Ein König tritt ab
"Talking Timbuktu", sein Gemeinschaftswerk mit Ry Cooder, machte Ali Farka Toure auch in der westlichen Welt populär. Der eigensinnige Volksheld aus Mali be- harrte darauf, dass die Wiege des Blues in Afrika stand. Bänz Friedli besuchte ihn dort kurz vor seinem Tod.
Ali! Ali!“ Die drei Dutzend Männer, die vorn übergebeugt auf dem von Autowracks und Schutt gesäumten Platz knien, schrecken aus ihrem Nachmittagsgebet auf*. Ein fabrikneuer Geländewagen donnert über die Kreuzung der Straßen 517 und 366, wird abrupt abgebremst, schlittert noch zwei, drei Meter über die Geröllpiste und bleibt vor einem kalkweißen Häusergeviert stehen, das wie ein Palast aus den umstehenden Lehmhütten ragt.
Im knöchellangen smaragdgrünen Prunkgewand steigt er aus: der größte Musiker des Landes, Ali Farka Toure. Hier in Bamako, der Hauptstadt der westafrikanischen Republik Mali, ist er König. Weil er Geschäfte zu erledigen hat, macht der dynamische 65-Jährige, der 20 Jahre jünger wirkt, in seiner Stadtresidenz Halt. Gönnerhaft grüßt Toure nach allen Seiten, der Vorgarten seiner Villa ist voller Männer, die Würfel spielen und aus winzigen Tassen zähflüssigen, stark gezuckerten Tee trinken. Wächter, Diener, Verwandte. Nachwuchsmusiker, die ihm ihre Lieder ab Kassette vorspielen wollen, oder auch nur Arme, die sich ein Almosen erhoffen. „Ali! Ali!“ rufen sie aufgeregt im Chor. Doch heute ist der Meister mürrisch. „Skandal!“, schimpft er. Umgerechnet 500 Euro Einfuhrzoll soll er fürs neue Auto bezahlen, das er aus Europa importiert hat – drei malische Monatslöhne. „Das ist Korruption! Diese Stadt stinkt mir, hier dreht sich alles nur ums Geld“, quäkt er in einem grellen afrikanischen Französisch, das die dunklen Vokale noch dunkler, die hellen heller macht.
Wer Toures traumhaften Peul-, Dogon- und Dschondon-Melodien lauscht, spürt die mystische Kraft dieses Mannes. Wer ihn in Mali besuchte, erlebte den polternden Patriarchen, sei es in Bamako, sei es 720 Kilometer flussaufwärts in Niafunke nahe Timbuktu, wo er als Dorfchef regierte. Am 7. März starb Ali Farka Toure in Bamako an Knochenkrebs, vermutlich 67-jährig, das weiß niemand so genau. Afrika hat seinen wichtigsten Musiker seit Fela Kuti verloren. Toure zeigte den Industrieländern auf, dass ihre Popmusik von jahrhundertealter westafrikanischer Folklore abstammt. Und er gab seinen Landsleuten den Stolz zurück. Nach Jahrzehnten der Unterwertung kam da einer, der sich weigerte, die Schreibweise Toure mit dem franzöischen Akzent weiterzuführen, die ihm die Kolonialherren aufgezwungen hatten, und erklärte eines der ärmsten Länder der Welt zu deren Nabel. „Wir sind vielleicht arm, aber wir sind kulturell reich“, sagte er. Gastierte er in Montreux, verkündete er mit freundlicher Überheblichkeit: „Euer Essen schmeckt nicht, in euren Betten schlafe ich schlecht, eure Luft ist nicht gut zum Atmen.“
Einst nannte Bluesväterchen John Lee Hooker ihn seinen „legitimen Nachfolger“. Toure maulte nur zurück, er sei kein Nachfolger, sondern der Ursprung.
