Ein Land aus Geschichten
Austin Lynch, Sohn des US-Regisseurs David Lynch, und der Fotograf Jason S. reisten für ihr Interview Project durch Deutschland und sprachen mit Menschen über ihr Leben.
F ernsehsender bestreiten ihr Programm heutzutage hauptsächlich mit sogenannten Talk- und Reality-Shows, die Märkte streben nach gläsernen Konsumenten, und allerorten ist von Transparenz die Rede. Doch obwohl überall gebeichtet und gestanden und ausgepackt wird, hat man das Gefühl, über seine Mitmenschen immer weniger zu wissen. Was ist ihre Geschichte? Was denken sie? Was treibt sie an? Welche Träume haben sie?
Austin Lynch, Sozialarbeiter und Sohn des US-Regisseurs David Lynch, und der Fotograf Jason S. sind diesen Fragen vor zwei Jahren nachgegangen. Sie fuhren 20.000 Meilen quer durch die USA, redeten mit gut 120 Menschen, die sie einfach auf der Straße ansprachen, und stellten fünfminütige, mit einer kurzen Einführung von Projekt-Schirmherr David Lynch versehene Clips der Interviews auf ihre Website interviewproject.davidlynch.com. Im vergangenen Oktober reisten die beiden auf Initiative der Kommunikations-Agentur Red Onion für eine deutsche Version dieses Projekts durch die Bundesrepublik.
Die ersten Einträge in ihrem Online-Reisetagebuch (blog.interviewproject.de) deuteten darauf hin, dass sie eine recht klischeehafte Vorstellung von dem Land hatten, das sie da durchquerten. Ihr Deutschland-Bild schien vor allem von den Brüdern Grimm geprägt. „Wir waren vorher noch nie hier“, erklärt Lynch. „Wir hatten nur vage Idee davon, wie es sein würde. In gewisser Weise änderte sich unser Bild durch das Projekt also grundlegend. Deutschland ist viel schöner und vielfältiger, als wir uns ausgemalt hatten.“
Ohne festgelegte Route fuhren die beiden Interviewer von Berlin nach Lübeck, von dort nach Hamburg, dann Richtung Süden bis Zech am Bodensee und über den Osten zurück nach Berlin und machten Interviews mit den Menschen, die ihnen begegneten. „Viele waren vorher skeptisch, ob wir die Deutschen zum Reden bringen können“, so Jason S. „Aber sie haben sich genauso schnell geöffnet wie die Leute in den USA. Sie hatten die gleiche aufgeschlossene Art. Wir haben immer mit der gleichen Frage angefangen: Wie heißen Sie? Dann ergab sich der Rest schon fast von alleine.“
Besondere Mentalitätsunterschiede wollen die Filmemacher zwischen den Bewohnern der einzelnen Landstriche oder auch zu ihren Landsleuten nicht ausgemacht haben. In alter amerikanischer Tradition kaprizieren sie sich eher auf Gemeinsamkeiten als auf Unterschiede. „Allerdings haben wir festgestellt, dass die Leute aus dem Osten viel mehr über die deutsche Geschichte reden als die im Westen“, so Lynch. „Einige der Geschichten, die sie erzählten, waren sehr eng mit der Historie des Landes verwoben.“
Man könnte ihrer Idee, durch Narrationen der Bürger das Bild eines Landes zu konstruieren, durchaus eine politische Dimension abgewinnen, doch diese Intention weisen Lynch und Jason S. zurück. Die individuelle Erfahrung scheint sie mehr zu interessieren als die gesellschaftlichen Implikationen – auch das ist ja irgendwie ziemlich amerikanisch. „Interview Project war bis hierher eine unglaubliche Reise“, meint Lynch. „Wir haben so viele Menschen getroffen, die gewillt waren, ihre Geschichten mit uns zu teilen, und wir haben viel von ihnen gelernt. Wir hoffen, dass wir das Projekt in anderen Ländern weiterführen können.“
Wer sich selbst ein Bild von den etwa 50 Gesprächen machen will, die Austin Lynch und Jason S. während ihrer Deutschlandreise führten, kann das Anfang Februar auf der Website www.interviewproject.de tun.