Durchs ABC mit M.I.A.
Die fabelhafte Welt der Anarchie: Die Radikal-Rap-Rebellin Maya Arulpragasam buchstabiert für uns den Stand der Dinge. Fotos von Jaime Martinez
Wenn M.I.A. so viel Spaß am Skandal hat, wie wir glauben, dann waren das gute Wochen: Erst stritt die Welt sich über ihr Schockvideo „Born Free“, dann lieferte sie sich eine Diss-Schlacht mit der Journalistin Lynn Hirschberg, und ihr drittes Album „// / Y /“ (ausgesprochen: Maya) war da noch nicht mal veröffentlicht. Das tamilisch-englische Dancehall-Rap-Großmaul Maya Arulpragasam, 34, sieht sich nun mal als Diva der Dissidenz – und sparte beim kommentierten ABC der Popkultur und Weltlage nicht mit kruden Verschwörungstheorien und Anekdoten.
American Apparel Kaum zu glauben, aber bei der letzten dokumentierten Straßenschlacht auf englischem Boden ging es um American-Apparel-Leggings! Anfang April gab es in einem Geschäft in der Brick Lane in London einen Sonderverkauf, und es kam zu richtigen Ausschreitungen mit Polizei und Vandalismus, weil nicht alle Leute in den Laden passten. Hätte ich auch nicht gedacht, dass Strumpfhosen in Menschen so extreme Aggressionen wecken können! Obwohl ich schon viel Übles über American Apparel gehört habe, man muss es ihnen lassen: Sie sind genial. Sie haben null Ideen, aber jeder will ihre Sachen haben.
Bollywood Bin bestens vertraut damit, denn ich komme aus Tollywood! So nennt sich die tamilische Filmwirtschaft im Süden Sri-Lankas. Die sehen sich dort als den weniger aufgepimpten, puristischen Gegenpart zu Bollywood. Dasselbe sagen die Bollywood-Leute ja über sich, wenn sie an Hollywood denken.
Clubs Ich bin noch auf der Suche nach dem idealen Club, aber das „Freak City“ in Los Angeles ist ziemlich nah dran. Eine wilde Kombination: unten der Kellerverließ-Bereich, oben eine Art Wohnzimmer, wo man relaxen und Computerspiele zocken kann. Es gibt einen Laden, in dem man sich Kleidung kaufen kann, und sogar einen Ruheraum zum Schlafen. Die Atmosphäre hat etwas sehr Persönliches: Man hat das Gefühl, die Kids müssen sich zu einer Art sozialem Gefüge zusammenraufen, um den Laden am Laufen zu halten. Besser als alle affigen Glanzlack-Discos.
Dance vs. Rock Langweilige Opposition. Gitarrenrock und elektronische Musik gegeneinander auszuspielen, das ist so ähnlich, wie wenn einer sagt: Ich schreibe keine E-Mails, benutze kein Handy, sondern lese nur Bücher und schreibe Briefe. Viele Gitarrenleute dissen mich – dabei ist es so wichtig, sich nicht gegenseitig zu bekämpfen, sondern nach Integration zu streben. Das heißt ja nicht, dass wir uns alle in Roboter verwandeln müssen – aber wer gar keinen Draht zur nächsten Generation aufbaut, wird vergessen werden. Woher sollen die Kids der Zukunft denn lernen, was an Gitarrenmusik so toll ist, wenn die Gitarrenleute nicht ihre Sprache sprechen?
E-Tickets Auf Flughäfen verbringe ich viel Zeit. Ich kann nicht Auto fahren – daher habe ich mir irgendwann gedacht, ich könnte doch den Flugschein machen! Also ging ich zur Flugschule. Leider genau an dem Tag, als die Regierung von Sri-Lanka die Nachricht verbreitete, ich wäre eine Terroristin. An der Rezeption fragte der Typ: „Ihren Namen, bitte, ich muss Sie erst mal googeln.“ Und ich nur: „Heute lieber nicht …“ Das war’s damit. Aber mein Verlobter (Benjamin Bronfman) hat eine reiche Familie – ich kann sicher bald mal eines ihrer Flugzeuge ausleihen.