„Was wie Blues tönt, ist unsere Tamaschek-Musik. Timbuktu ist die Wiege allen Wissens“, sagte er und verwies auf die Bibliothek Hamad Baba, Zentrum des westafrikanischen Islam. Seine Sicht, wonach der Blues und mit ihm alle Populärmusik nicht aus dem Mississippi-Delta, sondern vom Nigerbogen stamme, hat sich durchgesetzt, die Pilgerfahrt nach Mali ist in Popkreisen schick. Bonnie Raitt flog hin, Blur-Kopf Dämon Albarn, Led Zeppelin-Veteran Robert Plant. Corey Harris tat es für Martin Scorseses Filmdokumentation „Feel Like Going Home“. Taj Mahal machte es sich einfacher und ließ malische Musiker nach Atlanta, Georgia, einfliegen. Mali ist en vogue, und der Vater des Trends hieß Toure. Dass Mali mit Amadou 6s? Mariam, Habib Koite, Issa Bagayogo und der jungen Rokia Traore in Europa und den USA kommerziellen Erfolg erzielt, ist ihm zu verdanken.
Denn er begehrte störrisch auf. Nachdem sich die Popmusik die französische von Nougaro bis Higelin, die britische von The Clash bis Peter Gabriel, die amerikanische von Pete Seeger bis Paul Simon jahrzehntelang in Afrika bedient hatte, forderte er Anerkennung fürs Mutterland und stärkte so das Selbstbewusstsein seiner Landsleute:
„Klar haben wir Westafrikaner Blues und Rap erfunden“, sagt Toure-Jünger Koite. „Vor Jahrhunderten schon.“
Stimmt es denn? Stammt der Blues aus Mali? Ja. Die Pentatonik, die westafrikanische Fünftonharmonie, findet sich in den Blue Notes der Bluestonleiter wieder, das Frage-Antwort-Schema im Call & Response. Freilich erzählt erst der US-Blues das Drama um Verschleppung und Versklavung der Afroamerikaner. Der afrikanische Blues ist ungebrochen.
Mochte man ihn auch für einen arroganten afrozentrischen Autschneider halten sobald Toure das Instrument ansetzte, wurden seine Behauptungen Musik. Ließ er seine E-Gitarre im Stil des Chicago-Blues aufheulen oder streute er einen Shuffle-Rhythmus ein, reduzierte er die Stilzitate sogleich auf deren westafrikanische Wurzeln. Toures Musik erreichte ihren Höhepunkt in den kärgsten Momenten, wenn nur noch die Perkussion einer Kalebasse und der greinende Klang der einsaitigen Geige Njarka seinen Sprechgesang begleiteten. Er sang in neun der dreizehn malischen Dialekte, ließ nur wenige Worte in der Sprache der Kolonialmacht Frankreich einfließen, die Mali i960 in die Unabhängigkeit entlassen hatte. „La vie, c’est bonheur et c’est malheur“, das Leben ist mal Glück, mal Unglück. Abgeklärt, lakonisch, formelhaft. So sprach er auch: „Ich kann nicht Noten lesen, aber ich wurde in die Musik hineingeboren“, sagte Toure. „Niafunke ist die Mitte der Welt.“
Daheim in der Mitte der Welt nahm er 1999 mit Hilfe eines Generators sein schönstes Album auf und nannte es nach seinem Dorf „Niafunke“. Jerry Boys, Tonmeister des Buena Vista Social Club, reiste eigens an. Toure besaß den einzigen Kühlschrank, das einzige Auto am Ort. Spielte die malische Nationalmannschaft, versammelte ganz Niafunke sich in seinem Backsteingehöft vor dem einzigen Fernseher.
