Drei sind keiner zu wenig
Tour, „Best Of“ - und neues Album: R.E.M. haben viel zu tun - und noch mehr vor. Sie wollen die beste Band der Welt sein, und dafür brauchen sie nur wenig Unterstützung. Das Trio genügt sich selbst.
Vancouver, 5. Mai. 19 Uhr, sonnig. Der Arbeitstag geht früh zu Ende für R.E.M., eine Ausnahme. Normalerweise würden sie noch in den „Warehouse Studios“ sitzen, um an drei Projekten gleichzeitig zu arbeiten: Am 27. Oktober kommt ein „Best Of“-Album, für das zumindest zwei neue Songs gebraucht werden. Im nächsten Jahr soll die nächste reguläre Platte erscheinen, für die schon jetzt fleißig neue Lieder getestet und aufgenommen werden. Und dann ist da die Tournee, für die R.E.M. auch noch proben müssen. Das bleibt einer Band selbst nach gemeinsamen 23 Jahren nicht erspart.
Aber heute gönnen sich Peter Buck, Michael Stipe und Mike Mills einmal einen fast freien Abend. Sie dinieren im „Cioppino’s Mediterranean Grill“ Im hippen Stadtteil Yaletown und reden doch die meiste Zeit über Musik. Sie können gar nicht anders, eins führt zum anderen. Es wird besprochen, welche Lieder man live bringen sollte. (Buck: „Manche alten Songs hat man irgendwann ein bisschen satt. Wir haben „Driver 8“ länger gespielt, als die Beatles je irgendeinen Song“), wie nett es damals war, mit Roger McGuinn in Athen zu spielen. Buck hat sogar das Bootleg von, „das mit den hässlichen Storchen, wie er Stipe erklärt. Buck hat praktisch alles, und er weiß über fast jede Band alles. Dafür hat Stipe die lustigsten Geschichten. Wie er versuchte, sich „XMen 2“ anzusehen, aber die Filmkopie kaputt war. Nicht so schlimm, denn er hatte schon bei der Vorschau Angst, dass Halle Barrys wasserstoffblonde Langhaar Perücke abfallen könnte. Ersatzweise setzte er sich in einen Automaten, der Fotos mit lustigen psychedelischen Hintergründen schießt.
Ein kleiner Zwischenfall, exemplarisch. Manager Bertis Downs beißt aus Versehen in eine Scheibe Brot mit Sonnenblumenkernen. Auf die er allergisch ist. Er wiegelt ab, es sei ja nur wenig gewesen. Doch Stipe ist schon am Handy, um den Tourmanager Bob Whittaker zu rufen, der ulkigerweise dieselbe Allergie hat und Pillen bringen kann. Die Sorge, die Stipe ins Gesicht geschrieben steht, ist rührend und typisch für den R.E.M.-Clan: Diese Leute müssen nicht betonen, dass sie einander viel bedeuten, man merkt es auf den ersten Blick. Wie vertraut sie miteinander umgehen, wie entspannt trotz der vielen Arbeit die At6mosphäre ist. Stipe behauptet allerdings, seine Rettungaktion habe rein pragmatische Gründe. „Ich habe einfach Angst, dass si einen Asthma-Anfall bekommst und ich dann nicht weiß, was ich machen soll.
Nach dem Essen (Salat für Stipe, Fleisch für die anderen) geht Buck dann doch zu Fuß zum Hotel, auch wenn Downs besorgt anmerkt, dass überall auf den Straßen frustrierte Hockey Fans lauern könnten – die heimischen Canucks mussten gerade eine böse Niederlage einstecken. Aber Buck stellt sich nicht an. Wenn die Band schon wochenlang von zu Hause weg ist, will er hier wenigstens so normal wie möglich leben. Mit einem „Sweet dreams!“ verabschiedet sich Stipe und ruft ein Taxi. Mills ebenso. Ein bisschen Erholung, der nächste Arbeitstag wird wieder hart.
