Drill ist der Rap-Sound der Stunde – und Ice Spice seine Königin
Und nebenbei hat Ice Spice eine Kultfigur erfunden: den Munch
Ice Spice hat noch nicht viel von Atlanta gesehen, als sie mit dem ROLLING STONE telefoniert. Aber sie hat sich bereits ein Urteil gebildet, wie man es von einer eingefleischten New Yorkerin erwarten würde: „Es sieht ein bisschen aus wie Jersey.“ Die 22-jährige Rapperin ist zum ersten Mal in der Stadt, sie will an den BET HipHop Awards teilnehmen, dem letzten in einem Wirbelwind von Auftritten, seit „Munch (Feelin’ U)“ das Internet erobert hat. Es ist eine der größten Award- Shows in den USA, Kendrick Lamar räumt dabei in den Hauptkategorien ab – Ice Spice bleibt staunender Zaungast.
Doch ihr HipHop-Track ist der Ohrwurm der Saison. Er fügt den Melodien des bereits dominanten New Yorker Drill-Sounds eine gewisse, nun ja, Würze hinzu. „‚Munch‘ bringt den Spaß an Drill zum Vorschein“, sagt sie. „Vorher war Drill meist ein bisschen zu ernst, manchmal ein bisschen zu gewalttätig, was ja irgendwie auch cool ist. Ich hab den ganzen Tag lang diesen Rah-Rah-Scheiß gemacht – aber ‚Munch‘ hat definitiv die lässige Seite an mir rausgekitzelt.“
Drill ist eine immer populärer werdende Spielart des Trap-Rap, die aus Chicago stammt und auf kurzen, düsteren Tracks mit oft gewaltverherrlichenden, nihilistischen Lyrics fußt. In den vergangenen Jahren haben sich lokale Spielarten herausgebildet – wobei sich der Bronx Drill durch Verwendung geschmeidigerer, meist älterer Soul-, HipHop- und Funk-Samples heraushebt.
In der Bronx wurde Ice Spice als Isis Gaston geboren. Und dem Stadtbezirk verdankt sie ihren Zugang zur Musik. „Das Leben dort war manchmal ein bisschen chaotisch, aber es hat meistens Spaß gebracht“, sagt sie. „New York hat mich selbstbewusst gemacht.“ Auch ihr Vater war Rapper, wenn auch kein bekannter, und Ice Spice erinnert sich, dass ihre Mutter immer gesungen hat. „Ich habe das Gefühl, mit Musik geboren zu sein, ganz natürlich.“
„Der Munch ist nämlich nicht nur verfressen, er ist auch ein Hater“
Mit Hilfe des Drill-Produzenten RIOTUSA, den Ice Spice während ihres Studiums an der New York State University kennenlernte, entstand „Munch“. „Ich nahm in meinem Zimmer auf, wollte schnell einen Song machen, als mir diese Figur in den Kopf kam: ein verzweifelter Mann, der die ganze Zeit essen will. And I was just, like, ‚munch‘. Ich beschreibe diese Figur als das, was sie ist: ein mampfender Fresssack.“ „You thought I was feeling you?“, erkundigt sich Ice Spice mit einem hinterhältigen Anflug von falschem Mitleid in der Hookline des Songs. „That nigga a munch/ Nigga a eater, he ate it for lunch.“
Der Track wurde schnell ein Hit, auch dank TikTok. Zunächst schoben Kritiker den Erfolg des Songs auf das Video, in dem ein Großteil der Bildschirmzeit den Konturen des Körpers von Ice Spice gewidmet ist. Aber es dauerte nicht lange, bis sie auch den Text auswendig mitsprachen. „Viele meinten zuerst: Das ist Müll“, sagt Ice Spice. „Doch am nächsten Tag sagten sie: Der Track geht mir nicht mehr aus dem Kopf.“ In zahllosen Videos und Memes konnte man in Echtzeit beobachten, dass viele Menschen, meist Männer, die versucht hatten, Spice’ Sexualität gegen sie zu verwenden, sich schließlich selbst als Munchs entpuppten. „Denn der Munch ist nämlich nicht nur verfressen, er ist auch ein Hater“, fügt sie hinzu.
„Munch“ ist eine Art Fallstudie über das Potenzial von Drill als erweiterter Klangpalette für Hip-Hop und Pop. Mit einer gleichmäßig rollenden Kadenz schwebt Ice Spice über die triefende Stakkato-Percussion des Stücks. Schon jetzt singen und tanzen alle, von Studentinnen in Kalifornien bis hin zu Teenagern in der Bronx, in Online-Clips zu ihrem Track. Sogar Drake ist ein Fan. Auf Instagram lobte er ihre Musik und lud Ice Spice zu seinem Festival ein. Und der strenge HipHop-Kritiker Joe Budden, in den Nullerjahren selbst Eastcoast-Rapper, gibt in einem Podcast-Clip eine perfekte Munch-Imitation und rappt genüsslich zu dem Track, während seine Co-Moderatoren geschockt tun.
In den sozialen Medien verbreitete sich der Clip rasend. „Dieser Scheiß war so lustig!“, freut sich Ice Spice. „Ich habe sehr gelacht. Irre, dass Joe das macht, denn ich glaube, dass er nur schwer zu begeistern ist!“
Für die Zukunft habe sie große Pläne, sagt die Rapperin. Noch vor Ende des Jahres würde sie gern ein komplettes Album veröffentlichen. Und es scheint, als habe der Erfolg sie milde gestimmt – den Protagonisten ihres Hits gewährt Ice Spice jedenfalls noch eine Gnadenfrist: „Die Fresssäcke sollen bitte weiter essen, denn wir brauchen sie noch!“