Welch wundersamer Blues in dem Bauerndorf am Rand der Wüste gespielt wird, erfuhr die Welt 1994 dank Toures Kooperation mit dem US-Gitarristcn Ry Cooder. Ihr bezauberndes Album „Talking Timbuktu“ verkaufte sich weltweit gegen eine Million Mal und gewann einen Grammy. Von nun an wurde Toure von seinen Landsleuten verehrt wie ein Gott. Er selber hielt nichts vom Rummel: „Dass ich weltberühmt bin, ändert mein Leben nicht.“ Schroff konnte er sein, gleich darauflachte er sein gurgelndes Lachen, jederzeit war er Herr der Lage. Gab das Aufnahmegerät just zum Interviewtermin den Geist auf, brummelte er „Mais, voyons…“, ließ seine flache Hand, als wollte er dem Gegenüber seine magischen Kräfte demonstieren, über dem defekten Apparätchen kreisen et voila, es funktionierte wieder.
Den Beinamen „Farka“ bekam der kleine Ali als Beschwörung, weil seinen Eltern zuvor neun Kinder gestorben waren; noch heute liegt die Kindersterblichkeit in Mali bei 22 Prozent. „Farka“ bedeutet Esel und sollte dem Buben Zähigkeit verleihen. Als Neunjähriger habe er mit seiner Gurkel, einer primitiven Gitarre, die Dschinn-Wassergeister geweckt, hieß es, worauf diese ihm die Gabe der Musik verliehen hätten. Toure fürchtete sich fortan, die Gurkel zu spielen, und schenkte sie seinem Freund Ry Cooder.
Nicht übersinnlicher Zauber herrscht in Toures Stadthaus in Bamako, sondern weltlicher Prunk. Zehn Plüschfauteuils füllen das Wohnzimmer, TV
und Stereoanlage laufen beide in voller Lautstärke. „Gebt den Gästen zu trinken!“, befiehlt Toure, und einer seiner Söhne bringt Fanta in Büchsen. Neun Kinder hat Toure mit seiner einen Frau in Niafunke, zwei Töchter und einen Sohn gebar ihm seine zweite Frau in den Niederlanden. Polygamie? Über gesellschaftliche Unterschiede diskutiert Toure nicht. „Ihr lebt in einer anderen Welt, ich weiß“, sagt er nur, sein Lächeln ist halb mitleidig, halb entschuldigend. Dass die Mehrfachehe auch im eigenen Land kritisiert wird, etwa von der Sängerin Oumou Sangare, verunsichert ihn nicht. „Ich bestimme, was für meine Familie richtig ist, ich bin der Patron.“
Den Baumwolle-, Reis- und Gemüsebauern in Mali geht es schlecht und recht, von den Städtern hat kaum einer Arbeit. Lesen und schreiben kann nur jeder dritte Mann, von den Frauen gar nur jede fünfte. Deshalb kommt den Sängerinnen und Sängern eine Bedeutung zu, die für Europäer kaum nachvollziehbar ist. Sie sind Lehrer, Historiker, Moralisten, sie warnen vor Aids und preisen das Vaterland, ihr Vortrag erfüllt spirituelle, religiöse und politische Funktion. Sie sind, wie Toure es ausdrückte, Hüter der Wahrheit.
