aber seiner gesellschaftlichen Probleme sehr bewusst ist und sie zuletzt auch auf dem Rücken seiner Sportler austrug. Das kann alles für ein paar Wochen aus dem Blickfeld verschwinden, aber während der WM vor 18 Jahren (als noch kaum ein Spieler ein Social-Media-Profil hatte und Angela Merkel erst vor wenigen Monaten Kanzlerin geworden war) lief eben auch auf dem Platz vieles rund. Erst gegen die notorisch nervenstarken Italiener gab es die kalte Dusche. Diese EM wird für die DFB-Elf schon ein Erfolg sein, wenn sie das Publikum durch mutigen, am besten auch euphorischen Fußball zurückgewinnt.
Ab dem Viertelfinale wartet aber auch schon das erste starke Kaliber. Gewinnt die DFB-Elf ihre Gruppe und besteht die Prüfung im Achtelfinale, dann geht es in Stuttgart gegen den Sieger der Gruppe B (mutmaßlich Spanien oder Italien, vielleicht Kroatien), der zuvor sehr wahrscheinlich den Dritten der Gruppe A, D, E oder F aus dem Turnier werfen dürfte. Spanien, Italien, Kroatien – das sind alles Mannschaften, gegen die Deutschland bei Turnieren nicht nur schlecht aussah, sondern auch rausflog. Das Viertelfinale wäre die erste große Prüfung für die Nagelsmänner. Nach einem Sieg wäre alles möglich, zumal das Halbfinale in München ausgetragen wird, traditionell ein Stadion, das für den DFB ein gutes Omen bedeutet. Dafür muss vieles stimmen. Und: Wenn Deutschland Zweiter wird in der Vorrundentabelle, geht es gegen jene Gegner bereits im Achtelfinale.
Objektiv betrachtet hat die deutsche Nationalmannschaft einige der begabtesten Spieler Europas im Kader. Ebenfalls objektiv betrachtet zeigt sie aber auch schon seit 2017 (!) über einen längeren Zeitraum nicht mehr stabile Leistungen. Bis dahin war die DFB-Elf in vielen Turnieren fast immer mindestens bis ins Halbfinale gekommen. Eine erstaunliche Serie. Eine Reihe von sieben ungeschlagenen Spielen gelang zuletzt 2021. Unter dem damaligen Trainer Hansi Flick siegte man aber vor allem gegen kleinere Gegner. Jahrelang war gegen die vermeintlich Großen nichts mehr zu holen. Es muss also Mut machen, dass es gegen Frankreich innerhalb eines Jahres gleich zweimal gelang und gegen die offensiven Niederländer ebenfalls. Nagelsmann ist ein junger Trainer, der im Vereinsfußball bereits beeindruckende Erfolge erzielt hat. Einen großen Titel gewann er indes noch nicht. Er versteht sich als gewiefter Taktiker und Menschenfänger. Aber ist er auch gewappnet für die Besonderheiten eines Turnierformats?
EM-Prognose: Raus im Viertelfinale oder Europameister
Deutschland wird während der EM spielerisch an seine Grenzen kommen. In der Vorrunde, weil fast alle Teams abwartenden Umschaltfußball spielen werden, was dem DFB-Team in letzter Zeit eher nicht so gut lag. Kommt dann auch noch Aufopferungsbereitschaft wie bei den Japanern in Katar hinzu, werden die Deutschen auch leiden müssen. Spanien und Italien könnten dann definitiv zu einer Herausforderung werden, an der diese zu Teilen noch unerfahrene Equipe scheitern könnte, weil die Cleverness fehlt oder auch die Selbstsicherheit, über viele Spiele auch einmal trotz dürftiger Leistung fehlerlos gespielt zu haben.
Für Nagelsmann oder sein Team könnte es also heißen: Raus im Viertelfinale, weil andere eingespielter sind. Oder mit einer Welle der Euphorie und sicher auch etwas Glück dann direkt über den Umweg eines vielleicht dann sehr souveränen Halbfinales weiter ins Finale. Es wäre nach allem, was in der letzten Zeit von dieser Mannschaft zu sehen war, eine Herkulesleistung. Turniermannschaft hin oder her.