EINE STADT AUS STAUB
Noch immer tobt ein grausamer Bürgerkrieg in Syrien - und gerät mehr und mehr in Vergessenheit. 585.000 Flüchtlinge sind alleine in Jordanien gestrandet. ROLLING STONE war in Saatari, einem Flüchtlingslager mit Straßen aus Sand und Supermärkten in Caravans. Die Waren kommen aus den USA, der Leiter des Camps aus Berlin. Er versucht Ordnung zu schaffen, wo das Chaos Leben bedeutet
Wenn es Abend wird im Flüchtlingslager Saatari, geht man zum Essen aus. Am liebsten zu Abu Mohammed, er betreibt das beste Restaurant am Platze. Ventilatoren wirbeln die heiße Wüstenluft durcheinander, vor dem Gastraum schaukelt ein Vorhang aus Plastikblumen und die Kellner tragen weiße Uniformen, auf denen jeweils eine Doppelreihe Knöpfe blitzt. Abu Mohammed sagt, das gehöre sich ja wohl so für ein gutes Restaurant. Und man möchte ihm glauben, wenn er sagt, er bereite sein Hühnchen-Schawarma nach einem ganz alten, geheimen Familienrezept zu, so gut schmeckt es.
Abu Mohammed ist Geschäftsmann, und er weiß, welche Geschichten die Kunden hören möchten. 8.000 Jordanische Dinar hat er in sein Restaurant investiert, umgerechnet 8.200 Euro. Seine Nachbarn erklärten ihn für verrückt: 8.000 Dinar für ein Restaurant! In einem Flüchtlingslager! Das Grundstück nebenan hat er später noch dazugekauft. Er plant einen Anbau und möchte andere Gerichte anbieten. „Tortilla, Pita und so weiter – nach einem alten, geheimen Rezept.“
Am besten stellt man sich das Flüchtlingslager Saatari im Norden Jordaniens, in der Nähe der Stadt Mafraq, als eine Stadt am Beginn ihrer Entwicklung vor. Zuerst kamen die Menschen – nach und nach etwa 100.000 Syrer, die vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land flohen -, und dann entstand eine Infrastruktur: Wasserleitungen, Stromkabel, bald werden die ersten Straßen asphaltiert. Es gibt eine Art Regierung, das sind die Vertreter des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen. Es gibt eine Polizei, die ist jordanisch und greift hart durch.
Die Menschen hier leben in Containern. Oft so nah beieinander, dass man nur kurz die Nase in die Luft halten muss, um zu wissen, was der Nachbar kocht. Dort, wo früher nur Wüste war, herrscht jetzt buntes Treiben. Kinderkreischen, das Schleifen der Transport-Schubkarren auf den sandigen Wegen, der Duft von frisch gebackenem Brot, das die Händler laut rufend bewerben: „Ganz frisch, direkt aus dem Ofen!“ Fast sofort nach der Eröffnung des Camps im Juli 2012 begannen die Flüchtlinge, Handel zu treiben, sie kauften und verkauften. Vieles war illegal.
Durch die Mitte des Lagers zieht sich eine 1,7 Kilometer lange Straße, die die Mitarbeiter des französischen Krankenhauses „Champs-Élysées“ getauft haben. So zynisch, wie es zunächst klingt, ist das gar nicht. Die Syrer nennen sie „Souk“, die Marktstraße. An dieser Straße befindet sich nicht nur das Restaurant von Abu Mohammed. Die Flüchtlinge verkaufen dort auch Handy-Schutzhüllen, Waschpulver, Kartoffeln, Zuckerwatte und Schals des FC Barcelona. Kürzlich hat der erste Laden aufgemacht, in dem Singvögel in Käfigen sitzen. Der Erfolg bleibt abzuwarten.
Man kann Saatari auch als Experiment betrachten: Was passiert, wenn 100.000 Menschen auf einem Stück Wüste landen, von dem die Flüchtlinge sagen, noch nicht einmal Kamele könnten hier leben? Wie entstehen dort Märkte? Wer setzt sich mit welchen Geschäftspraktiken durch, wenn das Chaos regiert und keine Ordnung in Sicht ist? Die Erfahrung aus Saatari zeigt, dass ein Typ wie Abu Hussein dann schnell zum Gewinner wird.