Die „Warehouse Studios“ liegen zwar im nicht ganz so schicken Gastown-Bezirk, sind aber der Himmel für Musiker, die sich gewöhnlich mit muffigen Aufnahme-Räumen ohne natürliches Licht abfinden müssen. Sie gehören Bryan Adams, der die üblichen Studio- Bedingungen wohl selbst nicht mehr ertragen konnte. Riesige Fensterfronten geben den Blick auf die Stadt und die Berge dahinter frei, überall stehen alte Schallplatten herum, darunter an prominenter Stelle auch eine von den Fresh Young Fellows, Scott McCaugheys Band. Der Tour-Gitarrist ist noch nicht eingetroffen – er war am Vorabend beim Gig einer Band namens Cunt und wird den Tag nur mit Sonnenbrille überstehen.
Es ist ohnehin noch keiner der sechs Musiker da. Außer Peter Bück. Er ist immer der Erste. Daran hat er sich gewöhnt, er liest erst mal Zeitung. Und notfalls steht auch jede Menge andere Literatur herum: Iain Banks, eine Byrds-Biografie, ein „Dictionary of American slang“. Nur ein Tisch ist freigeräumt – da kommt Michael Stipes Notebook hin und was er sonst so braucht, um in Ruhe zu arbeiten. Er kommt gut gelaunt an – Regisseur Tim Hope ist fürs nächste Video gesichert. Der Song, den sie vorab aus dem Best-Of-Album auskoppeln, ist ein alter, neu aufgenommen: Fans kennen „Bad Day“ von diversen Bootlegs, er stammt aus der „Lifes Rieh Pageant“-Zeit. Ein weiteres Lied in der lange Liste von großartigen Stücken, die aus unerfindlichen Gründen nie offiziell veröffentlicht wurden.
Bill Rieflin sitzt in einer Ecke und hört sich über einen Discman an, was er heute trommeln soll – der arme Mann muss innerhalb von wenigen Tagen ein paar Dutzend Stücke lernen. Kein Wunder, dass er auf Mills‘ Frage, wo es hier ein bisschen Ruhe und Frieden gebe, spontan antwortet: „Not in my mind?“ Rieflin sprang relativ kurzfristig ein, weil Joey Waronker, der in den vergangenen Jahren bei Konzerten für R.E.M. trommelte, keine Zeit hatte, sondern lieber produzieren und an Filmen arbeiten möchte. Mit Rieflin, McCaughey und Ken Stringfellow sind nun also gleich drei Musiker von The Minus 5 dabei – oder vier, zählt man Bück noch dazu. Mike Mills winkt schnell ab: „Don’t mention that… Ich liebe The Minus 5, aber das ist eine andere Band.“ Und dies ist R.E.M. – auf Tour drei plus drei, im Kern aber immer Bück, Mills, Stipe.
Die alten Songs zu üben, ist gar nicht so unspannend, wie man denken könnte. Buck jedenfalls findet es unterhaltsam: „Wir proben für die Tour Lieder, die wir ewig, seit 15 Jahren oder so nicht gespielt haben – und vielleicht nur ein-, zweimal spielen werden.“ Heute fangen sie allerdings mit „At My Most Beautiful“ an, dem zauberhaften Liebeslied von „Up“, dann werden etliche Songs aus „Monster“ geprobt. „I Took Your Name“ haben sie noch drauf, das geht schnell. „Tongue“ läuft auch – Stipe hat kein Problem, aus dem Stand die hohen Töne zu schaffen.
Die Monate in Vancouver tun der Band gut, das muss Mills gar nicht extra betonen: „Das Studio ist einmalig, es ist nicht zu teuer, die Stadt ist wunderbar. Es ist besser, als in einer großen Stadt zu arbeiten – da wird man zu sehr abgelenkt Genau wie in Athens. Wenn das Haus um die Ecke ist, ist man immer versucht, schnell heimzugehen.
Man muss sich physisch davon entfernen, um sich konzentrieren zu können.
