Einer geht neue Wege
Mit grandiosem Album nimmt Niels Frevert Kurs auf den deutschen Pop-Mainstream
Am Ende des Interviews lehnt er sich noch einmal vor. Wie ein Kind, das einem ein Geheimnis ins Ohr flüstern will. Ganz nah ans Diktiergerät. Und fragt: „Läuft die Aufnahme noch?“ Diesen einen Satz hat er sich lange vorher zurechtgelegt, nun möchte er ihn gespeichert, gedruckt, verewigt wissen: „Ich werde den anderen den Bereich ‚gehobener Mainstream‘ nicht kampflos überlassen!“
Der Hamburger Songschreiber Niels Frevert ist 46 und nicht nur einer der Besten, sondern auch einer der Bestgekleideten seiner Zunft. Seit geschätzten zweieinhalb Platten kultiviert er einen lässig-distinguierten Mann-im-besten-Alter-Look inklusive perfekt unrasiertem George-Clooney-Dreitagebart, mit dem er auch Werbung für Herrenausstatter oder elektronische Rasierapparate machen könnte. In perfektem Zwirn -gestärktes weißes Hemd, graue Anzughose, dunkles Nadelstreifen-Jackett -sitzt er auf einer beigefarbenen Couch im Berliner Hansa-Studio, wägt Antworten ab, sucht nach den richtigen Formulierungen. „Nach zehn Jahren und drei Platten musste ich wirklich mal raus, neue Wege gehen. Ich habe das auch schon vor dem letzten Album verkündet. Sauberer, als ich da vom Hof gegangen bin, geht ’s nicht“, sagt er über seinen Wechsel von Tapete zu Grönland Records, dem 1999 von Herbert Grönemeyer gegründeten Label. „Ich glaube, dass die neue Platte besser zu Grönland passt. Der Schritt hat mich auf jeden Fall dazu bewogen, mehr zu wagen.“ Mehr Risiko, mehr Dynamik, mehr Opulenz – und eine breitere Form der Aufmerksamkeit. So schielt das schwärmerische, mit Streichern durchflutete neue Album „Paradies der gefälschten Dinge“ mit einem Auge Richtung Ina-Müller-Publikum, mit dem anderen Richtung Burt-Bacharach-Grandezza. Eine ebenso elegante wie clevere Musik, die tatsächlich Freverts neuem Kurs auf dem Weg zum „gehobenen Mainstream“ folgt.
Für die trojanische Verpackung seiner Songs konnte er mit Stefan Will, der in Freverts Band Klavier spielt und sonst als Stammkomponist für Regisseur Christian Petzold arbeitet, und dem in den Siebzigern als Easy-Listening-König Anthony Ventura bekannten Werner Becker gleich zwei geniale Arrangeure gewinnen, die schon das letzte Meisterwerk, „Zettel auf dem Boden“, verzierten. Doch im Zusammenwirken von Streicher-und Bläserarrangements mit Freverts gebrochenen Harmonien entsteht diesmal eine spröde Magie, die man so noch nicht gehört hat.
Für seine eigenwilligen Akkordfolgen, die einen unvermittelt von einer Stimmung zur nächsten schwappen lassen, hat er von seinen Mitmusikern sogar Häme einstecken müssen. Witze wie der, dass man auf seinen Grabstein dereinst den Spruch „Jazz war sein Hobby“ gravieren könne, gehören zur gesunden Sozialhygiene einer Band. Das fing schon bei „Du kannst mich an der Ecke rauslassen“ an – Freverts erstem kleinen Flirt mit Streichquartett-Balladen. „Als ich ihnen meine Ideen vorspielte, sagten sie: ‚Du willst ja nur im Plattenregal hinter Pat Metheny stehen.‘ Sie haben aber verstanden, dass das keine billige Masche oder Effekthascherei ist, sondern dass ich diese Akkorde mit Inhalt füllen kann. Sie helfen mir, die Geschichte zu erzählen.“
Freverts Geschichten, das sind meist Alltagsbeobachtungen: Ein Mann, der im Park ein paar Eichhörnchen füttert, ein Freund, der aus der „Tsychatrie“ anruft oder ein absurdes Ereignis beim Kirchentag in Hamburg. Gesungen mit einer eloquenten Flapsigkeit, die Udo Lindenberg wie den einfältigsten Gossenpoet wirken lässt. Und gespickt mit Aphorismen und versteckten Weisheiten. „Ich brauche mich nicht an Erinnerungen festzuhalten, denn die komm‘ um die Ecke von ganz allein“, singt er in „Alles muss raus“. Die Erinnerungen an seine holprige Karriere, die trotz aller Rückschläge auf wundersame Weise von jeglicher Verbitterung ungetrübt geblieben ist, kamen jüngst wieder hoch, als er sich für eine Dokumentation in die Jahre mit seiner Band Nationalgalerie zurückversetzt hat. Hilfreich war es dennoch. „Wir haben die alten Tapes durchgehört. Danach konnte ich noch mal ganz anders loslassen, weil ich dachte, jetzt ist auch wirklich alles zu dem Thema gesagt.