Facebook Ich habe dort keinen Account. Weil ich keine Lust habe, jemand anderen durch meine Mitgliedschaft reich zu machen. Ich bin auch nicht mehr bei MySpace. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich auf die Art und Weise nur billige Daten für die CIA sammle.
Game Mein absolutes Lieblingsgame heißt Puzzle Bubble. Da muss man bunte Bälle fangen und so weiter, nichts mit Schießen. Ich war eine Zeit lang richtig süchtig nach dem Spiel. Ernsthaft.
Heimat Ganz einfach: Ich bin dort zu Hause, wo ich mein Handy auf den Tisch lege.
iTunes, iPhone, iPad, iPod Die einzigen Apple-Produkte, die ich besitze, sind ein iBook und ein iPhone. Das iPad dagegen finde ich nutzlos: Sie verkaufen uns das mit dem Argument, dass es Papier spart, gleichzeitig killt es die menschliche Interaktion und die Augenkontakte im täglichen Leben. Viele meiner kleinen Freundinnen beklagen sich: „Mein Gott, ich glotze den ganzen Tag auf mein Blackberry und verpasse all die großartigen Momente, in denen ich mit süßen Jungs flirten könnte!“ Ich bin ja versorgt, aber: Wie sollen Boys und Girls in einer Welt der Smartphones noch zusammenkommen?
Jobs Natürlich könnte ich nie von Plattenverkäufen leben. Wenn heute jemand Geld mit Musik verdient, heißt das nur, dass er offenbar alles blind erledigt, was die Plattenfirma ihm vorschreibt. Mein Job sind die Shows, die helfen mir beim Überleben. Obwohl ich gar nicht so viele spiele. Ich will nicht zu routiniert werden.
Kokain Kokain ist eine Droge, die hervorragend in die kapitalistische Warenwelt passt: Man verspricht dir eine unglaubliche Erfahrung, du zahlst eine Menge Geld dafür – und dann geht es ganz schnell vorbei und ist die größte Enttäuschung. Man wird nie zufriedengestellt, will immer mehr. Ich selbst bin da allerdings raus, ich habe ein Baby und nehme keine Drogen. Die Vorstellung, mir irgendwelches Zeug ins Gesicht zu stopfen, finde ich sowieso gruselig.
Lady Gaga Ich habe kein Problem mit ihr als Person. Wenn ich sie kritisiere, dann geht es mir nur darum, was wir beide repräsentieren. Um unsere unterschiedlichen Geschäftsideen. Ihre ist natürlich einfacher zu verwirklichen: Während ich mich ständig an der wüsten Realität abarbeite, geht es bei ihr nur um Illusion und Eskapismus.
Musikzeitschriften Lese ich nicht, habe ich aber auch früher nicht gelesen. In der Welt, in der ich aufgewachsen bin, verbreitet sich Musik normalerweise über Clubnächte und durch Mixtapes, nicht durch Presse.
Networking Das kann die Musik auf Dauer auch kaputtmachen. Am liebsten mag ich Bands wie Crystal Castles oder Sleigh Bells, die nie mit anderen Leuten zusammenarbeiten. Dieser ganze Network-DJ-Dingsbums-Ansatz im heutigen Pop geht mir eh auf die Nerven: Jeder macht mit jedem einen Track, am Ende klingt alles gleich und stinklangweilig. Wenn wir nicht aufpassen, verwandeln wir uns noch genau in die Art von Großunternehmen, gegen die wir früher angebrüllt haben.
Obama Lasst ihn in Ruhe! Er hat die Gesundheitsreform auf den Weg gebracht, und ansonsten begreift er doch sicher selbst erst jetzt, auf was er sich da eingelassen hat. Es wäre extrem unfair, einen einzigen Mann dafür verantwortlich zu machen, was in Amerika alles schiefläuft.