Natürlich vermisse ich mein Zuhause – aber das ist mein Leben, es ist mein Beruf, und der beinhaltet eben, oft unterwegs zu sein. In den letzten sechs Monaten war ich länger in dem Hotel hier in Vancouver als in meinem Haus in Georgia. So ist das eben. Ich vermisse meinen Hund.“ Stipe gibt zu, dass sie zunächst nur drei, vier Wochen bleiben wollten, aber dann feststellten, dass es ihnen eigentlich nirgends besser gefallen könnte.
Doch wenn alles so gut läuft, warum bringen R.E.M. dann kein neues Album raus – „Reveal“ ist ja immerhin auch schon drei Jahre alt, und zur Tournee wäre es doch nett gewesen… Aber, ach, die Ambitionen: Laut Stipe ist die Hälfte des Albums fertig, sechs oder sieben Songs. „Was wir jetzt haben, ist eine gute Platte. Was wir wollen, ist eine großartige Platte.“ Und die braucht eben Zeit. Vor nächstem Herbst sollte man nicht damit rechnen.
Ist das „Best Of“-Album, das in diesem September veröffentlicht wird, also nur ein Lückenbüßer? Auch nicht, meint Mills: „ Es ist eine nette Art, die Band noch einmal vorzustellen – zumindest in Amerika waren wir in letzter Zeit ja nicht mehr so sichtbar wie früher. Und da hilft ein ‚Best Of‘ schon, die Songs auch Leuten nahezubringen, die vielleicht gar nichts mehr von uns kennen.“ Und dann fügt er mit einem ironischen Lächeln hinzu: „Außerdem macht es die Plattenfirma glücklich.“ Aha! Dabei haben gerade R.E.M. es ihrem Label oft schwer gemacht – keine Werbeverträge, oft nicht mal Tourneen, seltsame Videos, wenige Interviews. Aber jetzt wollen sie es noch mal wissen, und ohne Unterstützung geht das eben nicht. Es kann ja nicht angehen, dass die Band in Europa mittlerweile viel mehr verkauft als in ihrer Heimat Bück seufzt: „In Amerika scheinen viele Leute vergessen zu haben, dass wir existieren. Also erinnern wir sie daran: Hey, wir sind eine gute Band, vielleicht sogar eine großartige.“ Und Mills denkt auch schon weiten „Gleichzeitig proben wir viele neue Songs bei den Soundchecks – und werden wohl auch ein paar live spielen. Dann nehmen wir im Herbst oder Winter das Album zu Ende auf- ungefähr drei Viertel sind ja schon fertig. Und teuren wahrscheinlich im nächsten Sommer schon wieder.“ Die Hälfte, drei Viertel- wer weiß das schon so genau? Hauptsache, es wird wieder ein Meisterwerk.
Was das „Best Of“ betrifft, verspricht Mills Überraschungen: „Wir nennen es bewusst nicht ,Greatest Hits‘. Wir hattenja gar nicht so viele Hits, und einige davon sind dann gar nicht drauf, zum Beispiel ,Shiny Happy People‘. Dafür ist ,Orange Crush‘ dabei, das definitiv nie ein Hit war. Wir haben uns jeder für uns hingesetzt und eine Liste gemacht – und die Listen waren sehr, sehr ähnlich. Dann sprachen wir mit der Plattenfirma, und die hatten auch nur einen Song hinzuzufügen – ich habe leider schon vergessen, welchen. Es war jedenfalls keine komplizierte Sache. Es hat mich fast überrascht, wie einfach es war.“
Die Beziehung zu Warner Brothers ist dieser Tage wieder entspannter. Nachdem die Band Mitte der 90er Jahre den vielzitierten „80-Millionen-Vertrag“ abgeschlossen hatte, ging es mit den Albumverkäufen bergab, etliche Vertraute der Band verließen die Firma – und plötzlich waren sie erstmals nicht mehr die Lieblingsband des Labels. Mills versucht, es diplomatisch zu formulieren: „Ich bin sehr zufrieden mit den Leuten, die jetzt da sind. Ein paar Jahre lang war es traurig, mitanschauen zu müssen, wer alles ging. Aber jetzt gibt es frisches Blut dort, und man hat Spaß daran, mit uns zu arbeiten. Ich bin also zum ersten Mal seit einiger Zeit wirklich glücklich.“ Heißt das, man hätte für „Up“ oder ,Reveal“ vielleicht mehr tun können, als es der Fall war? Mills zögert, lächelt und sagt schließlich: „Ich denke immer gern, dass die Leute schon ihr Bestes getan haben.“ Und R.E.M.? Im Gegensatz zu ihren Freunden von U2 hielten sie sich stets zurück, traten nicht bei jeder Show auf, spielten nicht in jeder größeren Stadt. Mag das auch ein Grund sein, dass R.E.M. heutzutage weniger beachtet werden? „Vielleicht, aber ich glaube nicht, dass wir zu wenig getan haben. Wir sind schon bereit, hart zu arbeiten. Wir touren gern, wir machen Interviews. Aber U2 wollen die größte Band der Welt sein. Wir wollen die beste Band der Welt sein.“
