Ein schwerer Junge
Ludwig Lugmeier: Vom Gangster zum Literaten
Eigentlich wollte der junge Ludwig Lugmeier, fasziniert von Piraten- und Abenteuerromanen, nur raus aus seinem vermufften oberbayrischen Dorf, doch dann wurde aus dem Abenteurer ein gesuchter Schwerkrimineller, ein arbeitsverweigender Häftling – und schließlich ein Literat. Im Schreiben fand er endlich die Möglichkeit, die magischen Phantasien seiner Kindheit auszuleben. Mit „Der Mann, der aus dem Fenster sprang“ erscheint nun seine sprachmächtige Autobiographie Gesucht wird wegen bewaffneten Raubes auf Geldtransport (Beute 1 Mill. DM) der aus der Haft entwichene Untersuchungsgefangene Ludwig Lugmeier…“ – so steht es in einem Steckbrief aus dem Jahr 1976. Und immerhin 10 000 DM war die Frankfurter Staatswaltschaft damals bereit demjenigen zu zahlen, der „Angaben über den Aufenthaltsort des Lugmeier machen“ könne. „Des Lugmeier“! Noch der ungelenken Kriminalistenprosa glaubt man fast die Verärgerung der Behörden ablauschen zu können: Lugmeier hatte sich mit einem ebenso banalen wie spektakulären Sprung aus dem Fenster des Gerichtsgebäudes dem Gesetz entzogen. Ein Bubenstück erster Güte, das ihm in der Öffentlichkeit einige Popularität eintrug. Ich könnte durchaus Angaben über seinen Aufenthaltsort machen, denn ich bin zum Kaffee mit ihm verabredet, in seiner Berliner Wohnung. Dummerweise ist Lugmeiers Akte längst geschlossen. Er hat seine Haftstrafe – 12 lange Jahre – abgesessen, einen festen Wohnsitz, ist akkurat polizeilich gemeldet, und auch wenn es mit dem bürgerlichen Beruf nicht ganz geklappt hat – eine Zeitlang tingelte er als Märchenerzähler durch Schulen, jetzt verdingt er sich schon eine Weile als Schriftsteller -, hat der Bewährungshelfer längst seinen Lieblingsstempel „top-resozialisiert“ auf Lugmeiers Karteikarte gehämmert.
Aber die Anarcho-Attitüde pflegt er schon noch. Seine Räuberhöhle, die er lächelnd als „Müllhalde“ bezeichnet, starrt vor Dreck und ist eher spärlich eingerichtet mit Trödelmobiliar, Tisch, Korbstuhl, Sofa, Schreibtisch und vollen Bücherregalen, die offenbar völlig willkürlich, mithin gar nicht sortiert sind. Horckheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ steht bei Rolf Dieter Brinkmanns Collagenbuch „Rom, Blicke“, daneben ein Band der Reformations-Geschichte Leopold von Rankes und Leisegangs Darstellung der Gnosis, dann Schriften Ernst Jüngers und Elias Canettis… Das macht den Eindruck, als wohne er hier nur vorläufig, als müsse er immer noch jederzeit schnell abtauchen können. Ein paar Stunden später, am Ende unseres Gesprächs, räumt er den kompletten gebundenen Brockhaus vom Regal, stapelt ihn in eine Sporttasche. Den habe er einer Freundin versprochen, die er heute abend in ihrer Wohnung bekochen wolle. Er habe keine Verwendung dafür. Und als wir dann in seinem Auto sitzen – um die Spesenrechnung zu drücken, bringt er mich noch zum Bahnhof-, erklärt er noch, er schmeiße das alles weg, wenn er mal wieder umziehe, und kaufe sich für ein paar hundert Euro neue Möbel bei eBay. Und die Bücher gehen zum Antiquar. „Ich denke mir immer, man müßte mit 200, 300 Büchern auskommen.“ Wer jemals mit einer Bibliothek umgezogen ist, wird ihm da rechtgeben.
Jetzt bietet er mir aber erst mal einen Platz an – den Korbstuhl! – , seine alte Katze „Krümel“ flüchtet vorsorglich aus dem Raum. Sie sei „fremde Menschen“ nicht gewohnt, sagt er und fragt, ob wir „vorher Kaffee trinken“ wollen – „oder später“. Man merkt es ihm an, daß er erst mal seine Arbeit machen möchte.
