Drogenstaat Afghanistan – Wie Heroin ein Land regiert
Eine Bilanz nach mehr als 13 Jahren Krieg: die Taliban sind ungeschlagen – und die Drogen-Bosse stark wie nie
Während der Angriffe, berichtet er, seien die Einwohner von Baramcha regelmäßig über die Grenze nach Pakistan geflüchtet, wo das pakis-tanische Militär Stellung bezog und zu ihrem Schutz so lange ausharrte, bis die Amerikaner wieder abzogen. „Die haben enge Verbindungen zum ISI“, sagt er über das Verhältnis der Drogenschmuggler zum pakistanischen Geheimdienst. Ähnliches behauptet er auch von den Herren der Stadt: „Sie besitzen Häuser auf der pakistanischen Seite.“ (Der ISI streitet jede Verbindung zu den Schmugglern oder den Taliban ab.) Nach Schätzungen der Vereinten Nationen machen die Taliban viel Geld, indem sie Steuern auf den Opiumhandel und andere illegale Geschäfte erheben. Aber dieses Geld ist nur ein Bruchteil der drei Milliarden Dollar, die Afghanistan mit der Droge verdient. Um die größten Nutznießer des Opiums zu finden, muss man den Blick von den Mohnpalästen in Baramcha auf die Paläste in Kabul lenken. Die Allianzen der USA mit den Opiumschmugglern in Afghanistan reichen zurück bis in die 90er-Jahre, als die CIA in dem Land einen schmutzigen Krieg gegen die sowjetischen Besatzer führte. Obwohl Opium im Hochland von Afghanistan bereits seit Jahrhunderten angebaut wird, wurde in Helmand der Anbau im großen Stil erst von Mullah Nasim Akhundzada eingeführt, einem Mudschaheddin-Kommandeur, der die Unterstützung sowohl des ISI als auch der CIA genoss. Das von USAID bewässerte Ackerland war ideal für den Drogenanbau, und nachdem Akhundzada der kommunistischen Regierung die Kontrolle über das Gebiet abgerungen hatte, führte er Produktionsquoten ein und zahlte den Bauern, die Opium anpflanzten, Vorschüsse auf ihre Ernte. Als Anfang der 90er-Jahre der Bürgerkrieg in Afghanistan ausbrach, stiegen die Akhundzadas zu den mächtigsten Warlords der Provinz auf und wurden 1995 erst durch die Taliban entmachtet. Und obwohl die Fundamentalisten den Drogenkonsum strikt untersagten, war die Förderung des florierenden Drogenhandels eine ökonomische Grundlage für die Erfolge der Taliban. Im Sommer 2000 aber verkündeten die fundamentalistischen Herrscher dann überraschend ein totales Verbot des Opiumanbaus. „Eine Entscheidung der Taliban, die wir begrüßten“, wie der ehemalige Außenminister Colin Powell erklärt. Was Mullah Omar, den öffentlichkeitsscheuen Führer der Taliban, zu dieser Entscheidung veranlasste, bleibt ein Rätsel. Aber die Taliban setzten seine Direktive mit der üblichen Härte durch. Wer in Helmand beim Anbau von Opium erwischt wurde, wurde geschlagen und – das Gesicht mit Motoröl geschwärzt – durchs Dorf getrieben. Im darauffolgenden Frühjahr wurde die einzige nennenswerte Opiumernte in einer Ecke im Nordosten des Landes eingefahren, die noch immer von den Rivalen der Taliban, der Nördlichen Allianz, kontrolliert wurde. Die Opiumproduktion verringerte sich zwischen 2000 und 2001 von geschätzten 3.276 auf 185 Tonnen. Doch dann mischte die Geschichte die Karten neu: Nach den Attentaten vom 11. September 2001 kollaborierte die Regierung Bush im Bemühen, mittels einer „Light-footprint-Strategie“ die Kontrolle über das Land zu gewinnen, mit jenen Warlords, die sich gegen die Taliban stellten. Das schloss auch die Nördliche Allianz mit ein. In ihrem Streben nach Rache für die Anschläge verhalfen die USA auch zwielichtigen lokalen Stammesführern zu großer Macht – manchen, denen schwere Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden, darunter berüchtigte Warlords wie Mohammed Fahim und Abdul Rassoul Sayyaf, deren rivalisierende Mudschaheddin-Gruppen Kabul in Schutt und Asche legten und von denen später der eine zum Vizepräsidenten des Landes