R.E.M. sind sich ihrer bisherigen Meriten durchaus bewusst, da braucht es keine unnötige Bescheidenheit. Peter Bück zögert keine Sekunde bei der Bewertung des eigenen Werks: „Wenn mich jemand fragen würde, welche Platten er anhören soll, um ein Bild von uns zu bekommen, würde ich wohl sagen: ,Document‘, ,Automatic For The People‘ und ‚Reveal‘.“ Michael Stipe möchte sich momentan lieber nicht zu sehr mit der Vergangenheit beschäftigen: „Ich versuche, mir die alten Songs nicht anzuhören. Ich höre dann immer nur auf die Texte, und das hält mich davon ab, neue Worte zfinden. Ich muss darauf vertrauen, dass ich mich von den alten Texten wegbewegt habe – nach vorne, nach oben, nach unten, zur Seite, egal. Nur weg. Und ich muss aus der jetzigen Perspektive schreiben, nicht aus der damaligen.“
In dieser Woche hat er es freilich ein bisschen schwer. Er fuhrt Telefonate mit Video-Regisseuren, sitzt in Merchandise-Meetings, überwacht den Mix für das „Best Of“, spricht mit Journalisten, „all der Tumult“. Und dann, ganz unvermittelt, strahlt er richtig: „Allerdings habe ich etwas gefunden – es ist in meiner Tasche – etwas Kristallenes, Wunderschönes, das letzte Nacht einfach aus mir rausgeflogen ist. Das wird hoffentlich einer der neuen Songs.“
Little America – Zur Lage der Nation
Man muss über Amerika sprechen, über George W. Bush und seine Politik. Bei R.E.M. hat man keine Wahl – in den 80er Jahren waren sie neben U2 die sozialkritische Band der Stunde, in den 90ern zogen sie sich musikalisch in andere Themenbereiche zurück, blieben „als Privatpersonen“ aber weiterhin aktiv – doch jetzt beziehen sie auch in ihren Liedern wieder Stellung. Als der Irak-Krieg begann, stand auf der Band-Website www.remhq.com der gerade fertiggestellte Song „Final Straw“, nebenbei engagierten sich die drei auch bei „Musicians United To Win Without War“.
Auf die Lage der Nation und ihre Position angesprochen, schüttelt Mills den Kopf. „Wir wollten nie als politische Band abgestempelt, nicht eingeschränkt werden. Aber nun, in diesen verzweifelten Zeiten – with that mad man running loose… nun müssen wir etwas sagen, man kann gar nicht anders. Das wird natürlich in den Songs rauskommen.“ Stipe nickt: „We have a history of saying things. In letzter Zeit waren wir – naja, nicht ruhig, wir haben schon einiges getan. Aber meine stärkste Stimme liegt in der Musik. Ich bin nicht besonders eloquent, in Unterhaltungen kann ich meine Gedanken nicht immer so gut ausdrücken. Aber in der Musik schon. Und wir fanden alle, dass man sich äußern muss zum Irak-Krieg. ‚Final Straw‘ summiert viele der Gefühle, die ich bei den Menschen um mich herum wahrgenommen habe.“
Ein paar Zeilen: „Now I don’t believe and I never did/ That two wrongs make a right/ If the world were filled with the likes of you/ Then I’m putting up a fight…/ Then I raise my voice up higher/ And I look you in the eye/ And I offer love with one condition/ With conviction, tell me why.“
Stipe will das noch etwas genauer erklären, ausnahmsweise: „Es sollte gesagt werden, dass es nicht nur um den Krieg geht, sondern um alles, was dazu geführt hat. Es geht nicht nur um ein paar Wochen, sondern um mehr. Viele unserer Freunde sind sehr frustriert und verängstigt.“ Es kommt einem wie ein Déjà-vu vor: Als R.E.M. Mitte der 80er Jahre die Alben „Lifes Rich Pageant“ und „Document“ veröffentlichten, ging es auf vielen Songs um genau die Dinge, die jetzt wieder zu beklagen sind: Machthunger („Exhuming McCarthy“), Habgier („Hyena“), Imperialismus („Welcome Tb The Occupation“), Umweltverschmutzung („Cuyahoga“) und so weiter und so fort.
