Todessehnsucht

Vom Virus genesen, weiß unser Kolumnist Rocko Schamoni das Leben durchaus zu schätzen. Und wundert sich über die, denen es anders geht.

Ich hatte grade Corona. Mein alter Freund Koze empfahl mir für die unendlichen Stunden im Bett das Hörbuch von Jon Krakauers „In eisigen Höhen“, ein ca. elf Stunden dauernder Bericht über eine Mount-Everest-Besteigung im Jahr 1996, bei der 5 Menschen zu Tode kamen. Ich hörte es mir in meinem Dauneniglo durch und begann zu sinnieren über die Gründe, warum Menschen wohl derartige Strapazen auf sich nehmen, wenn der Lohn für all die Qual in vielen Fällen einfach nur der Tod ist. Warum steigen Menschen auf diesen Berg der Leichen, auf dem bereits über 300 Alpinisten zu Tode kamen, von denen mindestens 200 dortgeblieben sind? In voller Kleidung, meist bunt/ fröhlich liegen, sitzen, hocken, hängen dort die Leichen herum und können aufgrund der tiefen Temperaturen nicht verwesen, bleiben ewig unverändert wie im Moment ihres Todes, während ihre Freunde und Verwandten, die Zurückgebliebenen, zu Hause älter werden und ihren Lebensbogen vollziehen. So wird eine vierjährige Tochter im Lauf der Jahre zur alten Frau, während ihr Vater in hellgrünem Northface-Schneeanzug mit für immer 35-jährigem Gesicht in die Ferne Tibets starrt.

Andere, noch lebende Bergsteiger müssen über ihre toten Kollegen hinwegsteigen (mindestens zehn sind es auf der Nordroute), manchmal können sie nicht genau unterscheiden ob die Gestalt, die ein Stück weiter auf einem Plateau hockt, noch lebt oder bereits Leiche geworden ist. Das alles tun diese Menschen mit dem Bewusstsein, dass ihre eigene Chance sehr hoch ist, hier ebenfalls bald selbst als bunte Leiche für alle Zeiten festzustecken, da Bergungen grundsätzlich zu aufwändig sind.

Ganz oben auf dem höchsten Grat vor dem Gipfel – nach dem legendären Hillary Step – bilden sich lange baumarkthafte Schlangen von trashig gekleideten Wartenden, manchmal sind es 50 oder 60 Menschen, die darauf hoffen, dass die vor ihnen ihren Gipfelrausch endlich absolviert haben und abziehen. Da sich aber das Leben auf 8800 Metern als äußerst filigran und instabil erweist, kippen immer wieder Leute in diesen Schlangen um, sterben an Hirn und Lungenödemen und reihen sich in die bunten Leichenreihen ein, was die anderen Anwesenden zwar als unangenehm und ärgerlich empfinden, sie aber nicht davon abhält, ihr Ziel weiter zu verfolgen.

Für was das alles? Für welchen Gott, welche Politik, welche Erkenntnis sind diese Menschen bereit, ihr kostbares Leben – jenes unglaubliche und einmalige Wunder, das ihnen geschenkt wurde – herzugeben? Dafür, dass sie zwei Minuten auf dieser dämlichen Bergspitze herumstehen, ein Selfie machen, nichts empfinden außer Erschöpfung und Müdigkeit und dann weiter hasten, um die Schlange nicht aufzuhalten? Um sich zu beweisen, eine derartige Strapaze aushalten zu können? Um etwas ganz Besonderes zu sein? Nein – es ist die schiere Nähe zum Tod, die diese zumeist reichen westlichen Menschen suchen, die sie das Leben spüren lässt, denn alles andere hatten sie schon. Es ist dieselbe Todesnähe, die junge Männer auf deutschen Straßen mit frisierten Brüllmaschinen ihre Umwelt und Mitmenschen tyrannisieren lässt, im Angesicht des Todes erscheint ihnen das Leben erst in seinem vollen Glanz. Und es ist auch dieselbe Todessehnsucht, die Männer in den Krieg ziehen lässt – Ernst Jünger spricht vom „Abenteuer männlicher Bewährung im Angesicht des Todes“. Mit den Berichten über dieses Phänomen aus dem Ersten Weltkrieg sind Bände gefüllt worden.

Ich persönlich empfinde diese Art von Rendezvous mit dem Tod als asozialen Egoismus, denn häufig zieht die Begegnung des Todessuchenden ja auch die Menschen um ihn herum mit in den Strudel des Untergangs. Und ich möchte betonen, dass es zumeist Männer sind, die diese fatale Begegnung suchen, da Frauen mit wichtigerem beschäftigt sind, zum Beispiel mit der Erschaffung des Lebens. Als Frau würde ich mir überlegen, ob ich weiterhin bereit wäre männliche Nachfolger für diese Schlange der Idiotie zu produzieren. Wer das Leben nicht zu schätzen weiß, sollte damit vielleicht gar nicht erst belastet werden.

P.S. Bezüglich des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine möchte ich euch allen noch mal das wichtige Buch „Über Tyrannei – Zwanzig Lektionen für den Widerstand“ von Timothy Snyders ans Herz legen! Der „Spiegel“ schrieb dazu: „Eine hochpolitische Brandschrift, die sich wie eine letzte Warnung der drohenden Apokalypse liest.“

Autorenbild von Kerstin Behrendt

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