Plattenläden Besuche ich in London regelmäßig. „Sounds“ in der Portobello Road, „Dub Vendor“ in Ladbroke Grove, „Rough Trade“ natürlich. Ihnen verdanke ich viel. Klar, sie müssen kämpfen. Aber die Kunden werden wiederkommen.
Quentin Tarantino Ich war immer Fan. „Pulp Fiction“ ist ein absolut toller Film, mein Favorit von ihm. Allerdings geht bei ihm öfter mal was daneben – das hängt sicher davon ab, mit wem er im Jahr davor rumgehangen ist. Er soll seine Freunde klug auswählen und sich von ihnen nicht reinreden lassen.
Raubkopierer Meine Fans holen sich meine Platten illegal aus dem Internet – aber sollen sie doch! Ohne das Netz hätte ich es nie geschafft. Am Anfang standen meine Platten in keinem Laden, weil die Leute nicht wussten, wo sie die einordnen sollten. Die Geschäfte gibt es heute nicht mehr. Mich schon noch.
Sex Sex ist nicht sexy. Das sexieste Foto, das ich derzeit kenne, ist das Bild der 17-jährigen, verschleierten Selbstmordattentäterin, die im April das Attentat in der Moskauer U-Bahn mit verübt hat (die Dagestanerin Dschhennet Abdurachmanowa, die auf einem später veröffentlichten Foto in militanter Pose mit ihrem Ehemann zu sehen ist). Natürlich ist es grauenhaft, was sie getan hat. Trotzdem hat dieses Bild für mich etwas Ikonenhaftes: Die Frau verkörpert das Gegenteil zu dem schamlosen, komplett durchsichtigen Bild von Weiblichkeit, das wir jeden Tag durch die Medien gefüttert bekommen.
Twitter Genau dieses Foto habe ich getwittert, als alle über meine Bemerkungen über Lady Gaga diskutierten (In einem Interview hatte M.I.A. Lady Gaga vorgeworfen, sie sei zu abhängig vom Geld großer Firmen). Und kein Mensch hat sich dafür interessiert. Wenn ich etwas Böses über Lady Gaga sage, gibt es eine Riesendiskussion. Wenn ich ein Foto einer Selbstmordattentäterin poste, antwortet mir nur die große Stille.
Underground Im Internet kann man kein Underground mehr sein. Facebook und MySpace brauchen jeden User, weil er ihren Marktwert steigert – die saugen dich automatisch aus deiner Nische. Aber es wird bald einen neuen Underground geben. Bewohnt von Leuten, die mit Computern umgehen können, aber gegen Social Networking immun sind.
Videos Sehr wichtig. MTV hat den Videos ihre Bedeutung ge- raubt, aber Roman Gavras (Regisseur des „Born Free“-Videos) ist einer von denen, die sie zurückbringen.
Werbung Ich habe noch nie einen Song verkauft. Ich warte und warte, bis irgendwann der Richtige fragt.
X -Factor In der Show trete ich bald mal auf. Das löst dann vielleicht meine Geld- probleme.
YouTube Natürlich wurde mein „Born Free“-Clip heruntergenommen – wie ungefähr jedes zweite Video, nach dem ich dort suche. Zuletzt wollte ich ein paar iranische Lieder anhören: Alle weg. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein besserer Anbieter kommt, der unsere Sachen endlich hosten und zeigen wird.
Zukunft Ich weiß noch nicht, wie es weitergehen wird. Am liebsten wäre ich ein Hacker, aber dazu müsste ich wohl erst mal ein zehnjähriges Training in China absolvieren. Auf jeden Fall will ich noch mehr Kinder – damit mein Sohn Ikhyd nicht zu verwöhnt wird. Was aus ihm werden soll? Natürlich auch ein Hacker. Er soll ruhig ein paar Jahre nach China gehen. Das Gute an Zwängen und Einschränkungen ist ja: Von ihnen lernt man erst so richtig die Sehnsucht nach dem Ausbruch.
Aufgezeichnet von Joachim Hentschel