Ein Feeling mit Kopierschutz
Die Werbekampagne mit den Raubkopierern, die zu Kater Karlo ins Gefängnis müssen, hat auch ihr Gutes, denn nie zuvor hat man sich beim Kauf einer CD so gerecht gefühlt. Die Musikindustrie, früher ein gesichtsloses Gestrüpp, hat durch die enervierenden Krisen-Reports ein menschliches Antlitz bekommen. Wildfremde Leute machen sich ernste Sorgen. Und in der Kassenschlange in Elektrobillig-Etagen (wo die Kunden sich wiederum am Stellenabbau im Einzelhandel schuldig machen) spürt man gleich eine Art Pfadfinder-Geschwisterschaft mit dem Menschen vor einem, der auch CDs kauft und keine Rohlinge. Diese CDs sind übrigens, das als kleiner Merksatz, immer von Norah Jones.
Darüber zu spotten macht keinen Spaß. Immerhin wissen wir gefühlsmäßig, dass Norah Jones Musik für kaufkräftige Erwachsene singt. Die 30-Jährigen können es nicht sein. Offiziell braucht die Generation der 30-Jährigen nämlich gerade jede Freizeit-Minute, um darunter zu leiden, zum ersten Mal im Leben arbeitslos zu sein. Also sind es, zwangsläufig: die 40-Jährigen. Im „Guardian“ stand vor kurzem, dass in England heute die 40-Jährigen mehr Platten kaufen als die Teenager. Deutsche Zeitungen ergänzten, dass das bei uns genauso ist und sogar für typische junge Produkte wie Robbie Williams und Sarah Connor gilt.
Früher nannte man diese Leute Schläfer. Man stellte CD-Boxen mit alter Musik als Köder in die Läden und wartete auf die Dunkelheit, bis die coolen Jugendlichen in den Kinos waren und die Schläfer sich aus den Löchern trauten. Wahrscheinlich haben die gemerkt, dass sie auch bei hellem Tag wenig Angst haben müssen, die Jungen in Musikabteilungen zu treffen, vielleicht ist es auch nur geschicktes Prozentrechnen.
So oder so, man darf zu Pop ab jetzt nicht mehr Jugendkultur sagen, denn es ist statistisch gegenbewiesen. Wie angenehm das sein könnte: Berichterstatter, die auf die 40 zugehen, müssen sich nicht mehr in die grob geschätzte Geisteswelt der jeweils aktuellen Teenager hineinversetzen, um zu beurteilen, was echter Pop ist und was nicht – weil sie wider Erwarten selbst die Teenager sind, die Zielgruppe. Sie müssen sich nicht mehr darüber echauffieren, dass der geschmacklose Gottschalk die Rock’n’Roll-Geburtstagsgala im ZDF moderiert, weil Gottschalk das Ergebnis ist, wenn man aus der Statistik die sachgemäßen Schlüsse zieht.
Der „Stern“ hat zum Rock-Jubiläum eine Bilderstrecke gebracht, die genauso trivial war wie die anschließenden Interview-Antworten des 47-jährigen Nick Hornby („In den Sechzigern und Siebzigern war er(der Rock’n’Roll) eng verbunden mit Protestbewegungen. Seit die tot sind, hat auch er seine Bedeutung verloren“).
Trotzdem erzählen auch Experten die alte Geschichte ganz ähnlich: Bei Bill Haley wurden Stühle zertrümmert, dann Beatles, Stones, Hardrock, Punk, letzte Revolution Nirvana. Techno war der erste Umsturz, bei dem die heute 40-Jährigen zum größten Teil nur Beobachterstatus hatten. Sie haben das als bedeutsamen historischen Bruch notiert, während es den 20-Jährigen doch längst um jede D-Mark Leid tut, die sie für die Platten von Marusha und Dr. Motte ausgegeben haben.
Wahrscheinlich ist es so: Wer erlebt hat, wie die Objekte der eigenen kindlichen Begeisterung mit den Jahren zu Klassikern wurden, der wünscht sich das Gefühl auch in der Gegenwart. Die Nachricht, dass Selbstgebrannte CDs nach zehn Jahren alle gespeicherten Daten verlieren, macht Teenagern sicher keine Angst. Für die 40-Jährigen ist das ein brüllendes Abschreckungspotenzial, schlimmer als Gefängnis. Die Leute konnten ja auch mühelos davon überzeugt werden, dass man den Mist-Film „Fluch der Karibik“ unbedingt besitzen muss und ihn durch den Massenkauf der DVD selbst zu der Art von identitätsstiftendem Gemeingut machen kann, die nachträglich den Kauf der DVD überhaupt erst rechtfertigt. Mit Norah Jones ist das ähnlich.
Etwas verstörend wirkt da die letzte Meldung von „USA Today“, dass bei Beatles-Fan-Treffen mittlerweile 75 Prozent der Teilnehmer unter 30 seien. Der Pop-Historiker Martin Lewis kommentiert: „Jugendliche suchen nach positiven Motivationen, aber die Kultur der Gegenwart lebt nur von Spott und Ironie. Deshalb wenden sie sich einer zeitlosen Musik zu, die grenzenlosen Optimismus ausstrahlt.“ Nostalgie, jetzt auch als Phantomschmerz. Oder wie der junge Paul Weller sagte: „How can you be a fucking revivalist when you’re only 18?“
40-Jährige kaufen die meisten CDs, weil sie Teil einer Jugendbewegung bleiben wollen. Anders als die echten Jugendlichen.