Damals sang Stipe in „These Days“: „We are young despite the years/We are concern/ We are hope despite the times.“ Stimmt er da heute noch zu? „Es ist schon traurig, aber alles dreht sich eben im Kreis. Wir sind uns dessen bewusst, wir erleben das ja auch schon mehr als 30 Jahre bewusst mit. Kultur, Politikliberale gegen konservative Gedanken nicht, dass sich die Vorstellungen der Menschen verändern, aber in der Gesellschaft geht es eben erst in die eine Richtung und dann wie- der in die andere. Ich sollte also nicht überrascht sein, dass wir wieder dort angekommen sind, aber es widert mich an. Und es regt mich auf.“ Wird diese Wut großen Einfluss auf die neuen Songs haben?„Ich will nicht über Politik schreiben, aber wie kann ich es nicht tun? Ich schreibe über das, was ich sehe, was um mich herum los ist, ich absorbiere alles. Ob es in einer Metapher rauskommt oder in einem Beziehungs-Song oder was auch immer – man kann nicht ignorieren, in welchem Zustand die Welt zurzeit ist und wo sie sich hin- bewegt – nicht gerade in eine gute Richtung, befürchte ich. Allerdings denke ich immer, dass alles Schlechte auch etwas Gutes hat. I believe there is a balance in the check. Ich warte nur darauf, dass endlich das Gute kommt.“
Peter Bück ist naturgemäß ein bisschen zynischer. „Vieles, was wir in der Reagan-Ära mit all unserer jugendlichen Naivität geschrieben haben, ist heute immer noch wahr. Es ist tragisch, aber wenn man in einer Demokratie lebt, bekommt man eben, was die Mehrheit will. Let’s face it: Wenn man das US-Fernsehen anschaut, weiß man auch, warum wir so eine Regierung haben.“ Trotzdem glaubt auch er, dass es immer noch Sinn macht, sich gegen den Wind zu stellen: „Ererybody changes the world. In deiner kleinen Ecke ist alles, was du tust, entscheidend. Man trägt Verantwortung. Man darf nicht aufgeben. Ich bin kein super-politischer Aktivist Ich wähle, ich spende und habe das immer getan. Aber ich widme nicht mein ganzes Leben solchen Aufgaben, ich bin nur ein Musiker und Songwriter. Wir sagen den Leuten nicht, was sie tun sollen, wir beschreiben die Dinge nur aus unserer Perspektive.“
Es wird allerdings auch ganz andere Songs auf dem nächsten Album geben. „Around The Sun“ ist ein herrlich zartes Stück mit Zeilen wie ,I want the sun to shine on me/I want the truth to set me free…/ Hold on to this boy a little longer/ Take another trip around the sun.“ Nein, worum es genau geht, weiß man nach dem ersten Anhören nicht, aber das macht ja die Faszination aus. Wer will schon alles auf dem Fast-Food-Tablett serviert bekommen. Und dann ist da auch schon „Animal“, ein Rockstück in der Tradition von „Lotus“ und „Wake-Up Bomb“, das zeitweise „The Whoa Song“ hieß und genau so klingt. Mike Mills bringt es auf den Punkt: „Es gibt lauten, aggressiven und schönen, sanfteren Kram. Es wird wohl etwas krachiger als ‚Reveal‘, aber unsere Midtempo-Songs bleiben natürlich. Wir wissen es noch nicht genau, aber so sieht es momentan aus.“
Half a world away – Textanalysen mit Michael Stipe