aufsteigen und der andere Parlamentsabgeordneter werden sollte. Dies war die erste einer ganzen Reihe von Entscheidungen, die der afghanischen Opium-Wirtschaft zu einer neuen, sehr viel größeren Blüte verhalfen. Nur sechs Monate nach der US-Invasion hatten die von den USA unterstützten Warlords den Opiumhandel unter ihre Kontrolle gebracht, und im Frühjahr 2002 wurde eine Rekordernte von mehr als 3.200 Tonnen eingefahren. Derweil bemühten sich die internationale Gemeinschaft und die afghanische Regierung, die Drogengegner mit Lippenbekenntnissen zu beruhigen, wobei Letztere davon fantasierte, eine offizielle Strategie zu verfolgen, welche die Opiumproduktion binnen fünf Jahren um 75 Prozent reduzieren und in nur zehn Jahren vollständig zerschlagen würde. In Wirklichkeit setzte Hamid Karzai, der quasi aus dem Nichts zum Präsidenten aufgestiegen war, alles daran, mit Duldung der USA ein politisches System zu verankern, das mit dem Opiumhandel eng verbunden sein würde. Im Norden des Landes gewann er die Nördliche Allianz als Partner, und in seiner Heimat im Süden ernannte er Sher Mohammad Akhundzada, den Neffen des inzwischen verstorbenen Mullah Nasim – ebenjenes Mannes, der den Opiumanbau im großen Stil in Afghanistan eingeführt hatte –, zum Gouverneur von Helmand. „Die Drogenkorruption reichte nun bis in die oberste Regierungsebene Afghanistans“, schrieb Thomas Schweich, der von 2006 bis 2008 US-Koordinator für Drogenbekämpfung in Afghanistan war. „Sicher, unter Karzais Gegnern, den Taliban, gab es ebenfalls Leute, die vom Drogenhandel profitierten, aber er hatte sehr viel mehr Unterstützer, auf die das gleichermaßen zutraf.“ Das waren goldene Zeiten für Helmands Drogenschmuggler. (Weder das Büro von Karzai noch das des amtierenden Präsidenten, Aschraf Ghani, wollte sich für diesen Artikel dazu äußern.) In Lashkar Gah treffen wir einen Mann namens Saleem (Name ebenfalls geändert), einen ehemaligen Schmuggler, der 2002 sein erstes Heroinlabor aufbaute. Ein Schritt weiter in der Wertschöpfungskette, der eine schöne Gewinnmaximierung verspricht. Mit seinem ausladenden Bauch und seinem pausbäckigen, rosigen Gesicht sieht Saleem wie der kleine Bruder des Weihnachtsmanns aus. „Opium benötigt eine Menge Platz und wirft weniger Profit ab“, erklärt er seinen Wechsel ins Heroinproduktions-Geschäft. „Ich habe sowohl in den von der Regierung als auch in den von den Taliban kontrollierten Gebieten gearbeitet“, sagt er lachend. Saleem verkaufte sein Heroin an iranische Drogenhändler in Nimrus, einer riesigen, größtenteils aus Wüste bestehenden Provinz westlich von Helmand, deren Wirtschaft nahezu ausschließlich auf Opium basiert. Wie andere Schmuggler und die Informanten aus den afghanischen Strafverfolgungsbehörden beschreibt er ein System, in dem die Polizei und lokale Regierungsbeamte integraler Bestandteil der Kette sind. Das gehe sogar so weit, dass die Polizei häufig in seinem Auftrag Drogen transportiert habe, insbesondere auf dem letzten und gefährlichsten Abschnitt der Route, wo die iranischen Grenztruppen einen verbissenen Kampf gegen die Schmuggler führen. „In der Regel sprachen wir mit jemandem von der Regierung, der die Drogen dann zur Grenze brachte. Dort hatten die iranischen Schmuggler einen eigenen Mann, der darauf wartete, sie entgegenzunehmen“, beschreibt Saleem seine Vorgehensweise. In den ersten fünf Jahren war das Risiko gering. Das Geschäft lief gut. Aber die internationale Gemeinschaft sah sich vom afghanischen Opium-Boom zusehends herausgefordert. Strafverfolgungsbehörden wie die amerikanische DEA begannen ihre Aktivitäten in Kabul auszuweiten. Die Briten, die im Rahmen der erweiterten NATO-Mission Helmand übernahmen, bestanden 2005 darauf, dass der von Präsident Karzai eingesetzte Gouverneur, Sher Mohammad