Abu Hussein sagt von sich selbst, er sei eine Pflanze, die man auf kargen Boden gepflanzt habe. „Und nur Gott legt die Samen, die Gutes tun.“ Der Eingang zu seinem Grundstück ist mit einer Blechtür versperrt. Dahinter liegt ein geteerter Innenhof, mit Kunstgrasmatten ausgelegt, Plastik-Kindersandalen liegen herum, auf einer Wäscheleine baumeln T-Shirts, ein Fernseher läuft, aber niemand schaut hin. Hussein empfängt in einem eigens für Gäste eingerichteten Caravan, die Polster, auf die er sich lehnt, sind mit goldfarbenen Fäden bestickt. Wenn man sein Erstaunen darüber ausdrückt, wie es der Flüchtling zu drei Caravans und bescheidenem Wohlstand gebracht hat, sagt er, Architektur sei sein Hobby, er entwerfe eben gern Wohnungen. In seiner Heimat Syrien war Hussein Lehrer für Heizungs- und Kühlungssysteme an einem College. Als die Revolution begann, wurde er Leiter einer Minen-Sondereinheit der Freien Syrischen Armee, dem bewaffneten Arm der syrischen Opposition. Dann wurde er Flüchtling. Seine Registrierungsnummer im Lager lautet 60, er war einer der ersten. Andere Flüchtlinge erinnern sich an einen unrasierten Mann in Shorts und ärmellosem Shirt, der vor Wut und Empörung schrie, wenn die Helfer der Vereinten Nationen mal wieder nicht genug Decken und Matratzen für die Menschen in den Warteschlangen dabeihatten. Das war Abu Hussein im Sommer 2012. Bald kamen die anderen Flüchtlinge zu ihm, wenn sie bei den Helfern auf taube Ohren stießen. Dann sahen sie zu ihm auf, dann folgten sie ihm.
Der griechischen Mythologie zufolge war Chaos der Urzustand des Lebens, davor gab es nur ein großes Nichts. Ähnlich ist es auch in Saatari, das aus dem Nichts entstanden ist. Und im Urzustand des Flüchtlingslagers lernte Abu Hussein eine Lektion am schnellsten: Im Chaos gewinnt der, der am lautesten schreit. Einen Monat lang war er jeden Tag ins marokkanische Krankenhaus gegangen, um sich Spritzen gegen die Schmerzen in seinen Stimmbändern geben zu lassen, so laut hat er geschrien.
Schwer zu sagen, wer oder was Hussein heute ist. Auf jeden Fall trägt er längst wieder Anzüge. Zwei Jacketts baumeln am Haken hinter seinem Stammplatz im Caravan. Er ist 47 Jahre alt, die angegrauten Haare stehen ihm zu Berge und er hat eine linke Augenbraue, die so ziemlich alles kann: schelmisch winken, drohend zucken, sich schmeichelnd biegen. Schreien tut er immer noch, Gespräche mit ihm finden in zwei Lautstärken statt: laut und sehr laut.
Saatari ist in zwölf Distrikte aufgeteilt. Jeder Distrikt besteht aus mehreren staubigen Wegen, und jeder dieser Wege hat einen sogenannten Streetleader. Das sind Männer, die von ihren Nachbarn zur Führung erkoren wurden, oder sich selbst dazu ernannt haben. Abu Hussein wurde gefragt, er hat abgelehnt. Posten interessieren ihn nicht. Er sagt, in den Distrikten eins, zwei und zwölf werde kein Streetleader ohne seine Zustimmung ein- oder abgesetzt. Auf die Frage, was für ein Posten das denn sei, gibt er die Antwort mit der Pflanze: „Eine Blume, die Gott auf kargen Boden gepflanzt hat.“ Die Augenbraue winkt.