Als ich ihn frage, wie es so einen Erzbayern wie ihn ausgerechnet nach Berlin verschlagen konnte, lacht er. „Was heißt hier Erzbayer, ich bin seit vierzig Jahren weg von dort.“ Und weg heißt bei Lugmeier wirklich weg. Die gerade bei Kunstmann erschienene Autobiographie seiner ersten 28 Jahre – „Der Mann, der aus dem Fenster sprang“ – liest sich denn auch wie eine Odyssee. Er trieb sich herum, zunächst als Seemann und später dann als weltweit gesuchter Schwerverbrecher, hielt sich mal kürzer, mal länger in Italien, Ghana, der Türkei, Afghanistan, Iran, Spanien, in England, Mexiko, erneut England, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Brasilien und Island auf. Etwa in dieser Reihenfolge! Trotzdem hört man ihm seine Provenienz immer noch unverkennbar an, diesen typischen bajuwarischen Sprachhabitus. „Aber bewußt ist das nicht. Ich merke einfach, daß es sich für mich so am bequemsten sprechen läßt. Und ich habe gemerkt, daß der richtige Dialekt sehr schnell wiederkommt, wenn man mal wieder zu Besuch ist dort. Ich bin vor ein paar Jahren mal für acht Tage in Bayern gewesen, und dann auf der Rückweg von München nach Berlin habe ich angefangen, bayrische Gedichte zu schreiben, die waren auf einmal da.“ Daraus hat er dann das Buch „i“ gemacht. ,Ja, das ist auf der Autobahn entstanden.“
Auch in seiner Prosa spielt diese Herkunft, das obrigkeitshörige, bildungsferne, enge, vermuffte oberbayrische Dorfmilieu, eine entscheidende Rolle nicht zuletzt als Nährboden für eine brutale, reaktionäre, antisemitische Gesinnung, die auf so einen wie Hitler nur gewartet hat. Sein erster Roman „Wo der Hund begraben ist“ (Stroemfeld/Roter Stern) handelt davon, ist eine in der Weimarer Republik beginnende, vor allem aus der Perspektive eines Knechts erzählte Abrechnung mit diesem verhaßten Soziotop, vor dem Lugmeier seit vier Jahrzehnten auf der Flucht ist.
Sein neues Buch schließt hier nahtlos an. Bevor man zur eigentlichen, mit Verve vorandrängenden Gangster-Autobiographie vorstößt, liest man zunächst erst mal eine lange Strecke lyrischer, schwermütiger, sprachlich beeindruckender Reminiszenzen an die frühe Kindheit, die in ein geheimnisvolles, nicht selten auch unheimliches Licht getaucht ist. Die Menschen hier sprechen in Zungen, haben ein Ventil im Bauch oder können ein Auge herausnehmen. Er erzählt auf Augenhöhe des Kleinkindes, tut dies aber in der Sprache des Literaten, der hier einmal mehr das Idiom des bayrischen Dorfes, die dialektalen Spezialitäten, die bäuerliche Fachsprache etc. sehr genau einfangt. Dieses erste Drittel des Buches ist ganz offensichtlich stärker literarisch durchgearbeitet. „Das hängt mit der Schnelligkeit zusammen“, stimmt er mir zu, „denn ich beschreibe ein Leben, das sich immer mehr zuspitzt, das immer schneller wird, und da nimmt man auch immer weniger wahr, und in der Rückbesinnung ist es dann auch so, daß man schnelle, lange, große Bewegungen vollziehen muß, während in der Kindheit die Wahrnehmung sehr intensiv ist, auf das Einzelne konzentriert, und in der Erinnerung entstehen dann eben auch die Gerüche oder magisch-animalistische Wahrnehmungen, wie man sie als Kind hat.“