Deshalb war RyCoodcr, für viele immerhin der größte Gitarrist auf Erden, für Toure bloß „ein Schüler“. Doch ausgerechnet von Cooder erntete Toure Verständnis für die Abscheu, die er gegenüber Europa und den USA hegte. „Natürlich kommt der Blues aus Afrika“, sagte Ry Cooder. „Wenn ein amerikanischer Radiomann zu Toure sagt: „Sie spielen den Blues wie John Lee Hooker“, ist das der gottverdammt idiotischste Spruch, den ich in meinem Lehen gehört habe. Der Mann hat eine 2ooo-jährige Musiktradition damit verglichen ist Amerika ein Parkplatz, nichts weiter.“ Ihren Grammy erhielten Toure/Cooder in der Kategorie „World Music“, doch dem besonnenen Kalifornier missfällt der Ausdruck: „Das Etikett ist krankhaft! Hier wir – da der Rest der Welt. Welch Amerika-bezogenes Denken! Für einen aus Timbuktu ist es umgekehrt.“
Timbuktu, das Zentrum von Toures Welt. Drum will er jetzt schleunigst raus aus Bamako, heim in die Wüste. „In der Stadt fühle ich mich eingeengt und atemlos. Ich bin entwurzelt, sobald ich keinen Kontakt zur Natur habe.“ Nur noch rasch bei Mali K7 zum Rechten schauen, der Kassettenfabrik, die ihm gehört. Sie ist alles, was es im Land an Musikindustrie gibt. Mit achtzig Stundenkilometern rast er durch die Stadt, gestikuliert, umkurvt Krater, die die Regenzeit in die Straße gerissen hat, brettert über Schlaglöcher. Sand und Abgase brennen in Nasen und Augen. Toure hupt wild, manövriert waghalsig an uralten Peugeots und schrottreifen Renaults vorbei, an Bettlerinnen mit ihren Säuglingen, an Eselkarren, Marktleuten, Krüppeln, Blinden. Zwar lebt über eine Million Menschen in den mit Schilfrohr und Wellblech bedeckten Verschlagen des wuchernden Stadtmolochs, doch einzig die Zentralbank und das klobige „Hotel de l’Amitie“ haben mehr als zwei Stockwerke, einzig die Türme der Moschee ragen heraus. Wo immer man sich in der Stadt am Niger aufhält, wähnt man sich in einem Dorf. In dem Dorf hat Toure eine Million Freunde. „Ali! Ali!“, ertönt es, kaum taucht er irgendwo auf.
Im winzigen Büro von Mali K7 stapeln sich alle Konzertanfragen, weil Toure daheim in Niafunke weder Fax noch Telefon hat. Ein Lachen und Lärmen, jeder will etwas vom Meister. Aus Amerika wird gerade ein Telefoninterview verlangt. „Morgen früh um zehn“, verfügt Toure. Der Einwand seines Geschäftsführers, dann sei in den USA aber tiefe Nacht, kümmert ihn nicht. „Die leben in der falschen Welt, nicht wir.“ Die Umstehenden johlen und applaudieren. „Ich will jetzt sowieso nach Hause“, sagt Toure, „ich muss das Land bebauen und meine Familie versorgen.“ Er verstaut seine Flinte im Kofferraum, weil er unterwegs auf die Jagd gehen will. Dann bricht er auf nach Niafunke. Wo die Welt, seine Welt, noch in Ordnung ist.
2006 erhielt er für das Album „In The Heart OfThe Moon“ den zweiten Grammy. Sein Zusammenspiel mit Toumani Diabate, dem Virtuosen auf der afrikanischen Harfe Kora, ist von hinreißender Leichtigkeit. Kurz vor seinem Tod vollendete Toure die Aufnahmen zu einem letzten Album. Ali Farka Toure war Taxi- und Ambulanzfahrer, zur Zeit der sozialistischen Diktatur Direktor des staatlichen Radioorchesters. Doch er bestand stets darauf, nichts als Bauer zu sein. „Wer mich besucht, dem zeige ich die Wahrheit“, pflegte er zu sagen, jeden, der die mehrtägige Schifffahrt auf dem Niger auf sich nahm, empfing er als Freund. Und jeder Besucher hatte vom gebratenen Schafbock zu kosten. Eine Ausnahme hätte er gemacht: Für den Vegetarier Cooder pflanzte er einen Gemüsegarten an. „Gott will, dass er mich in Niafunke besucht.“ Toure wartete viele Jahre. Nun ist es zu spät für Ry Cooder.
Mithilfe eines Generators nahm er sein schönstes Album auf, das er nach seinem Heimatdorf „Niafunke“ nannte. Toure besaß den einzigen Kühlschrank, das einzige Auto im Ort. Spielte die malische Nationalelf, versammelte sich das ganze Dorf vor seinem Fernseher.