Hussein befehligt einen Trupp von Männern, die nachts in „seinen“ Distrikten patrouillieren. Bei Treffen mit der Campleitung tritt er mit einer Entourage auf, hinter deren breiten Schultern er kaum zu entdecken ist. Einen der Männer stellt er als Energieminister vor. Energieminister gibt es angeblich mehrere im Camp. Sie haben eine Gruppe von Flüchtlingen unter sich, die ausgebildete Elektriker sind. Für etwa 30 Euro schickt der Energieminister einen der Elektriker zu einer Familie, der schließt sie an eine der Stromleitungen an, mit denen die Vereinten Nationen die Straßenlampen betreiben. Für den Strom bezahlt selbstverständlich niemand. In Distrikt zehn gibt es einen Transformator der unter 160 Prozent Maximallast glüht.
Abu Hussein sagt, er braucht die Hilfsorganisationen im Camp nicht. Er braucht auch nicht die Wertmarken, die sie alle zwei Wochen austeilen. Er lebt von seinen Ersparnissen und dem, was sein Hof in Syrien abwirft. Als er sich wieder einmal in Rage redet, als die Asche seiner Zigarette unbeachtet auf den Teppich fällt, zischt er: „Ich bin reich, und so lange Wasser in den Atlantischen Ozean fließt, werde ich Geld haben.“ Die Vermutung liegt nahe, dass sein Reichtum nicht von einem syrischen Olivenhain stammt und nicht aus dem Atlantik, sondern aus der Schattenwirtschaft, die aus dem Chaos hier entstanden ist.
Zunächst waren es vor allem Hilfsgüter des Flüchtlingshilfswerks, die verschwanden. Ein Zelt kostete erst 200 Dollar, später, als der Markt gesättigt war, nur noch 30. Selbst die Beduinen in den Wüsten Südjordaniens schliefen in Zelten mit der Aufschrift UNHCR. Als die Zelte durch Caravans ersetzt wurden, gelangten auch die über die Lagergrenzen. Über Nacht wurden schon mal eine Gemeinschaftstoilette abgebaut, sogar eine Polizeistation verschwand.
Sieben Familien aus Mafraq arbeiteten mit Syriern aus dem Lager zusammen und legten den Grundstein für die Marktstraße. Sie zogen Rechtecke in den Sand links und rechts des Hauptweges im Lager und verkauften die so gekennzeichneten Grundstücke an geschäftstüchtige Flüchtlinge. So entstand ein Immobilienmarkt auf einem Stück Land, das niemanden von ihnen gehörte und mit Immobilien, die aus Wellblech und Zeltplanen gebaut waren. 2.600 Euro kosteten ein Grundstück und die Geschäftslizenz. Mehrere Hundert Läden gibt es jetzt. So kann man auch reich werden.
Es ist so gut wie unmöglich, mit Abu Hussein über all diese Dinge zu reden. Sicher ist, dass er in einer Art Tourismusbranche tätig war: Eine Zeit lang kamen Soldaten der Freien Syrischen Armee nach Saatari quasi auf Urlaub. Dazu musste natürlich ihr Transport von Syrien nach Jordanien und zurück organisiert werden. Außerdem ihr Aufenthalt im Lager. Hussein sorgte dafür, dass sie einen kostenlosen Haarschnitt bekamen und es ihnen auch sonst an nichts fehlte. Fragen nach den anderen Geschäften beantwortet er immer so, dass es alles und nichts bedeuten könnte. Als Flüchtling sei man auf die Hilfsorganisationen angewiesen, sagt er. „Sie versprechen dir Eier und du sitzt zu Hause und wartest auf deine Eier, aber die kommen vielleicht nie.“ Er habe sich eben Hühner besorgt und die legen jeden Tag Eier für ihn. Viele Nachfragen sind nötig, um herauszufinden, dass sein letztes Treffen mit der Campleitung schon einige Wochen zurück liegt. Sie laden ihn einfach nicht mehr ein. Da wird klar, dass sein Schreien auch ein Ausdruck einer weiteren Hilflosigkeit ist. Rund um das Lager ziehen sich jetzt ein Graben und drei Wälle. Lastwagen, die Schmuggelgut transportieren könnten, kommen da nicht mehr durch. Alle Plätze an der Marktstraße sind verkauft, an anderen Straßen eröffnen die Flüchtlinge ohne Immobilienmakler ihre Stände. Das Chaos wendet sich langsam in Ordnung. Je mehr Hussein versteht, dass Schreien allein nicht hilft, desto lauter wird er.
