Eine Flut neuer Bücher zum 40-jährigen Jubiläum der ewig jungen
Im Herbst 1965, „Get Off Of My Cloud“ toppte gerade die Charts, ihr fünfter Number-One-Hit in Folge, waren die Rolling Stones mal wieder ungern gesehene Gäste bei der alten Tante BBC. Und wurden gefragt, wie im Jahr davor und im Jahr danach, wie lange dieser Karriere als lärmende, pöbelnde Bürgerschrecks noch Erfolg beschieden wäre. Mick Jagger meinte, das hänge von der Entwicklung der Gesellschaft ab, nicht von den Plänen der Stones. Und Keith Richard (ohne s) sagte schüchtern: „Look, wir sind jetzt schon drei Jahre dabei. Das sind zwei mehr, als wir ursprünglich für möglich hielten. Warum sollten wir es nicht drei weitere schaffen?“ Das nenne er gesunden Optimismus, lobte der BBC-Onkel gönnerhaft. Immerhin sei das ein Vorrecht der Jugend. Er wünschte „good luck“ und „ein wenig mehr Augenmaß beim Stutzen der Haarpracht, ho ho“.
Ob der gute Mann heute noch lebt, wissen wir nicht. Aber er wäre wohl damals schon tot umgefallen, hätte man ihm den Blick in eine Kristallkugel gewährt mit ein paar Schlagzeilen des Jahres 2002. „The Billion Dollar Band“ etwa. Zu finden unter dem Konterfei von Mick ’n’Keith, auf dem Cover von „Fortune“, dem Zentralorgan für Geldsäcke und solche, die es werden wollen. Oder, schlimmer noch: „Mick Jagger on Queen’s honours list“. Sir Mick! Die gesamte Belegschaft der British Broadcasting Corporation wäre einem kollektiven Schlaganfall erlegen. Wie hatte der 22-jährige Rabauke formuliert: „It s all down to the development of society.“ O tempora o mores.
Es sind Geschichten wie diese, es ist die Kluft zwischen bescheidensten Anfangen als rotznasige Blues-Adepten und ihrer heutigen Rolle als Rock-Aristokraten und Tour-Magnaten, von denen die meisten Bücher leben, die anlässlich des 40. Band-Jubiläums derzeit auf den Markt geworfen werden. In diesem Jahr derer schon 22: Bios, Exegesen, Foto-Folianten, Skandal-Chroniken. In allen Preisklassen, von neun bis 900 Euro. Der Hardcore-Fan wird sie alle kaufen, lesen und mit den hunderten anderen Stones-Bänden horten, die über The World’s Greatest Rock’n‘ Roll Band bislang publiziert wurden. Den restlichen, laueren Interessenten seien drei Bücher anempfohlen, die sowohl inhaltlich wie literarisch unterschiedlicher nicht sein könnten, die aber einen eigenen, durchaus gewichtigen Beitrag zur Pophistorie leisten. Und die Zeit verkürzen, bis Mitte nächsten Jahres die „offizielle“ Festschrift vom Stones-Camp veröffentlicht wird. So hört man aus gut unterrichteten Kreisen. Skepsis scheint da indes angebracht. Der Trägheitsfaktor in größeren Unternehmen, you know.
Die wichtigste Neuerscheinung ist natürlich Bill Wynians „Rolling With The Stones“ (Dorling Kindersley, ca. 50 Euro). Kolportagen aus dem Inner Sanctum. Des Bassisten erstes Buch aus Erinnerungen und Abrechnungen, „Stone Alone“, war ja eher ungnädig aufgenommen worden. Zu buchhalterisch sei die Schreibe, monierten etliche Kritiker, meinten damit aber den inzwischen verstorbenen Ray Coleman, dem Wyman die Fakten übereignete und das Formulieren überließ. „Boring“, urteilte Mick Jagger, der in Bills Band-Memoiren freilich nicht besonders gut wegkam und überdies gestand, das Buch nur in Auszügen gelesen zu haben.