“ Der Film zeigt, wie schwer das war, in den Neunzigern als deutsche Rockgruppe zu bestehen, die ganz unironisch eine Form von Alternative Rock nach amerikanischem und britischem Vorbild suchte, aber eben mit deutschen Texten. Die Replacements und Lemonheads und Costello hörte. Die sich nicht in Distinktionsposen verlor, sondern in Musik. Die eine eigene Sprache, Freverts Sprache fand. Die für zwei Alben in die USA flog, um mit John-Mellencamp-Gitarrist Mike Wanchic in dessen Studio in einem Kaff namens Bloomington, Indiana, aufzunehmen -ein heute unvorstellbarer Vorgang. Und die dann doch zum Scheitern verurteilt war, weil sie den Erfolg ihres kleinen und einzigen Hits „Evelin“ nicht wiederholen konnte oder nicht wollte. Weil sie Nachzügler wie Selig kommerziell an sich vorbei ziehen ließ, künstlerisch aber mit „Meskalin“ eine der diffizilsten, rätselhaftesten und anspruchsvollsten Rockplatten des Jahrzehnts ablieferte – und dafür von ihrer Plattenfirma mit dem Bann „unverkäuflich“ belegt wurden.
Man sieht in dem Film, der dem kürzlich erschienenen Nationalgalerie-Boxset „Alles“ beigelegt ist, aber auch eine Band, auf die das verdammte Klischee vom Nicht-Verbiegenlassen zutrifft. Und man sieht Musiker, die sich heute – und das ist wiederum keine Selbstverständlichkeit im Pop-Geschäft – nicht das Maul übereinander zerreißen oder gespenstische Funkstille praktizieren. „Das sind immer noch meine besten Freunde“, sagt Frevert, „die ich mitten in der Nacht anrufen kann, wenn ich ein Problem habe. Wahrscheinlich wären wir gar nicht mehr befreundet, wenn wir weiter zusammengeblieben wären.“
Nach dem Ende der Band startete er beinahe nahtlos in eine Solokarriere. Motor Music brachte 1997 sein Debütalbum heraus – ein „Mega-Flop“, wie Frevert rückblickend konstatiert. „Danach wollte mich nicht mal das kleinste Kleinst-Label unter Vertrag nehmen. Die gingen nicht mal mehr ans Telefon, wenn ich anrief.“ Ein Vertrag mit Intercord kam zwar zustande, wurde aber vor einem möglichen zweiten Album gekündigt. Die Entschädigungssumme half ihm immerhin vorerst über die Runden, in einer Zeit, als er zudem Vater wurde und sich ernsthaft Gedanken über sein Leben und seine Zukunft machte. „Ich habe mir die Frage gestellt, ob ich überhaupt noch Musik machen will oder ob das nur noch aus einem Automatismus heraus geschieht. Was ist es denn, was mich daran hält? Geht es mir um Erfolg oder darum, mich auszudrücken? Gibt es mir Halt? Ist es der rote Faden in meinem Leben?“
2003 erschien „Seltsam öffne mich“ auf Tapete Records, „wo ich endlich die gestalterische Unabhängigkeit fand, nach der ich immer gesucht hatte. Niemand quatschte mir rein.“ Aus dieser Freiheit erwuchs die Überlegung, ein Album mit ausschließlich akustischen Instrumenten aufzunehmen. Doch wieder gingen fünf Jahre ins Land, bis „Du kannst mich an der Ecke rauslassen“ eine musikalische Wende in Freverts Schaffen einleitete. In diesem nuancierteren, Country-, Folk-und Jazz-informierten Liedermachertum gingen seine Texte zum ersten Mal einhundertprozentig auf. Und mit Stephan Gade am Bass, Stefan Will am Klavier und Schlagzeuger Tim Lorenz schien auch endlich die definitive Besetzung gefunden. „Ich kann Leute von meinen Sachen überzeugen, die dafür lukrativere Angebote ausschlagen“, sagt Frevert eine Spur zu selbstgefällig, um es sich selbst abzukaufen. „Ich lob mich zu viel, hm?“ Ach, das passt schon. Die Regel „Kleines Talent – große Nabelschau“ macht hier mal eine Ausnahme.