Einen großen Anteil an dieser heidnisch-mystischen Weltsicht hat seine Großmutter Marie Havlitschek, eine etwas wunderliche Kräuterhexe, die voll archaischer Volksweisheiten und Abergläubeleien steckt. Eine Märchenfigur. „Sie ist eine der Gestalten gewesen, die mir sehr intensiv in Erinnerung geblieben sind, bis in die Gerüche hinein. Und sie ist prägend für mich gewesen. Sie stand für eine gebirglerisch-magische Gegenwelt. Eine Außenseiterin. Sie stammte nicht aus der Gegend, hat sich über Wasser gehalten, indem sie mit ihren kleinen Hexereien und anderen Dingen sich etwas dazu verdient hat zu ihrer schmalen Rente, und hat auch einen entsprechenden Bereich der Welt für sich beansprucht, das waren die Wälder, in denen sie herumgestreunt ist, das waren die Müllhalden, in denen sie nach Kupferdrähten gesucht hat. Sie ist auf der einen Seite bei den Leuten gefragt gewesen, wenn sie irgendeinen Rat brauchten, auf der anderen Seite aber natürlich auch abgelehnt worden, weil sie eine Fremde war.“
Das trübe Diesseits vertritt der Vater. Er ist bigott, treudeutsch, fleißig, strohdumm, ein Ex-Nazi, der vom Krieg nichts erzählen will. „Er hat in meiner Kindheit die Rolle gespielt, daß er jemanden darstellte, dem ich nicht entsprechen und dem ich nicht gleichen wollte. Es entstand schon ganz früh in der Kindheit eine Abneigung, die einfach physisch war, ein bestimmter Geruch, bestimmte Gesten, ein bestimmtes Verhalten, und es ist eine unangenehm verdichtete Atmosphäre gewesen, wenn er abends nach Hause gekommen ist. Er hat dann noch ein bißchen im Garten rumgewühlt, Split auf den Weg gerecht, damit der schön ebenmäßig war, seine Zeitung gelesen, die Hausaufgaben angeschaut und darauf geachtet, daß auf den i-s die Pünktchen drauf waren. Ich war froh, daß ich mit ihm nichts mehr zu tun haben mußte. Das war nicht die Gegend, das war nicht das Milieu, das war nicht die Familie, in der ich sein wollte. Die Nicht-Zugehörigkeit war für mich bestimmend.“ Als Kind läßt sich das offenbar noch ertragen, weil gleich dahinter die abenteuerliche Märchenwelt seiner Großmutter einen Rückzugsraum bietet, und als der nicht mehr ausreicht, kommen die Refugien der Literatur hinzu, die Abenteuer- und Piratenromane, die seine Renegatenphantasien befeuern. Aber als dann seine Mutter stirbt und Lugmeier eine Lehre als Maurer beginnen muß, wie sein Vater, die triste Profanität übermächtig zu werden scheint, bricht er aus. Er überfällt eine „Tengelmann“-Filiale, wird schließlich gefaßt, kommt ins Jugendgefängnis, flüchtet von dort (beim Torfstechen!), runter nach Palermo, will zur Mafia und findet sie nirgends. Schließlich fängt er beim Zirkus an, zunächst als Hilfsarbeiter, bald darf er auch mit einem Bären ringen, muß wieder flüchten, hält sich eine Zeitlang über Wasser, indem er nachts in Schlafzimmerfenster einsteigt, und wird nach einer räudigen Sauftour erneut gefaßt, verurteilt und erst mal für eine Weile hinter Gitter gesteckt. Er hat es geschafft! Er hat sein wildes, kindliches Phantasieleben zurück. „Das war natürlich naiv, aber es gab eine große Anziehung von dieser dunklen Seite, dieser Gegenwelt, die hat mich fasziniert. Es war keine Entscheidung, kein bewußter Schritt, sondern es war alles in der Bewegung vorhanden, die ich unternommen habe, und als es eingetreten ist, habe ich mich bestätigt gefühlt. Es gab natürlich einen Punkt, da habe ich gesehen, das Leben, das ich da angefangen hatte, hatte wenig zu tun mit der romantischen Vorstellung davon, dem Traum – es gibt eben immer noch das Realitätsprinzip! Das ist auch der Punkt, an dem ich versucht habe, etwas zu ändern. Ich wollte ja nicht in erster Linie als Gangster Karriere machen, ich wollte weg, ich wollte ein abenteuerliches Leben führen und bin dann gereist, bin zur See gefahren.“