Akhundzada, wieder abgesetzt werde, nachdem ein von ihnen geführtes Team bei einer Razzia auf seinem Anwesen neun Tonnen Opium und Heroin gefunden hatte. (Akhundzada behauptete, er habe die Drogen von Schmugglern beschlagnahmt und sie vernichten wollen.) Zwischen denen, die sich im Kampf gegen Drogen engagierten, und der Karzai-Regierung schwelte ein Konflikt. Bis eine dritte Macht sich einschaltete: die Generäle des Pentagon, die fürchteten, dass das Vorgehen gegen den Drogenhandel den Vormarsch ihrer Truppen behindern würde. Zu den Eigenheiten speziell des afghanischen Drogenstaats – und von Drogenstaaten allgemein – gehört, dass der Fuchs immer wieder damit betraut wird, den Hühnerstall zu bewachen. So wurde etwa ein Drogenkurier aus Helmand mit einem Passierschein erwischt, der von General Mohammed Daud Daud, dem Chef der afghanischen Antidrogenpolizei, persönlich unterzeichnet war. Und der des Drogenhandels überführte Izzatullah Wasifi wurde von Karzai zum Leiter einer Behörde berufen, deren Aufgabe ausgerechnet darin bestand, die Korruption zu bekämpfen. „Karzai führte uns an der Nase herum“, schrieb Thomas Schweich, der US-Koordinator für Drogenbekämpfung in Afghanistan. Im Süden des Landes, wo das meiste Opium angebaut wurde, vertraute Karzai neben Akhund-zada in Helmand auf seinen eigenen Halbbruder Ahmed Wali Karzai, dem er den Posten des Gouverneurs der Provinz Kandahar übertrug. Wali, der im Ruf stand, beim Drogenhandel im Süden des Landes eine zentrale Rolle zu spielen, beteuerte bis zu seiner Ermordung im Jahr 2011 seine Unschuld. Von US-Seite hieß es, dass es keinerlei konkrete Beweise für das Gegenteil gebe. Aber auf Reisen nach Helmand und Kandahar wurde uns von amerikanischen und afghanischen Quellen sowie von diversen in den Drogenhandel verwickelten Personen bestätigt, dass Wali einem System vorstand, in dem korrupte Regierungsvertreter gegen Schutzgeldzahlungen mit Schlüsselpositionen betraut wurden. „So funktioniert das organisierte Verbrechen: Man stellt keine Fragen, solange man seinen Anteil erhält“, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter des US-Justizministeriums mit langjähriger Afghanistan-Erfahrung. „Im Süden wurden die wichtigsten Checkpoints am Highway 1 von Ahmed Wali kontrolliert“, verrät ein Beamter der afghanischen Polizei und spricht dabei von der einzigen Straße, die sämtliche Provinzen des Landes miteinander verbindet. „Nehmen wir mal an, 20 Leute tun sich zusammen, um in Jalalabad eine Tonne Opium zu kaufen. Alle haben in ihren jeweiligen Distrikten Beziehungen zum Polizeichef und zum Gouverneur. Sie schicken einen Mann zum Checkpoint, der den Kommandeur bezahlt und ihn wissen lässt, welchen Lkw er passieren lassen soll.“ Gerade als das Ausmaß von Drogenhandel und Korruption in Afghanistan evident wurde, führte die Truppenaufstockung durch Präsident Obama im Jahr 2010 zu einer Änderung der Regeln. Dass nun Zehntausende von Soldaten und Milliarden von Dollar ins Land strömten, war eine einmalige Chance, dem Opiumproblem zu begegnen. Stattdessen geschah das Gegenteil. Ironischerweise führte die Truppenaufstockung dazu, dass das Militär dieselben Allianzen mit den Warlords einging wie schon im Rahmen der „Light-footprint-Strategie“ in der Bush-Ära. Hatte die Rechtfertigung vorher gelautet, dass es zu wenige Soldaten im Land gebe, hieß es nun, es seien zu viele. Obama hatte dem Militär nur vier Jahre Zeit gegeben, um 100.000 Soldaten ins Land zu bringen, die Taliban zu schlagen und eine handlungsfähige afghanische Armee und Polizei aufzubauen. Jedes Mal standen also die zu kurzfristig gedachten Kampfbefehle des amerikanischen Oberkommandierenden über den langfristigen Bedenken bezüglich Korruption, Drogen und Menschenrechtsverletzungen. Für ihre Verwicklungen in den Drogenhandel bekannte Figuren wie der Präsidentenbruder Ahmed Wali wurden als für die Kriegsanstrengungen zu wichtig erachtet, um sie zur Rechenschaft zu ziehen. „Der Kampf gegen das Opium hatte nicht Priorität“, sagt Jean-Luc Lemahieu, der von 2009 bis 2013 Leiter des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung in Afghanistan war. „Die eigenen Truppenverluste zu reduzieren dagegen schon, auch wenn das bedeutete, unheilige Allianzen mit Akteuren unterschiedlichster Couleur einzugehen.