Ein Gang über die Champs-Élysées an einem Donnerstagabend. Staub und Rauch gegrillter Hühnchen vermischen sich zu einem Dunst, der in den Augen beißt. Beim Friseursalon riecht es nach Shampoo, bei der Bäckerei von Ibrahim Tar nach frischem Brot, 700 Stück backen er und sein Bruder jeden Tag. Und dann duftet es nach Kardamom und Kaffee, den Amen Hawili mahlt. Die Elektroleitungen über den Köpfen der Händler sehen aus, als habe jemand viele Knäuel Garn ausgerollt und dann verknotet, der Souk allein verschlingt 30 Prozent des Energieverbrauchs des Lagers. Neben den Masten flattern syrische Fahnen, auf denen „Freiheit“ steht.
Als Besucher ist es einfach, zu vergessen, dass sich diese Straße in einem Flüchtlingslager befindet. Drei Läden bieten Brautkleider zum Verleih, eine Mutter führt ihre Tochter an der Hand zum Juwelier, um goldene Sternenohrringe umzutauschen, da die Enden piksen. Ein Supermarkt ist aus so vielen Caravans zusammengeschweißt, dass man sie nicht mehr zählen kann. An der Kasse piepst ein Scanner und ein Lastwagen liefert stapelweise Kisten mit tiefgefrorenen Halal-Hühnchen aus den USA, Fisch aus Patagonien und Joghurt aus Jordanien.
Im Schein einer nackten Glühbirne arbeitet Mohammed, den alle das „Genie“ nennen. Er kam mit nicht viel mehr als einem Schraubenzieher nach Jordanien. Saataris Bewohner haben schnell herausgefunden, dass er kaputte Fernsehgeräte wieder zum Laufen bringen kann. „Ich muss arbeiten“, sagt er, „ich habe doch sonst nichts mehr.“ Sein Haus in Syrien ist zerstört, sein Schwiegersohn und seine Enkelin wurden beim Angriff der Regimetruppen massakriert. Minutenlang fegt Mohammed stumm Staubkörner von einem Bildschirm, dann sagt er kaum hörbar: „Sobald Assad fällt, kehre ich zurück.“
Die Flüchtlinge vergessen niemals, wo sie herkommen, und wo sie wieder hin möchten. Doch irgendwann haben sie eingesehen, dass es für sie bis auf Weiteres kein Zurück gibt. Auf dem sandigen Boden rühren Bewohner Zement an und setzen Mauern zwischen sich und ihre Nachbarn. Zement lässt sich nicht so schnell niederreißen. Längst gibt es eine Unterhaltungsindustrie, Billard-und Schönheitssalons, mehrere Computerspielläden, in denen Trauben von Jungs, die noch nicht mal halbwüchsig sind, jeden toten Gegner beim „Counter Strike“ feiern. Im Sommer hatte ein Streetleader einen kleinen Pool eröffnet. Die jordanische Polizei hat ihn geschlossen aus Sorge um die Hygiene.
Kilian Kleinschmidt findet, diese Schließung sei ein Skandal. Er ist der Camp-Manager. Der massige Mann mit brauner Haut und grauen Haaren nennt sich selbst „Bürgermeister von Saatari“, alle anderen sagen „Mister Kilian“. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat ihn nach Jordanien geschickt, weil er als Mann gilt, der den Weg aus dem Chaos kennt. Er hat schon viele Flüchtlingslager geleitet. In Pakistan, in Afrika, in Sri Lanka oder im Kosovo. Ein Deutscher, der für Ordnung sorgen soll – natürlich. Sein Job ist es, die Hilfsorganisationen zu koordinieren, im Camp Strukturen zu schaffen, Essen, Container und Wasser zu beschaffen, Ratten zu vertreiben. Und zu Hause in Berlin warten Frau und Kinder.