Es geht ihm eben vor allem um die Wiederherstellung einer poetischen Existenz, wie er sie aus seiner Kindheit kennt. Insofern ist seine spätere Schreibpassion, als er eingesehen hat, daß diese Poesie im wirklichen Leben nicht dauerhaft zu haben ist, auch kein Widerspruch zur Sturm-und-Drang-Phase, sondern nur folgerichtig. Beide Lebensentwürfe sind am Ende nichts weiter als eine ins Erwachsenenalter prolongierte Kindheit. Heute schließt er auch nicht aus, daß der Umweg über die Kriminalität möglicherweise hätte verhindert werden können, wenn er in seiner Sozialisation literarisch gefördert worden wäre. Den Wunsch zu schreiben jedenfalls hat er früh. Und auch in seiner aktiven Zeit als Krimineller unternimmt er immer wieder literarische Versuche. Aber selbst in Island, wo er sich auf seiner letzten Flucht niederläßt, um es endlich ernsthaft anzugehen, und wo er wirklich einmal genügend Muße hat, scheitert er noch – und wird dann durch einen unglücklichen Zufall wieder gefaßt. „Ich habe keinen Abstand gehabt zu mir, ich bin so in mir festgefressen gewesen, daß ich auch keine Bilder und Geschichten produzieren konnte, weil meine eigene Geschichte ein ganz dicker Extrakt geworden war, indem ich drin gesteckt habe. Eine Gefängniszelle, die einem auf den Rücken geschnallt ist.“
Erst im Knast kommt er wirklich zur Ruhe und beginnt nun zunächst damit, seine Autobiographie zu schreiben. „Ich habe gedacht, jetzt bist du 27 Jahre alt, jetzt wird es höchste Zeit, und dann festgestellt, ich weiß nicht, was ich über mich selbst sagen soll. Es sind ungewöhnliche Erlebnisse gewesen, aber ich war nicht in der Lage, diese Erlebnisse zu beschreiben. Ich mußte nach meiner Verhaftung jahrelang erst mal Sprachschutt und Sprachmüll wegräumen, hunderte von Seiten, bevor irgendwann einmal ein kleines Gedicht aufgesprungen ist oder erste Sätze, von denen ich das Gefühl hatte, aha, hier sagst du etwas, hier stellst du den Kontakt zur Realität wieder her, hier hast du etwas auf den Begriff gebracht, das faßbar ist. Es entstanden also erst einmal kleinere Texte, Gedichte, es kam auch mal ein kleiner Prosaband heraus.“ Viel später erst fängt er seinen Roman an.
„Ich habe mich jeden Tag hingesetzt, ob es ging oder nicht. Ich habe Phasen gehabt, da habe ich wie ein Wilder geschrieben, und dann waren auch immer wieder Wochen dazwischen, da habe ich mich abgequält und nach einer halben Stunde war nichts mehr da, und was auf dem Papier stand, war nichts wert. Es war gerade in der ersten Zeit ein anstrengendes Schreiben. Denn im Gefängnis sind auch die sinnlichen Eindrücke immer weiter weggewichen. Das ist eine sterile Welt, und ich mußte eine ziemliche Erinnerungsarbeit leisten, um das wiederzufinden, was mal war, was ich damals wahrgenommen habe. Also ich hatte den Wunsch, rostiges Eisen zu sehen. Wie riecht rostiges Eisen? Wie nimmt man das wahr? Oder wie nimmt man den Geruch von Erde wahr, von Wasser, was ist das für ein Geruch? Wie finde ich die Sprache, die Wörter dafür, um all das zu beschreiben? Das war eine anstrengende Suche, nach Bildern, nach Gestalten und natürlich auch eine Suche nach der eigenen Herkunft. Woher stamme ich, was ist das für eine Welt gewesen? Und aus diesem Grund mußte ich in dem Roman sehr weit zurückgreifen in eine Zeit, die vor meiner Geburt lag, bis in die Weimarer Republik, um überhaupt eine Sprache zu finden für diese Atmosphäre, die in meiner Kindheit vorhanden war.“
Aus dem berüchtigten Geldräuber wird ein Schriftsteller, der noch während der Haft zu publizieren beginnt – sogar „Die Zeit“ bringt eins seiner Gedichte. Das klingt alles nach einem Musterbeispiel gelungener Resozialisation. „Die Vollzugsbeamten müßten doch eigentlich stolz auf Sie gewesen sein“, ärgere ich ihn, „und Sie als leuchtendes Vorbild den Mithäftlingen vorgeführt haben.“ Der erhoffte Widerspruch folgt auf dem Fuß.