“ Laut offizieller amerikanischer Seite wurde auf behördenübergreifender Ebene eine informelle Absprache getroffen: Die DEA, das FBI sowie Justiz- und Finanzministerium würden nicht gegen in den Drogenhandel verwickelte führende afghanische Verbündete ermitteln. Stattdessen konzentrierte man sich auf Drogenhändler aus dem Umfeld der Taliban. „Das sind DEA-Agenten – die wollen losziehen und Leute schnappen“, erklärt der ehemalige Vertreter des Justizministeriums. „Diese Leute haben die Botschaft verstanden und die richtigen Schlüsse daraus gezogen: Wir haben Zeit, wir können warten. Die Beweise werden nicht verschwinden.“ In der Zwischenzeit sollten DEA und FBI versuchen, sich durch das afghanische System zu arbeiten, indem sie verschiedene Spezialeinheiten der dem Innenministerium unterstellten Anti-drogenpolizei ins Leben riefen. Das afghanische Personal wurde von seinen amerikanischen Mentoren handverlesen. Sie unterstanden dem direkten Befehl von General Baz Mohammad Ahmadi – dem Nachfolger von Daud –, einem geschickten Taktierer, dessen Spitzname, „Teflon-Chamäleon“, auf seine Fähigkeit anspielte, immer genau zu wissen, wie weit oben in der Befehlshierarchie seine Teams ihre Ziele auswählen konnten. „Ich nenne es das Ikarus-Phänomen: Sie wissen, wie hoch sie fliegen können, bevor die Sonne ihre Flügel schmelzen lässt“, erklärt der ehemalige Mitarbeiter des Justizministeriums. Im vergangenen Jahr verkündeten Ahmadi und seine amerikanischen Berater dann voller Stolz die Festnahme von Haji Lal Jan, der von offiziellen Stellen als einer der größten Drogenhändler Südafghanistans bezeichnet wird. Ursprünglich aus Helmand stammend, hat Lal Jan sowohl afghanische Regierungsvertreter als auch Taliban-Kommandeure geschmiert, um gewaltige Opiumlieferungen außer Landes zu schaffen. „Er war ein angesehener Geschäftsmann mit guten Kontakten zu den höchsten Familien Afghanistans, machte aber gleichzeitig gemeinsame Sache mit den Taliban, die er mit großen Geldsummen unterstützte“, sagt ein in der Drogenbekämpfung leitender Bündnisvertreter. „Hier gibt es noch eine ganze Reihe von Haji Lal Jans.“ Lal Jan war immerhin so berüchtigt, dass Obama ihn bereits im Juni 2011 einen „ausländischen Drogenboss“ nannte, dennoch lebte er vor aller Augen mitten in Kandahar – wie allgemein angenommen wird, unter dem Schutz von Karzais Bruder. „Erst Walis Tod verschaffte den nötigen Spielraum, ihm das Handwerk zu legen“, sagt ein Regierungsvertreter. Laut offiziellen afghanischen und amerikanischen Stellen und wie aus gerichtlichen Dokumenten hervorgeht, die dem ROLLING STONE vorliegen, lieferten mehrere Drogenschmuggler Lal Jan im Herbst 2012 ans Messer, indem sie ihn als ihren Boss identifizierten. Am 26. Dezember 2012 führte dann eine Einheit der afghanischen Polizei eine Razzia in Lal Jans Haus durch. Allerdings konnte der Gesuchte entkommen. Er rief angeblich den Gouverneur von Kandahar, Toryalai Weesa, an. „Weesa ließ ihn glauben, er würde Karzai anrufen, um herauszufinden, wie es zu der Razzia kommen konnte, und sagte ihm, er solle auf seine Rückmeldung warten“, berichtet ein afghanischer Beamter, der in die Ermittlung involviert war. „Das Überwachungsteam hörte Jans Telefon ab und war so in der Lage, ihn zu lokalisieren und festzunehmen.“