In das Konzept von Kleinschmidt passt alles, was das Lager einer Stadt ähnlicher macht. Gemeinsam mit der jordanischen Polizei toleriert er es, wenn trotz des Verbotes jeden Tag Lastwagen und Schubkarren mit Waren in das Lager rollen. Er freut sich über die blinkenden Neonschlangen an den Geschäften, die Blumenverzierungen, die Graffi ti-Werbung für die Kräuterdoktoren. Er findet es auch in Ordnung, dass die Flüchtlinge die Caravans, in denen sie eigentlich wohnen sollen, untereinander verkaufen. Die Caravans sind Spenden aus den arabischen Ländern, „Eine Gabe des kuwaitischen Volks“ steht zum Beispiel darauf. Kleinschmidt erklärt dem kuwaitischen Volk sehr gern, dass es gut ist, wenn aus der Gabe ein Dönerladen wird.
Weil Kleinschmidt schon eine Weile in den Flüchtlingslagern dieser Welt unterwegs ist, formuliert er seinen Leitsatz auf Englisch: „Play game and you are in, play foul game and you are out.“ Über einen wie Abu Hussein, den undurchschaubaren Boss von drei Distrikten, sagt Kleinschmidt, er sei ein typischer Emporkömmling, den das Chaos an die Oberfläche gespült hat. So einen kann er in seinem System der Ordnung nicht gebrauchen.
Der Campleiter ist ein Mann mit Brummstimme, die durch die flirrende Hitze des Lagers rollt wie Brandung an einen Strand. An diesem Tag hat ein Botschafter aus einem der arabischen Geberländer, wo die meisten Spenden herkommen, seinen Besuch angekündigt -, und Kleinschmidt hat keine Lust, ihm über den Weg zu laufen. Also stemmt er die Hände in die Hüfte und verabschiedet sich demonstrativ zu einem Spaziergang durch das Lager. Ein bisschen kokett macht er das und so, dass jeder es bemerkt. Allen ist klar: Ein Kilian Kleinschmidt kuscht nicht, wenn ein Botschafter kommt. Saatari begeistert den Deutschen und es treibt ihn in den Wahnsinn. Faszinierend findet er, dass das Camp innerhalb von eineinhalb Jahren „Lichtjahre“ an Entwicklung durchgemacht hat. „Aber es macht mich fertig, dass das alles überhaupt nicht reguliert ist.“ Nach über einem Jahr im Camp hat er zwar schon einen Lieblingshändler für gebratenes Hühnchen, aber er weiß immer noch nicht, wer hier wem Schutzgeld bezahlt. „Leute wie Abu Hussein wollen verhindern, dass man auch nur ansatzweise versteht, was hier los ist.“ Die Preise auf der Souk werden künstlich hoch gehalten, sagt Kleinschmidt. Obst und Gemüse im Flüchtlingslager sind teurer als in der nahen Stadt Mafraq.
Sein Rezept gegen das Chaos sind Strukturen. Er hat das Lager in Distrikte eingeteilt und schafft nun noch kleinere Einheiten, die Compounds. An seiner Seite arbeitet ein australischer Elektroingenieur, der ein System mit elektronischen Sicherungen austüftelt, das es den Flüchtlingen erlaubt, eine bestimmte Menge Strom zu verbrauchen. Den Rest sollen sie bezahlen. Städteplaner aus Amsterdam helfen dabei, dass Saatari einer Stadt ähnlicher wird – mit Schulen, Grünflächen, Bezirksverwaltungen und Bürgerteilhabe. Die Straßen sollen irgendwann Namen statt Nummern tragen. Kleinschmidt möchte ein Schweizer Wirtschaftsforschungsinstitut bitten, ihn zu unterstützen, den wuchernden Markt von Saatari zu kontrollieren und die Preiskartelle zu bekämpfen. „Man hat die Freiheit und das Recht, Handel zu betreiben, muss aber der Gemeinschaft etwas zurückgeben.“ Steuern im Flüchtlingslager.