„Ich glaube, es ist genau das Gegenteil der Fall. Ich mußte mir im Gefängnis erst mal den Freiraum schaffen, um überhaupt schreiben zu können. Denn wenn man ins Gefängnis kommt, ist das nicht so, wie es sich Mark Twain vorgestellt hat, der sich das gewünscht hat, um endlich genügend Zeit zum Schreiben zu haben, sondern da sind Sie in den Alltag eingespannt, da stehen Sie morgens um sechs auf und arbeiten den ganzen Tag, und abends sind Sie müde, da schreiben Sie nichts mehr, da hören Sie noch etwas Radio wie jeder andere auch, der zur Arbeit geht. Ich habe nach drei Monaten gemerkt, daß es so nicht läuft, daß ich so nicht schreiben kann, daß es aber wichtig ist für mich, daß ich, wenn ich nicht schreiben kann, den Knast nicht packe. Daraufhin habe ich die Arbeit verweigert, bin dann den Rest der Zeit ein sogenannter Arbeitsverweigerer gewesen, also genau das, was nicht im Sinn der Resozialisierungsprogramme ist, und diese Arbeitsverweigerung wird natürlich sanktioniert. Man geht die ersten zwei, drei Jahre regelmäßig in Arrest, und erfährt auch so einige Schikanen, gegen die man sich wehren muß, ich bin mal aufs Dach geklettert und habe die Journalisten herbeigetrommelt – also ich bin genau das gewesen, was man einen nichtresozialisierbaren Gefangenen nennen könnte. Und das ist die Voraussetzung für mich gewesen zu schreiben. Und das war auch die Voraussetzung, nach der Entlassung ein anderes Leben anzufangen, und da hat mir, das muß ich sagen, der Staat respektive die Kulturförderung geholfen. Ganz schnell nach meiner Entlassung habe ich ein Stipendium gekriegt, und so ist natürlich so etwas wie eine Resozialisierung zustande gekommen.“ Andererseits sei er schon, als er verhaftet wurde, kein Krimineller mehr gewesen. Er habe nicht das Bedürfnis gehabt, „noch ein Ding zu drehen, noch eins draufzusetzen“, sondern eher ein bürgerliches Leben anfangen wollen, was ihm aber auch nicht so ganz behagte. Und da bot die halbseidene Existenz des Schriftstellers dann einen passenden Ersatz.
Ich komme noch mal zurück auf den offenbar problematischen Schreiballtag im Gefängnis, weil es mich wundert, daß sein literarisches Reüssieren nicht auf irgendeine Weise honoriert worden ist. Er sieht mich an, wie man einen blutigen Anfänger ansieht, und ächzt dann ein wenig, weil er ahnt, daß er weit ausholen muß, um mir das Leben da drin begreiflich zu machen.
