Durch den Konsum
Die jungen Leuten wollen nur Mobilfunk, keine Musik mehr - wird jedenfalls oft gesagt. Gibt es den Teenage-Pop-Fan echt nicht mehr? Wir fragen dort, wo Erwachsene kaum hinkommen: bei Konzerten von Tokio Hotel und Daniel Küblböck.
Sie schreien, und wenn es das Letzte ist, schreien, auch wenn es weh tut, schreien, so laut sie können. Der gellende, beutende, allesfressende Lärm, den knapp 5000 Teenager ohne fremde Hilfsmittel machen können, ist nicht zu ertragen – das Girl, das ins ausgefranste Blickleid taumelt, ist höchstens 13, hält sich die Ohren zu. Und schreit. Hält sich die Ohren zu und schreit trotzdem, so laut sie kann.
Wenn die Magdeburger Band Tokio Hotel in die Stadt kommt, beginnt das Schreien schon anderthalb Stunden, bevor irgendeiner Gitarre spielt. 120 Dezibel werden es im Konzert, hat die Crew gemessen, die Musik schafft nur 110. Niemand hat die Töchter eingesperrt, wie Veranstalter es ganz früher empfohlen haben – die Töchter standen nämlich schon seit halb acht Uhr früh in der Dezemberkälte vor dem „Zenith“ in München an, zehn Stunden in der Schlange, haben die selbstgebastelten Transparente verteidigt und sich die Namen ihrer Lieblingsmitglieder (meistens: „Bill“, „Tom“) mit schwarzen Stiften in die Gesichter geschrieben, was auch bei hellblonden Teenagern furchterregend aussehen kann. Zur selben Zeit räumen die Zimmermädchen im „Park Hilton“ die Minibars aus – man hört, das sei vorgeschrieben, seit eine Suff-Party der Musiker (zwei sind 16, einer 17, einer 18) in die Klatschpresse kam.
„Wir sind jung und nicht mehr jugendfrei, eure Rechnung ist mit uns nicht aufgegangen!“ geht das Lied, mit dem Tokio Hotel um Punkt sieben beginnen, ziviler Ungehorsam liegt in der Luft, irgendwo. Um den offensichtlichsten kulturellen Stereotyp zu erwischen, sagen wir mal: wie beiden Beatles.
Obwohl erwachsene Musikfreunde kräftig Muffensausen hätten, wenn sie das Wohl und Wehe einer Band von Beatles-Qualität tatsächlich in den Händen von Teenagern vermuten würden. Das ist das Eigenartige: So sehr der Pop in den 50ern und 60ern auf die ganz jungen Leute zielte, als so schlimme Beleidigung gilt es heute, wenn ein Künstler „Teenie-Musik“ macht. Die gab es immer, von den Bay City Rollers über Vergessene wie Big Fun bis zu den Backstreet Boys – insofern sind die Tokio-Riots nichts Neues für den Frühdreißiger, der alles aus sicherer Distanz beobachtet. Was Teenager wirklich den ganzen Tag lang tun, wie sie reden, warum sie bestimmte Musik gut finden, das weiß er trotzdem nicht.
Soziologen und kluge Feuilletonisten haben ja erklärt, wie sehr sich die jungen Erwachsenen heute an ihr altes Jugend-Gefühl klammern. Marktforscher zeigen, daß CDs vor allem von über 40jährigen gekauft werden. Teenager? Interessieren sich nicht mehr für Pop, sagt man. Stecken angeblich fest in der Handy-Schuldenfalle, kaufen sich Gummi-Armbänder und X-Boxen, leben halb im Internet. „Generation Klingelton“. Jugendliche heute sind pragmatisch“, faßt die aktuelle „Shell‘-Jugendstudie zusammen: unpolitisch, aufs eigene Vorankommen bedacht, ohne Ideologie. Kann so jemand überhaupt Fan sein?