Dass die Abstände zwischen seinen Veröffentlichungen in den vergangenen Jahren wieder auf Normalmaß geschrumpft sind, liegt jedoch weniger an Freverts kreativem Output. „Zum einen haben sich die Alben immer besser verkauft, zum anderen ist meine Tochter inzwischen so alt, dass ich mich nicht mehr so viel um sie kümmern muss.“ Nach „der Ecke“ habe er jedoch ganz schön mit sich gehadert. „Den Nachfolger zu schreiben, war nicht einfach, weil ich das Gefühl hatte, keine bessere Platte hinzukriegen.“ Verzwickte Situation für jemanden, der sich zum Ziel gesetzt hat, nicht nur den Hörgewohnheiten des Publikums, sondern auch den eigenen gekonnt auszuweichen. „Es gibt heute viele technische Möglichkeiten, um den Hörer zu beeindrucken. Alles perfekt zu machen, ohne den Hauch eines Fehlers.“ In solchen Sätzen spürt man, wie unzufrieden er mit dem Status quo der hiesigen Popmusik ist und wie gern er diesen Zustand ändern würde.
Nicht umsonst hat er das neue Album „Paradies der gefälschten Dinge“ getauft. Es ist das Paradies, in dem wir alle leben. In dem jeder Film auf einer wahren Begebenheit beruht und jede Bildschirm-Träne pure Emotionen verheißt. In der das Lebensgefühl einer ganzen Generation längst viral vermarktet wird. Und in der eine schwer romantische, schwer melancholische Musik wie auf „Paradies der gefälschten Dinge“ inmitten all des bis zum Erbrechen ausgewogenen Zweckoptimismus-Pop à la Adel Tawil eine fast schon subversive Kraft ausstrahlt. Zwischen den Zeilen scheint uns Frevert zu sagen: Wenn jede Note Pop tausendfach gewendet und jedes Image millionenfach kopiert ist, müssen wir wieder rausgehen, um nach der Magie des Alltäglichen, dem vermeintlich Banalen zu suchen. Vielleicht nach dem Mann, der die vier Eichhörnchen füttert oder dem Jungen, der aussieht wie eine Mischung aus Jesus und James Dean und beim Hamburger Kirchentag einen Drachen mit LED-Lichtern steigen lässt, den die Polizei für ein UFO hält. Mit anderen Worten: Dann müssen wir aus unserer innersten Trauer den Mut zum Skurrilen schöpfen und den Zauberspruch aufsagen: „Seltsam öffne mich!“ Dann gilt es, wieder Geschichten über Schmerz und Glück in all ihrer unfassbaren Fülle zu erzählen, auf Zwischentöne zu hören, das Unkonkrete und Unkontrollierte zuzulassen, auch auf die Gefahr hin, die Übersicht zu verlieren.
„Die Deutschen lieben ja nichts mehr als Inszenierungen und Kostüme“, weiß Frevert. „Da scheint es ein Trauma oder eine Urangst vor Melancholie zu geben.“ Bleibt die Frage: Gibt es so etwas wie „gehobenen Mainstream“ in der aktuellen deutschen Pop-Landschaft überhaupt? Oder erfindet ihn Niels Frevert gerade? Platz genug ist dort allemal zwischen Element Of Crime, Santiano und Tim Bendzko.
BIS MICH JEMAND HÖRT
Nationalgalerie – „Heimatlos“ (1991)
Das Debütalbum der Hamburger atmet den US-Indie-Rock – und klingt dabei wie die deutsche Mischung aus frühen R.E.M. und späten Replacements.
Nationalgalerie – „Indiana“ (1993)
Der rohe, trockene Sound ist Mellencamp-Gitarrist Mike Wanchic zu verdanken. Die Songs sind dringlicher, glühender. „Evelin“ wurde ein kleiner Hit.
„Seltsam öffne mich“ (2003)
Auf Freverts zweiter Soloplatte paaren sich sägende Post-Punk-Gitarren mit Pop-Appeal. „Wann kommst du vorbei“ legt seine melancholische Seite frei.
„Zettel auf dem Boden“ (2011)
Ein ingeniöses Meisterstück voll schwelgerischer Balladen, darunter eine wunderbare Version des Hermann-van-Veen-Songs „Bis jemand mich hört“.