Kleinschmidt sagt, sein Plan sei es, einen Rahmen zu schaffen. Man kann sich vorstellen, der deutsche Campleiter habe ein Netz über Saatari ausgeworfen. Nun zieht er es immer weiter zusammen, die Maschen werden kleiner. Er weiß noch nicht, wann er es eng genug gezogen haben wird. „Wir werden in der Lebensspanne dieses Lagers sicherlich nicht so weit kommen, dass jemand bestraft wird, weil er ein Kaugummi auf den Boden spuckt.“ Alles andere ist offen.
Es gibt eine Organisation, die liefert die Zahlen zu den Strukturen von Kleinschmidt. Die französische Nichtregierungsorganisation Acted ist hier zuständig für alles, was Organisation braucht: Wasserversorgung, Müll-Management und Hygiene. Sie sammeln Statistiken und bannen sie auf Karten des Camps mit bunten Kreisen und Balkendiagrammen. Kürzlich hat Acted eine Studie vorgelegt, die sich mit der wirtschaftlichen Situation der Flüchtlinge beschäftigt. Die wichtigste Erkenntnis: 20 Prozent der Bewohner leben allein von dem, was ihnen die Hilfsorganisationen zur Verfügung stellen und von ihrem Ersparten. Alle anderen verdienen auf die eine oder andere Art Geld. Die meisten gaben an, sie würden auf dem Markt Produkte verkaufen oder sich als Wachmann oder Reinigungskraft bei einer der Hilfsorganisationen verdingen. Einige verdienen an die 1.000 Euro pro Monat, der Durchschnitt liegt bei 218 Euro. Durchschnittlich geben die Flüchtlinge 306 Euro pro Monat aus. Acted hat auch die Läden im Camp genau untersucht. Sie zählten insgesamt 685 Geschäfte, darunter 128 Gemüseläden, 35 Bekleidungsgeschäfte, zwölf Schönheitssalons, sieben Wechselstuben und zwei Schmiedewerkstätten. Die Inhaber, so Acted, erwirtschaften sehr geringe Gewinnmargen. Schuld sind hohe indirekte Kosten, also Mieten, Geschäftslizenzen, unter Umständen auch Schutzgelder.
In einem dieser Bekleidungsgeschäfte an der Champs-Élysées schlendert eine Kundin zwischen den Kleiderstangen umher. Der Laden ist gut geordnet, rechts hängt die syrische Mode, links die jordanische. Die Kundin geht nach rechts und fährt mit ihren Fingern über ein schwarzes Kleid, über und über mit Strasssteinen bestickt. Es ist das teuerste Kleidungsstück im Laden, 26 Euro kostet es. Die Verkäuferin Ahed tritt heran. Die beiden reden ein paar Minuten. Die Kundin wendet sich ab und läuft die Kleiderstangen entlang. Noch einmal kehrt sie zum schwarzen Kleid zurück. Ahed schüttelt den Kopf, die Kundin verlässt den Laden ohne Einkauf. 21 Euro wollte sie für das Kleid bezahlen. Ahed hatte ihr einen Euro Rabatt angeboten. „Mehr ging wirklich nicht, wir machen ohnehin nur vier Euro Gewinn pro Kleid.“
„Wir“ – das ist die Familie von Abu Wael, Aheds Schwiegervater. Die Familie betreibt außerdem einen Supermarkt am Souk. Von ihm würde niemand Schutzgeld verlangen. Denn Abu Wael spricht für mehrere Clans, wenn es Streit gibt, ruft ihn der Sicherheitschef des Lagers nachts an und bitte um Hilfe. Abu Wael ist quasi der neue Abu Hussein, genauso mächtig, nur ein bisschen fülliger, mit einem gütigen Großvatergesicht, und er liebt die Ordnung mehr als das Chaos. Er trägt eine blütenweiße Ghutra, die arabische Kopf bedeckung, manchmal streicht er mit bedächtigen Bewegungen über das Tuch. Eigentlich macht Abu Wael so ziemlich alles langsam.