Um das herauszufinden, muß man den Zynismus daheimlassen und an die Orte gehen, wo sich nicht mal die junggebliebensten Erwachsenen hintrauen. Dorthin, wo Teenager noch das Privileg genießen, wirklich nicht verstanden zu werden. Wer es gewohnt ist, daß etwaige ins Publikum geworfenen Trommelstöcke höflich dem gegönnt werden, der sie fängt, erlebt bei Tokio Hotel sein Kajalschwarzes Wunder: Das Schwitz-Handtuch von Gitarrist Tom Kaulitz wird im Handgemenge von neun, zehn Mädchen mit den Zähnen zerrissen, die fransigen Stücke verstauen sie in kleinen Handtaschen.
„Wie sie immer reingekommen und rausgegangen sind, einfach geil“, ruft Daniela (15), ihre erste echte Begegnung mit den Ritualen eines Rock-Konzerts. Sie hatte das Glück, von Sänger Bill beim „Schrei“-Song auf die Bühne gezogen zu werden, und kommentiert das gleich mit dem nonchalanten Showbusiness-Standardsatz: „Hab vor lauter Aufregung den Text vergessen.“ Die Tokio-Girls sind abgeklärt, wenn es um die eigene Rolle als irre Fans geht, nennen die romantischsten Geschichten um die Band „PR-Gags, typische Image-Mache“. Als Daniela das erste Video sah, ging sie zwar „sofort ins Internet, das hab ich noch nie gemacht, sofort rausgesucht und Fan“. Aber: „Meine Ma muß mir immer die ,Bravo‘ holen, weil’s mir selbst zu peinlich ist. Das ist ’ne Teenie-Baby-Zeitschrift.“ Wieviel Taschengeld das alles kostet? „60 Prozent“ sagen viele, unabhängig voneinander, manche: „Alles.“ Einige haben die Tickets für 50 Euro bei Ebay ersteigert.
Jessie (14) dachte am Anfang, da singe ein Mädchen. „Ich fand’s zuerst komisch“, sagt auch Verena (14), „irgendwann wurde es ein Ohrwurm. Als das Special rauskam, sind wir sonntags zur Tankstelle gefahren, um das zu kaufen.“ Vor Tokio Hotel wollte sie die ‚Bravo‘ nie. „Ich war früher so Anti-Kommerz, ich fand es immer blöd, wenn alle das Gleiche haben. Das hat sich gelegt. Aber ein Junge mit schwarzen Fingernägeln: Eigentlich ist das nicht Kommerz.“ Die schlimmsten Feinde sind US5, die Tänzel-Schwänzel-Buben.
Sie seien in der Klasse, in der Schule die einzigen, die Tokio Hotel mögen. Und werden geärgert dafür. Mit wem man vor und nach dem Konzert auch redet, alle sagen das. Ausnahmslos. Allein zu stehen, ist das Tokio-Gefühl, und nachrechnen kann man es nicht. Wird auch schwierig bei einer Platte, die bei Redaktionsschluß noch immer in den Top Ten steht.
„Wenn du sie einzeln triffst, dann sind sie nicht so, eher nett und zurückhaltend. Die schaukeln sich in der Masse gegenseitig hoch“, sagt Tokio Hotel-Gitarrist Tom. Als die Band für den Dreh des „Schrei“-Videos 70 Fans als Darsteller einlud, hatten sie sogar Furcht, die Party könne zu höflich werden – aber die Teenager verstanden, flippten für die Kamera aus. gaben sich besoffen, zerdepperten Sachen, knutschten. Das klassische Erwachsenen-Unken beim Betrachten solcher Szenen: Dafür werdet ihr euch in ein paar Jahren schön schämen.
Ob die Mädchen das bald auch so sehen? Ein reiner Verdacht. Man kann bestenfalls beispielhaft nachschauen, wie es einem anderen einstmals Angekreischten mit den Jahren ergangen ist.