„Es ist natürlich wahrgenommen worden. Aber so richtig auch erst, als ich zusammen mit einem Mitgefangenen eine Zeitschrift herausgab. Die Zeitschrift nannte sich ,Haberfeld‘ und war die einzige unzensierte Gefangenenzeitschrift in Deutschland. Wir haben die Artikel herausgeschmuggelt, draußen gab es jemanden, der die Zeitschrift finanziert, der sie gemacht hat, und dann ist sie zum Teil wieder hineingeschmuggelt worden, wurde in den Gefängnissen verbreitet und hat auch draußen eine ziemlich hohe Auflage gehabt. Davon gab es sieben Nummern. Da bin ich wahrgenommen worden, schon aus dem einfachen Grund, weil diese Zeitschrift sich mit dem Gefängnis beschäftigte, mit dem, was in den Gefängnissen geschieht, also zum Beispiel mit Psychiatrie, mit den Selbstmorden und so fort. Und um richtig arbeiten zu können, um die Mechanismen im Gefängnis durchschauen zu können, haben wir uns Geräte reinschmuggeln lassen. Wir hatten ein Tonbandgerät drin, wir hatten Wanzen drin, und wir hatten Fotoapparate, mit denen ich Bilder machte etwa von einem Kroaten, der sehr renitent war und dem daraufhin Neuroleptika gespritzt wurden. Über den habe ich eine Reportage geschrieben, über seine Geschichte, und dann die Bilder dazu, das ist dann auch erschienen in einer Nummer. Und diese Nummer wurde weitergeleitet an die jugoslawische Bot‘ schart. Die Bundesrepublik hat damals immer Vorwürfe erhoben gegenüber den Foltermethoden in der Sowjetunion und Jugoslawien, wo eben auch Gefangene mit Neuroleptika gespritzt wurden. Daraufhin haben die Verantwortlichen in Jugoslawien diese Reportage groß in der Tageszeitung gebracht, mit den Bildern, das gab dann außenpolitische Verwicklungen, und das hatte dann zur Folge, daß ich isoliert wurde und in ein anderes Gefängnis verlegt wurde, so daß diese Zeitschrift nicht mehr erscheinen konnte. „Also“, er legt ein süffisantes Grinsen auf, „meine schreiberischen Fähigkeiten sind schon wahrgenommen worden.“
Nach seiner Verlegung – da hat er noch zweieinhalb Jahre abzusitzen – vertraut man ihm die Bibliothek an, stattet ihn sogar mit einem kleinen Budget aus, über das er frei verfügen kann. Und er ist „fasziniert von dieser Aufgabe“. Als erste Amtshandlung schmeißt er „die ganzen alten Nazi-Schinken“ raus, „Kolbenheyer und wie sie alle heißen“, und versucht mit einem von ihm neu eingerichteten Bereich, den „VIP-Büchern“, der populäre Bestseller- und Spannungsliteratur mit anspruchsvoller Belletristik mischt, die Mitgefangenen literarisch zu bilden, was durchaus Erfolge zeitigt. Anhand der Bestellzettel kann er sehen, wie sich langsam die Lesegewohnheiten verändern.
Nach der Entlassung beherbergt ihn eine Weile der Schriftsteller Christian Geissler, der schon während der Haft Kontakt mit ihm aufgenommen und einige seiner Arbeiten lektoriert hatte. Lugmeier mietet in Ostfriesland ein kleines Haus mit Garten und schreibt hier seinen Roman zu Ende. Dann geht er für eine Weile nach Marocco und schließlich nach Berlin, wo er bis heute wohnt. Trotzdem fühlt er sich immer noch „leicht unwohl“‚ in Deutschland und denkt ständig ans Weggehen. In Mexiko Stadt sei das anders, da habe er „gleich den Rhythmus der Stadt und der Leute drauf“, desgleichen wenn er sich in London aufhalte, auch wenn England längst nicht mehr das „freie Land“ sei, das es mal war. „Aber ich habe Freunde und Bekannte in Berlin. Ich würde nur gern mal wieder in einem Land leben, in dem ich eine andere Sprache sprechen kann, mein Spanisch ist so unter aller Sau.“
Wer sich mit Ludwig Lugmeier unterhält, kommt unweigerlich irgendwann auf seine zwei richtigen „Dinger“ zu sprechen, die beiden Überfalle auf Geldtransporte. Vielleicht hat er auch deshalb seine Autobiographie geschrieben: um diesen Komplex ein für allemal abzuarbeiten, um irgendwann einmal über etwas ganz anderes reden zu dürfen. Heute jedenfalls noch nicht! Ich frage ihn, ob er sich damals, als Mittzwanziger, klargemacht hat, daß es bei den Überfallen auch leicht Opfer hätte geben können.