Kilian Kleinschmidt sagt über Abu Wael, auf Leute wie ihn werde er in Zukunft setzen. Die Menschen im Flüchtlingslager haben nun andere Probleme als zu Beginn. Sie kämpfen nicht mehr ums Überleben, sie streiten um den Platz ihres Caravans, beschuldigen sich des Diebstahls, zapfen sich gegenseitig das Wasser ab. Ein Schreihals wie Abu Hussein kann diese Probleme nicht lösen.
Abu Wael war schon in Syrien ein Clanchef mit Einfluss. Im Flüchtlingslager Saatari tauchte er zunächst unter. In seinem Heimatdorf hatte er einen Innenhof mit Brunnen, einen „Empfangssaal“, da passten 900 Menschen rein. Als er in Jordanien in einem Zelt landete, fiel er in eine Art Schockstarre. Als Kilian Kleinschmidt begann, Strukturen zu schaffen, fand auch Abu Wael wieder zu alter Stärke zurück. „Wie Phönix aus der Asche“, sagt Kleinschmidt.
Ein paar Tage zuvor haben sich zwei Männer geprügelt, weil einer seinen Caravan verrücken wollte. Danach musste bei einem der beiden eine Kopfwunde mit 19 Stichen genäht werden. Wael vermittelte zwischen den beiden Familien und „verurteilte“ den Clan des Angreifers zu einer Geldstrafe von 2.600 Euro. Er wird auch manchmal auf den Souk gerufen, wenn sich Geschäftsleute in die Haare kriegen. „Es ist wie mit einer Waage. Man nimmt etwas von einer Seite und versucht, das Gewicht auszugleichen. So nähere ich die Meinungen einander an“, sagt er. Zum Abschluss seiner Vermittlungen verlangt er immer, dass sich die Kontrahenten die Hände reichen. Ein paar Unverbesserliche, die nicht auf ihr Messer in der Hosentasche verzichten wollen, hat er des Lagers verwiesen. Diplomaten wie Wael sorgen dafür, dass die Ordnung langsam über das Chaos siegt.
Im Flüchtlingslager ist es inzwischen dunkel geworden. Die Hitze des Tages hat sich zurückgezogen, die Menschen strömen auf die Champs-Élysées. Abu Hussein hockt in seinem Caravan und brüllt: „Ich bin der Feind Nummer eins für die Hilfsorganisationen!“ Kilian Kleinschmidt sitzt an seinem Schreibtisch. Im Bekleidungsgeschäft von Abu Wael verkauft Ahed nun doch noch ein Kleid. Die Bäcker holen die dampfenden Brote aus den Öfen, das „Genie“ Mohammed flickt eine zerbrochene Platine, beim „Counter Strike“ rattern die Maschinengewehre. An einer Ecke steht ein Eisverkäufer und ruft: „Syrisches Eis, originales und bestes syrisches Eis!“ Statt Milch benutzt er Milchpulver, und er rührt es mit jordanischem Wasser an. Die Menschen kaufen es trotzdem. Für sie schmeckt das Eis nach Heimat.
FLUCHT
50 Mio. Menschen weltweit waren Ende 2013 auf der Flucht, die Hälfte davon sind Kinder
2,5 Mio. Menschen wurden allein durch den Syrienkrieg zu Flüchtlingen. 6,5 Millionen Menschen zu Binnenvertriebenen
86 % der Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern. Pakistan, Iran und der Libanon haben die meisten Flüchtlinge weltweit aufgenommen
1,1 Mio. Menschen stellten im vorigen Jahr weltweit einen Asylantrag, die Mehrzahl von ihnen in Industriestaaten
77.109 Asylanträge wurden 2014 in Deutschland gestellt, 16.064 davon wurden positiv beschieden. Die meisten der Antragsteller kommen aus Syrien, Serbien und Afghanistan
414.600 Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr in ihr Heimatland zurückgekehrt
Quelle: UNHCR-Jahresbericht Global Trends