Diesmal dürfte er weniger auszusetzen haben. Der Ton ist kulanter, die Faktenhuberei unterhaltsamer, weil Wyman auch dann noch mit dem Degen feiner, wenngleich spitzer Ironie ficht, wenn es um hochsensible Konstellationen geht. Die kreative Hegemonie der Glimmer Twins etwa, Brians trauriger Niedergang, die tragende Rolle des nie klagenden Ian Stewart, Bills zahllose Betthüpfer und seine mannigfachen persönlichen Probleme mit Keith. Von der Kindheit im Krieg bis zur Trennung von den Stones in Frieden: Wyman befleißigt sich löblicher Faimess, ohne sich um klare Statements zu drücken. Nicht fehlerfrei, der Teufel steckt im Detail, aber attraktiv aufgemacht und ein ideales Weihnachtsgeschenk.
Andrew Loog Oldhams „2-Stoned“ (Secker & Warburg, ca. 30 Euro) ist intimer, infamer, irritierender. Ein veritables Füllhorn skurriler und surrealer Anekdoten, „alle wahr“ (Oldham) natürlich, viele jedoch „literarisch ausgepolstert“ (Oldham). Die Erinnerungen des kultivierten Egozentrikers beginnen 1964, an jener Stelle also, wo „Stoned“, der erste Teil der Bio, aufgehört hatte. Im selben Duktus: farbig, frivol und sprachverliebt. Die Stones stehen zwar im Zentrum der stets amüsant erzählten Reminiszenzen, wobei Jagger und Jones oft Oldhams Häme und Hass zu spüren kriegen, Wyman und Watts viel Wohlwollen und allein Richards Respekt und Zuneigung (die Abfertigung von Billy Joel in Keef-Manier ist köstlich). Doch darüberhinaus verspritzt der grandios gescheiterte Selfmade-Tycoon auch Gift und Galle über andere Zeitgenossen: Scott Walker, David Crosby, John Lennon, Brian Wilson. Keiner kommt hier ungeschoren davon. Der dritte Part ist in Arbeit, Titel: „Stone Free“.
Chris Salewicz gehörte nicht zum erlauchten Kreis der Insider, seine Biografie „Mick & Keith“ (Orion, ca. 35 Euro) baut auf haarkleine Recherche, also Quellenstudien, Sekundärliteratur und Gespräche mit Zeitzeugen. Wie der Buchtitel schon insinuiert, zäumt Salewicz seine Thesen und Theorien an den beiden Leithengsten auf. Er entwirft Psychogramme („the rockgod syndrome“), hinterfragt Mythen („the Stones became by default the top group of the world“) und suhlt sich in tausend Skandälchen, zumeist auf Micks Rücken: Jagger waited, then seduced the 17-yearold-daughter of one of Bianca’s boyfriends.“ Alles lebensnah geschildert, als wäre der Autor eine Fliege an der Wand von Jaggers Schlafzimmer gewesen. 4000 Licks, mindestens.
Derweil die Stones selbst in Los Angeles grinsend am Catwalk stehen, auf dem jugendliche Babes das jüngste Baby der Rolling Stones Unlimited paradieren: die Rolling Stones Fashion Collection. Im Zeichen der Zunge. Ziemlich zickig, Modell sexy Schlampe. Nur wenige Meilen entfernt steht Bob Dylan auf der Bühne und verbeugt sich auf seine Weise vor den Jubilaren, über deren Hits-Compilation „40 Licks“ der Londoner „Observer“ schrieb: „This is the Bible and Shakespeare of rock’n’roll“. Seine Bobness hat wie zur Bestätigung „Brown Sugar“ seinen Segen erteilt. Ausgerechnet. „How come you taste so good/ Just like a young girl should.“ Die Alten forever young. Like it was 1965 again.