Ein perfekter Lärm
New york city war für lou reed, was Dublin für James Joyce war – der Horizont seines schreiberischen Kosmos. Er musste die Stadt nie verlassen, um sein Material zu finden – es gab mehr als genug, für Love-Songs ebenso wie für Hate-Songs. Von „Metal Machine Music“ bis zu „Coney Island Baby“, von seiner Arbeit mit Velvet Underground bis zur Kooperation mit Metallica: Die Stadt, der er sein Leben widmete, war seine Muse – mehr als jede reale Person. Bis vor 20 Jahren Laurie Anderson in sein Leben trat, konnte man wohl behaupten, dass Lou Reed den Lärm von New York mehr liebte als alles andere. Sollte er wirklich der Meinung gewesen sein, dass Menschen dumm sind, dann waren New Yorker noch mit Abstand die schlausten.
Unsere Wege kreuzten sich zum ersten Mal auf der „Conspiracy of Hope“-Tour von Amnesty International im Jahre 1986. Er plauderte mit The Edge über Gitarren-Sounds, mit Larry über Motorrad-Sounds und mit mir über James Joyce. Wenn mich nicht alles täuscht, redete er sogar mit Adam über Beziehungsprobleme. Bei einer Gelegenheit erzählte er davon – natürlich stilecht in seinem unnachahmlichen New Yorker Lou-Reed-Slang -, wie sauer er einmal war, als er eines seiner Motorräder seiner damaligen Freundin lieh, die es prompt zu Schrott fuhr. Ich fragte ihn, wie es denn seiner Freundin nach dem Unfall ergangen sei. Er schaute mich kühl an und knurrte nur: „Bono, eine Freundin kann man ersetzen.“ Sein staubtrockener Humor wurde gern als Grantigkeit missverstanden.
Lou personifizierte das Konzept, dass Kunst nichts anderes ist, als der Schönheit an den unwahrscheinlichsten Orten zu begegnen. „Transformer“ war das Album, das mich sofort in seinen Bann zog, als es 1972 veröffentlicht wurde. Mit meinem besten Freund Guggi konnte ich stundenlang diesen Storys von New Yorks Straßen zuhören. Wir waren 12 oder 13 Jahre alt und stellten uns vor, wie er wohl sei, dieser walk on the wild side. Transformation ist die Triebfeder von Lou Reeds besten Werken: die Fähigkeit (oder Unfähigkeit) von Menschen, sich zu häuten, zu entwickeln, zu verändern. Wir wissen, dass große Kunst entsteht, wenn Schmerz in Schönheit transformiert wird, dass Selbstsucht der Antrieb jeder Romanze ist – und doch sind wir verblüfft, dass Lou-Reed-Songs so unglaublich leicht sein können. Es sind stählerne Ballons, mit Helium so prall gefüllt, dass sie nie von der Schwerkraft ihres Sujets nach unten gezogen werden. Hinter jeder Boshaftigkeit lauert irgendwo der Humor. Magic and loss. Lou Reed war ein Alchemist, der aus Eisenerz Gold machen konnte und aus Schwermetall Songs, die so präzise und prägnant daherkamen, als wären sie gerade im Brill Building geschrieben worden – was in gewisser Weise ja auch zutraf, weil Lou in diesem Umfeld seine Karriere begann.
Es gibt zwei nicht zu unterschätzende Einflüsse, die diese Karriere formten. Zum einen die individuellen Talente seiner Kollegen von Velvet Underground, die damals so ziemlich jede Band beeinflussten. (Man höre nur „Running To Stand Still“ von U2, um Zeuge eines eklatanten Plagiats zu werden.) Wir waren außer uns vor Freude, als sich die Velvets Anfang der Neunziger kurz reformierten und ein paar Gigs spielten – einige auch mit uns. „Pale Blue Eyes“ ist Pop in Perfektion. Zum anderen: Delmore Schwartz und seine Short Stories. Bei mehreren Anlässen kam Lou auf dieses Thema zu sprechen und verdonnerte mich dazu, „In Dreams Begin Responsibilities“ zu lesen (was ich tat). Er gab mir auch den Essay-Band „The Ego Is Always At The Wheel“ (was ich bestätigen kann). Erst vor wenigen Monaten revanchierte ich mich mit einem Gedichtband von Seamus Heaney. Unser letztes Gespräch bestand in einem schlichten Dankeschön.
Man macht es sich viel zu einfach, wenn man das alte Klischee bemüht: dass Lou Reed dieses unberechenbare Tier gewesen sei, das Songs über Heroin in die Popcharts geschmuggelt habe -der dekadente „Lounge Lizard“ aus Andy Warhols Factory. In Wahrheit war er ein nachdenklicher, meditativer und unglaublich disziplinierter Mensch. Und bevor die Hepatitis zurückkehrte, die er sich als Junkie eingefangen hatte, war Lou auch körperlich in exzellenter Verfassung. Tai Chi, sagte er immer, sei verantwortlich für seinen biegsamen Körper und die frische Haut.
Und genau so werde ich ihn in Erinnerung behalten: als gelassenes, unbeeindrucktes Individuum inmitten des stählernen Sturms, als Künstler, der aus diesem formlosen Nichts namens Popkultur die wundersamsten Formen kreierte, der Melodien aus dieser monströsen Kakofonie fischte, die Yeats „this filthy modern tide“ nannte – und ja, nicht zuletzt als das große Pokerface des Pop, hinter dessen stechenden Augen immer auch die menschliche Komödie tobte.
Heute aber ist der Welt nicht zum Lachen zumute.
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