Eine erfreuliche Ausnahme unter den deutschen Bands: Sun aus Mönchengladbach spielen Rock für Neurotiker
Sicher ist nur, daß es in Mönchengladbach neben einem Fußballverein noch einen Club aus belesenen, intellektuellen Neurotikern gibt, in dem sich Jörg Schröder zu Hause fühlt Er hat einen Sohn, geht zur Uni und steht manchmal bis nachts um zwei im Proberaum. Das ist eine ganze Menge, da will man sich nicht noch um den Stellenwert des Deutschrock kümmern. Musiziert wird reflektiert unreflektiert. „Wenn ich einen Text für eine Melodie suche, dann warte ich, bis die Musik ihn aus mir herausinspiriert hat“, sagt Schröder, der eigentlich pausenlos nachdenkt, nur eben nicht über das, was die eigene Musik bedeutet. In einem kleinen Hotelzimmer sitzt er an einem Ecktisch, der 50 Quadratzentimeter Fläche hat, kurbelt sich dünne Zigaretten und gibt dabei kluge Tips gegen Kopfschmerzen. Kein Wunder also, daß ihn seine Band-Kollegen für prädestiniert halten, Interviews zu geben.
Schröder weiß nach jedem „so ist es“ ein „aber“, so sicher, wie auf dem neuen Sun-Album „M/ro“auf donnernde Hymnen einschmeichelnd Balladeskes folgt – Hauptsache, nie wieder 18! Schröders Hund starb, die Freundin verließ ihn, seine Freunde vergaßen seinen Geburtstag. Seitdem gilt für ihn der Grundsatz: die Mär von der glücklichen Jugend zurechtrücken und nicht jedesmal gleich klingeln.
„Nitro“ ist eingespielt auf Instrumenten, die zum Teil aus den frühen 60ern stammen; das ist gut für die Musik und schlecht für das Image. Aber wen stört das schon? Sun – ein rheinisches Rätsel. Mittlerweile entstand die fünfte Platte der Rock-Band, die wie eine Pop-Gruppe klingt, dicht, überschäumend vor Stil- und Gefühlsvielfalt, wütend, versunken, elegisch, nachdenklich und nicht besonders optimistisch. Sie heißt so wie der l6minütige Song ziemlich am Ende des Albums, auf dem der einfache Geist explodiert – „easy mind explosion of a nitroglycerine head“. Nur weil Schröder nett ist, ist er noch lange kein Menschenfreund.
Seit Jahren spielt er mit Ralf Aussem zusammen, fand Bassisten und verlor sie wieder und lernte mit der Zeit weder Kitsch noch Ernst zu fürchten, und dumme Menschen sind sich selbst zu überlassen. Er bekennt sich entspannt zum Ego und dazu, kein ambitionierter Pop-Poetiker zu sein: „Wenn ich wirklich schreiben will, würde ich ein Buch schreiben.“ Das Wichtigste ist die Musik selbst – die unprätentiöse Haltung ließ aus der Band mit der Zeit eine verschworene Gemeinschaft werden, die in Produzenten wie Moses Schneider (Gum, Rausch) und Toningenieur Peter Schmidt (Selig, Jeremy Days) ihre Fans fand. Sie haben die neue Platte veredelt, das anarchistische, das unmittelbare und das soziale Moment des Sun-Sounds poliert. Und verstanden, daß sich die Band nichts Geringeres vorgenommen hat, als eine eigene Kategorie zu schaffen.
In der vor allem auffallt, daß Aussem, Schmidt (Baß) und Skowronek (Drums) ihre Instrumente deutlich virtuoser spielen könnten, als sie es tatsächlich tun. Schröder vor allem ist der Band-Dilettant, der einst den Baß wieder abgab, weil Saiten zupfen und gleichzeitig singen ihm viel zu kompliziert wurde. Dann hätte er üben müssen, und damit kann er sich nicht anfreunden. Schröder entdeckt ein Instrument, probiert es, und bevor es anfängt, ihn zu langweilen, traktiert er es, malträtiert er es, was beim Song „Accelerator“ in einem grandiosen Pocket-Klarinetten-Solo gipfelt „Ich nenn das undidaktischen Jazz“, sagt der „Spezialist für käsige Melodien“ (so das Eigenlob) – und fährt fort, die Unterschiede zwischen reich und arm, ehrlich und verlogen zu erklären. Warum gibt es Musik? Ist die politische Haltung von Pop-Artisten nur ein kommerzieller Faktor? Gibt es „ehrliche Rockmusik“?
Schröder weiß immerhin soviel: „Ich kann nicht lügen – und ich glaube nicht, daß der Ehrliche der Dumme ist. Ich glaube eher, als ehrlicher Mensch hat man doch eine viel stärkere Position. All diese Karrieristen können gewiß so mal eben in Paris frühstücken, aber die Männer sind versoffen, die Ehen zerrüttet, die Kinder sind neurotisch, und in den Abschiedsbriefen beschweren sie sich dann darüber, daß ihre Eltern sie nur belogen haben. Leute aus einfachen Verhältnissen haben auch einen Vater, der ein Arschloch ist, aber das ist nicht zu übersehen.“ Moral, Bescheidenheit, Größenwahn. Wahrscheinlich gibt es kaum eine deutsche Band, bei der sich die drei Attribute sympathischer zu so komplexer Rockmusik vereinen. Vor drei Jahren mußte Schröder sich noch zum „Grunge“ und im Habitus ähnlichen Bands wie Soundgarden verhalten. Damals schnitten Sun im Vergleich gar nicht schlecht ab, und Schröders Schwarzseherei, sein niederrheinischer Pessimismus paßten auch ganz gut zum Zeitgeist.
Aus der Karriere ist bisher trotzdem nichts geworden, und die Zeiten sind dunkler noch. Bei dem kleinen Metal-Label Gun sind sie zwar die beste Band, aber natürlich auch der Außenseiter. Nur, warum müssen sie eigentlich Sun heißen?
„Gewissermaßen sagt ‚Sun‘ rein gar nichts. Nicht über Stil, Sound oder Originalität, nicht über Geschlecht oder politische Ausrichtung,“ meint Schröder, „und genau das hat uns gefallen.“