„Einer flog über das Kuckucksnest“: Häuptling der Herzen

Vor 45 Jahren kam Milos Formans wichtigster Film ins Kino. Ein nostalgischer Rückblick auf einen Klassiker des humanistischen Kinos.

Man muss vielleicht wissen, dass es im Englischen einen Abzählreim gibt, in dem drei Gänse und ein Kuckucksnest vorkommen. Und vielleicht muss man auch wissen, dass der Kuckuck ja kein Nest baut, weshalb die eine Gans nicht über ein Kuckucksnest fliegen kann. Das ist der Witz daran. Und vielleicht ist es die Erklärung für das Schicksal von R.P. McMurphy, den womöglich verrückten, wahrscheinlich aber nur faulen, wilden und maßlosen Typen, dem Jack Nicholson für immer ein Gesicht gegeben hat.

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McMurphy hat noch kein richtiges Gesicht in dem Roman von Ken Kesey, der 1962 erschien: „Einer flog über das Kuckucksnest“ ist die Beschreibung des Lebens in einer psychiatrischen Klinik in Oregon, in der die Patienten mit Medikamenten und dem immer gleichen Tagesablauf ruhig gestellt werden, wenn sie nicht schon vollkommen still sind. Ein Befreiungsroman über die Gesellschaft als totalitäres System, erzählt aus der Sicht eines als schizophren diagnostizierten und für taubstumm gehaltenen Indianers, genannt Häuptling. Kesey selbst hatte in solch einer Klinik gearbeitet, deshalb ist das Buch schwer angreifbar. Es ist sentimental, es ist traurig, und es ist sehr komisch.

Der deprimierende Muff einer geschlossenen Anstalt

Der berühmte Kirk Douglas kaufte die Rechte an dem Roman, doch er scheiterte an der Verfilmung. Dann übernahm sein Sohn Michael das Projekt, ein Schauspieler, der bisher nur durch seine Assistentenrolle in der Fernsehserie „Die Straßen von San Francisco“ bekannt war. Michael Douglas wollte Produzent werden, und Saul Zaentz hatte schon ein paar Filme produziert. Bo Goldman und Lawrence Hauben schrieben ein Drehbuch, es gab bereits eine Theater-Adaption. Douglas und Zaentz verpflichteten den tschechischen Regisseur Miloš Forman, der nach dem Prager Frühling in die USA geflüchtet war und 1971 „Taking Off“ gedreht hatte, einen der Hippie-Filme des New Hollywood. Forman beherrschte das Gefühlige, aber er war auch Realist. Man könnte sagen: Der deprimierende Muff der kommunistischen Tschechoslowakei wurde jetzt der deprimierende Muff einer geschlossenen Anstalt in Oregon, USA.

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Und Luise Fletcher ist ihr Zerberus. Die Schauspielerin verkörpert die Stationsschwester Mildred Ratched als unbewegte, stoische Gouvernante, als Würgeengel der Versehrten. Sie unterwirft die Patienten ihrem rigiden Regime – wenn es sein muss, mit Elektroschocks. Nicholson ist die sexuelle Provokation: ein charismatischer Gammler, Tunichtgut und Draufgänger, der aus dem Gefängnis in die Klinik überwiesen wurde. Schon das Gespräch mit dem Anstaltseiter, der sein Strafregister vorliest, zeigt: Dieser Mann ist nicht zu bändigen, er ist ein Soziopath, und er hat Spaß daran. Die Vergewaltigung, für die er verurteilt wurde, war in seiner Version die Verführung eines Erwachsenen: „Sie war zwar erst 15, aber sie sah aus wie 35, und sie hat gesagt, dass sie 18 ist.“ McMurphy ist ein Luftikus und Schwätzer, und er ist unwiderstehlich.

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Der „Häuptling“ erweist seinem Freund McMurphy (Jack Nicholson) einen letzten Gefallen

Doch der Film leuchtet auch von den anderen Insassen: Man erfährt nicht viel über sie, warum sie in der Anstalt sind und was sie früher gemacht haben, falls sie etwas gemacht haben, und doch lernt man sie kennen. Den spießigen Harding (William Redfield), der denkt, seine Frau würde ihn betrügen, der seine Zigaretten nicht teilen will und sich in seiner wichtigtuerischen Art nicht davon beirren lässt, dass er stets den Hänseleien der anderen zum Opfer fällt. Den stotternden Billy Bibbit (Brad Dourif), jung und gut aussehend, schüchtern, der McMurphy zwar bewundert, aber seinen, wie sich herausstellt: freiwilligen Aufenthalt in der Psychatrie entschlossen verteidigt. Den gemütlichen Charly Cheswick, der sich so gewählt ausdrückt und bereit ist für alle Abenteuer. Den unheimlichen Taber (Christopher Lloyd), bei dem es einen nicht wundert, dass er gezwungenermaßen in der Anstalt ist, in dessen Blick eine finstere Vergangenheit liegt und der sich über den Erfolg beim Angeln freut wie ein kleines Kind. Den niedliche Martini (Danny DeVito), freundlich grinsend und begriffsstutzig, doch von einer Melancholie umgeben, dass man ihn einfach nur in den Arm nehmen möchte.

McMurphy ist wahnsinnig, ohne krank zu sein

Der Häuptling (Will Sampson), der mit seinem Putzlumpen durch die Gänge schleicht oder monumental herumsteht, ist McMurphys Verbündeter und schließlich sein Erlöser. Für McMurphy verlässt er sein inneres Exil und wird zum redseligen Schmerzensmann (der Vater!), und er ist es auch, der den Roman (nicht den Film) erzählt. Die Figur ist künstlich, pathetisch und konstruiert – und man vergisst sie nie mehr. Nicholson war schon in Hal Ashbys „The Last Detail“ von einem Hedonismus ohne Rücksicht – sein McMurphy ist tatsächlich wahnsinnig, ohne krank zu sein. „Seid ihr alle irre?“ fragt McMurphys Kumpanin Candy, als sie zu der Reisegesellschaft in den Bus steigt. Im Handstreich entert McMurphy einen Kutter, dem Hafenmeister stellt er seine Truppe als Ärzte vor – und plötzlich sehen sie auch alle so aus, weil sie das Gesicht und die Haltung für „Arzt“ nachstellen.

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Nach dem epiphanischen Ausflug geht alles furchtbar schief. McMurphy will wahrscheinlich mit Ratched schlafen, aber er würgt sie statt dessen, weil er Candy zum Sex mit dem verhemmten Billy gedrängt hat, der sich dann umbringt, und McMurphy wird lobotomisiert. Das sind ein paar Unwahrscheinlichkeiten zu viel, aber man glaubt dem Film alles. 1976 bekam er fünf Oscars, darunter Auszeichnungen für Forman, Nicholson, Fletcher und die Produzenten – gegen die Konkurrenz von „Der weiße Hai“, „Barry Lyndon“, „Nashville“ und „Hundstage“. Es war einer der besten Jahrgänge von Hollywood, und „Einer flog über das Kuckucksnest“ hatte gewonnen. Hollywood sah seitdem niemanden lieber über ein Kuckucksnest fliegen als Jack Nicholson.

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