,Ja, ich habe mir ständig Gedanken gemacht darüber. Ich mußte mir ständig – ich bin ein etwas phantasiebegabter Mensch – Situationen vorstellen, die eskalieren können, und dann eskalierte das ständig in meinem Kopf, dann sah ich mich in einer Schießerei mit der Polizei verwickelt, sah mich auf der Flucht, sah mich durch die Stadt schlagen, und dann kam ich immer zu einem Punkt, wenn mir der Schweiß auf der Stirn stand, da habe ich mir gesagt: Mach dich mal nicht selbst verrückt! Was du tun kannst, ist ganz genau planen, dich diszipliniert verhalten und richtig auftreten. Und wir haben extrem gut geplant. Es gibt natürlich ein Unschärfefeld, denn man kann nicht so gut planen, daß nicht trotzdem ein Zufall eintreten
könnte. Aber ich habe mir gesagt, du mußt etwas machen, um dich von deiner Angst zu befreien. Und da bin ich dann eines nachts im Stadtpark gewesen und habe mein altes magisches Spiel gespielt. Russisches Roulette, und danach ist es eine Weile weggewesen, aber nach und nach ist die Angst dann doch wiedergekommen.“
Es gibt dann auch eine gefährliche Situation während des Frankfurter Überfalls. Ein Passant löst sich mehrmals von der Gruppe und kommt direkt auf ihn zu. „Da habe ich für einen Moment überlegt, über die Köpfe der Menschen hinweg eine Salve abzufeuern. Denn normal ist eine Maschinenpistole, die jemand in der Hand hält, so beeindruckend, daß man nicht darauf zugeht, und wenn das nicht wirkt, dann muß man über die Köpfe hinwegschießen. Dann liegen aber alle auf dem Boden und rühren sich nicht mehr. Das war die Extremsituation.“
Und wenn er tatsächlich jemanden umgebracht hätte? Lugmeier wartet mit seiner Antwort, obwohl man gleich merkt, daß er nicht wirklich überlegen muß, weil er dieses Thema einfach schon zu oft reflektiert hat. „Ich denke, wenn man jemanden tötet, dann nimmt das Leben eine ganz andere Wendung. Die Möglichkeiten, die bei mir entstanden sind, konnten nur unter der Voraussetzung entstehen, daß ich niemanden getötet hatte. Und da konnte dann für mich selbst so etwas wie eine Abkehr von der Gewaltfaszination stattfinden, die immer noch bis zu einem bestimmten Grad da ist.“ ,Ja?“
,Ja, sicher! Also ich finde immer noch Waffen ästhetisch.“
„Das ist doch nur symbolisierte Gewalt. Finden Sie tatsächlich ausgeübte Gewalt auch ästhetisch?“
„Es gibt eine ausgeübte Gewalt, die ästhetisch ist. Der Stierkampf zum Beispiel. Oder auch ein Raubüberfall, wenn die Choreographie stimmt. Im allgemeinen ist Gewalt dumpf.“
Trotzdem beschreibt er in seinem Erinnerungsbuch die beiden Überfälle nicht als ästhetisierte Ballettnummern, sondern in ihrer ganz lakonischen, banalen, kruden und deshalb wohl auch so pulsbeschleunigenden Authentizität. Sehr eindrücklich vergegenwärtigt er zudem die emotionalen, die psychischen Prozesse, die während der Tat bei ihm ablaufen: seine Paralyse kurz vorher, die Phase der Angst, in der die Zeit stillzustehen scheint, und dann das Omnipotenzgefühl mittendrin, das ihn den Überfall fast schon unnötig hinauszögern läßt.