2003, auf dem Höhepunkt seines Post-„Deutschland sucht den Superstar‘-Ruhms, landete Daniel Küblböck mit seiner ersten Single auf Platz eins der deutschen Charts. Sein „König von Deutschland“-Cover vom letzten Jahr erreichte nur noch die 29. das Album „Liebe Nation“ hielt sich eine Woche auf Platz 54. Konzerte gibt Küblböck immer noch, in kleineren Locations. für Eintrittspreise um die 50 Euro. „Langsam merke ich, daß nur noch die Insider kommen“, sagt er, „das sind Fans, die das versteckt irgendwo leben und versteckt meine Musik suchen, weil die Medien es nicht mehr abdecken.“ „Faniels“ nennen sich Daniels verbliebene Fans, die vor allem über ihre Internet-Foren beängstigend organisiert sind: Sie fahren in die Musikgroßmärkte und stellen Daniels Album ganz nach vorne in die Regale, reisen quer durch die Republik zu den Konzerten, schreiben Petz-Mails an Daniels Produzenten, wenn sie der Verkäufer beim Daniel-CD-Kauf schräg anschaut, und haben einen eigenen Radiosender. „Mein Weg zu Daniel“ heißt eine Rubrik in der selbstgemachten Faniel-Zeitschrift „Im Endeffekt“, in der Fans die Entdeckung ihres Fanseins wie ein Erweckungserlebnis schildern. Daniels Leiden daran, daß Viva sein neues Video boykottiert, vergleichen sie im Eifer der Empörung ihrer Forendebatten schon einmal mit dem Kreuzestod Jesu.
Ein großes, weißes Kreuz ist die einzige Bühnendekoration bei Küblböcks Konzert im Münchner Backstage. Enthusiasmiertes Schreien ist auch hier zu hören, vielleicht keine 120 Dezibel, was daran liegen mag, daß viele Faniels dem Kreische-Alter längst entwachsen sind. Bei aller Fixierung auf das Bühnengeschehen ist hier auch die Gemeinschaft mit den anderen Fans wichtig, sagt Lucille (21): „Ich gehe zu den Konzerten und Autogrammstunden, um Daniel wiederzusehen, aber auch die anderen Leute. Viele gehen hin und denken, jetzt kann ich Daniel endlich das Wichtige sagen, und er gibt mir eine Antwort. Die werden meistens enttäuscht.“ Doch auch so Verstörendes könne am Ende positiv wirken: „Wenn man sich ihm öffnet, dann bringt es einem auch was.“
Das beste Beispiel dafür folgt dem klassischen Saulus-Paulus-Topos: Bei den abgeklärteren Fans, die das Konzert am Bierstand verfolgen, erfahrt man die Geschichte eines erwachsenen Mannes, der sich früher selbst „härtester Anti aller Zeiten“ nannte, im bedeutendsten Anti-Daniel-Forum mächtig über die „Faniloten“ höhnte und durch die Liebe zu einer Faniel-Frau bekehrt wurde. Kürzlich haben sie zusammen die „Faniel-Army“ gegründet, ein Internet-Forum, das sich zum Ziel gesetzt hat, es allen Daniel-Hassern deftig heimzuzahlen.
Ungewohnt aggressive Töne, denn im Gegensatz zum latent düsteren Bill war Küblböck für seine Fans bislang eher ein Rebellionsangebot der sanften Sorte – man erinnere sich an sein Mantra von der „Positiven Energie“. Anders sein, dagegen stehen wollen auch die Faniels, doch sie tun das eher, indem sie pinkfarbene T-Shirts tragen und für soziale Projekte Geld sammeln. Während ihre Kolleginnen im Tokio Hotel-Forum zünftig über das Sexleben ihrer Band spekulieren, schwärmen sie von Küblböcks „Bauchi“ und „Öhrchen“.
Groß war daher die Verwirrung, als Küblböck ankündigte, nun seinerseits etwas finsterer werden zu wollen. Inzwischen lackiert er sich – wie Tokio-Bill – mitunter die Nägel schwarz, an einer Hand. Es gibt bereits Faniels, die ihr Herz zwischen Daniel und Bill gerecht geteilt haben – „rebellisch & crazy & sweet“, faßt „Danielmysunshine“ im Forum die Gemeinsamkeiten zusammen. Vielleicht ist das der Virtualität des Teenager-Lebens im Netz-Zeitalter geschuldet, vielleicht war es schon immer so: Es sind die Fans selbst, die die Projekte Tokio Hotel und Daniel Küblböck kreativ mit Inhalt füllen, die Leerstellen und Oberflächlichkeiten irgendwie besetzen. „Und nächsten Sommer lösen wir uns wieder auf, in vier kleine Träume an deiner Wand“, singt Tokio-Bill. Aber die Träume, die träumen Teenager noch immer höchstpersönlich.