„Ich sehe zwei Etappen bei einem Überfall. Da ist einmal die Etappe des Angriffs, und innerhalb dieser Etappe, besonders wenn man mit Maschinenpistole dasteht, besetzt man den Punkt, von dem aus man alles kontrolliert. Und diesen Punkt zu verlassen, ist mir zweimal schwergefallen. Ich habe mich später immer gefragt, was ist eigentlich der Grund dafür gewesen? Das hängt, glaube ich, damit zusammen, daß genau in dem Moment, wo ich mich von dem Punkt löse, aus dem Jäger der Gejagte wird, ich müßte diesen Punkt weiter behaupten können. Das geht nicht“, er lacht breit, „der ist baldmöglichst zu verlassen!“
Lugmeiers Ehrlichkeit ist einnehmend. So versucht er auch gar nicht erst seine Verbrechen nachträglich zu überhöhen, etwa ihnen eine politische Motivation zu unterstellen, die einige Romantiker doch so gern hätten. „Die Linke hat eine gewisse Vorliebe für Bankräuber, sie enteignen die Banken, und am besten sollten sie das geraubte Geld dann der Allgemeinheit wieder zur Verfügung stellen. Deshalb steht die Linke in einem Widerspruch zu mir, ganz klar, denn auf der einen Seite bin ich jemand, der die Geld- und Machtinstitutionen angegriffen hat, auf der anderen Seite bin ich natürlich kein Robin Hood, mir ging es um mich selbst.“
Ihm fehlte in dieser Zeit schlicht das politische Bewußtsein. Die 68er Studentenrevolte war insofern auch keine Option für ihn, obwohl sie doch eine alternative, hedonistische, antibürgerliche Lebensweise propagierte und praktizierte, die ihm durchaus hätte gefallen können. Auf seinen Reisen ist er auch mit der „Gammler-Bewegung“ in Berührung gekommen, die sich gerade nach Indien aufmachte. „Aber ich war nicht der Ansicht, im indischen Kloster die Erlösung finden oder die Gesellschaft verändern zu müssen. Denn das, was ich mir vorgestellt habe, meine Phantasien, meine Träume, die hatten nichts mit einer modernen veränderten Gesellschaft zu tun, sondern die waren eher rückwärtsgewandt, das waren die großen Zeiten der Piraterie in der Karibik, das waren Henry Morgan, Anne Bonny, Edward Teach und Calico Jack.'“ Nicht zu vergessen die Gangster-Typen des frühen 20. Jahrhunderts. „Diese stilisierten Bilder, die man auch auf den Groschenheften aus den 30er Jahren findet – ,Al Capone, König der Gangster‘ hieß so ein Heft -, diese schweren alten Limousinen, die gefallen mir heute noch. Diese wunderbaren Hüte, die die getragen haben, ich trage auch für mein Leben gern Hüte, die schweren Thompson Machineguns – all das.“
Lugmeier gehört denn auch zur letzten Generation Krimineller, die an diesem Mythos partizipieren, die sich noch in diese Legenden-Tradition und somit auch ins deutsche Kollektivbewußtsein einschreiben konnten. Die öffentliche Wahrnehmung hat sich mittlerweile grundlegend verändert. „In der Zeit, in der ich diese Dinger gedreht hab, ist das von den Zeitungen groß aufgeblasen worden, vor allem von der Boulevard-Presse, und zwar eben tatsächlich mythologisierend – und interessanterweise in eher konservativen Boulevardzeitungen. Dann wurde irgendwann eine andere Politik gemacht. Keine Superlative mehr! Wenn man heute etwas über einen Banküberfall liest, dann steht nicht drin, wieviel die erbeutet haben, und er ist nicht mehr auf der ersten Seite, während damals die Boulevardpresse drei Tage lang die ersten Seiten damit vollgemacht hat.“ Er hält einen Moment inne. „Ich glaube, der Bankräuber, der wird in einigen Jahren so ein Atavismus sein wie für uns die Postkutschenräuber im wilden Westen.“
Ich gehe nochmal meine Notizen durch. „Wir können jetzt Kaffee trinken, glaube ich!“
Anschließend bringt er mich zum Wagen. Lugmeier, den schwarzen Hut tief im Gesicht, trägt schwer an der unauffälligen schwarzen Sporttasche an seiner Seite. Er hält seinen Oberkörper etwas schief, um das Gewicht auszugleichen, schwankt auch unmerklich. Ein feister Anzugträger, der unseren Weg kreuzt, schaut interessiert, dann mißtrauisch. Nein, es ist keine PPSH mit Holzgriff und Bananenmagazin darin, keine STEN gun mit querstehendem Magazin, keine MP 40, Uzi, Scorpion – es ist „Der große Brockhaus“.
Ludwig Lugmeiers Autobiographie „Der Mann, der aus dem Fenster sprang‘ ist im Kunstmann Verlag erschienen und kostet 19,80 Euro. Für den gleichen Preis ist „Der Mann…“ auch als Hörbuch erhältlich, auf dem der Autor unnachahmlich aus dieser Geschichte seiner ersten 28 Jahre liest.