Mit Michael Stipe zu sprechen, ist eine erstaunliche Angelegenheit. Nicht, weil er so wunderlich oder kryptisch oder all das wäre, was ihm so gern attestiert wird. Tatsächlich bemüht er sich sehr, verstanden zu werden – und das nicht nur akustisch. „Tippst du das Gespräch selbst ab?“, fragt er zu Beginn, als er sich den Platz am Fenster in der Sonne sichert (nicht ohne zu fragen, ob das okay sei), und verspricht: „Dann versuche ich, möglichst deutlich zu sprechen“. Abgehackte Sätze, lange Denkpausen, „uh“s und kleine Räusperer – es sind bloß Anzeichen dafür, dass Stipe das fast Unglaubliche gelungen ist: nach 23 Jahren im Geschäft immer noch kein Profi zu sein, der lässig perfekte Antworten hinwirft und sich den Fragenden so auf Distanz hält Er versteckt sich nicht mehr, er wirkt erfreulich offen und gleichzeitig doch so verwundbar, und wahrscheinlich gibt man sich genau deshalb viel Mühe, bloß nichts Blödes zu fragen. Vielleicht ist Stipe auch der Schlauste von allen, aber ich glaube es nicht Kalkuliert wirkt seine Kommunikationsweise gar nicht.
Wie siehst du die neuen Songs, wie klingen sie für dich zurzeit?
Zurzeit sieht es so aus, als wären es sehr diametral unterschiedliche Songs. Ich bewege mich lieber in Grauzonen, ich mag keine schwarzweißen Dinge, aber so sieht es für mich momentan aus. Es gibt sehr ruhige, wunderschöne Songs wie „Final Straw“ – langsam, sehr emotional. Und dann gibt es laute, große, chaotische Songs, richtig fucked up. In diese Richtungen fallen die Songs. Näher an „Automatic“ als an „Reveal“. Wahrscheinlich. „Reveal“ – bei dem Album habe ich ja die Sonne gejagt Ich wollte immer den Stuhl, auf den das meiste Sonnenlicht fällt. Das kann wohl von „Up“ und der finsteren Zeit, die wir als Band und Individuen durchgemacht hatten. Wir wollten das Positive sehen. Und ein Album machen, das nach Sommer klang.
Das war tatsächlich eine Überraschung – von der Band, die so viele Herbst-Platten gemacht hatte.
Danke. Ich schätze, das ist ein Kompliment Trotzdem waren es ja keine happy songs – nimm bloß „I’ll Take The Rain“. Oder „Chorus And The Ring“. Wie heißt das, was man schreibt, wenn einer tot ist? Eine Eloge? Jedenfalls ging es um William Burroughs und Kurt Cobain und den Tag, als die beiden sich in Williams Haus getroffen haben. Danach traf ich William noch einmal dort, und er wollte unbedingt über Kurt reden, weil er wusste, dass wir Freunde sind. Er hat sich sehr profunde Gedanken gemacht über die traurige Flug- bahn, die Kurts Leben am Ende genommen hat Man würde ja nicht denken, dass William Burroughs ein lebensbejahender, positiver Mensch war- aber tatsächlich hatte er einen brillanten Humor und eine wunderbare Sicht aufs Leben. Er war unglaublich sensibel und fast vaterhaft. Das hat mich sehr bewegt Darum geht’s also. Kein glücklicher Song. Aber vielleicht voller Hoffnung. Ich weiß nicht.
Eure Alben enden last immer mit hoffnungsvollen Songs. Ist das Zufall?
Das liegt wahrscheinlich an Peter. Er kann wirklich gut die Song-Reihenfolge festlegen. Auch bei Setlists hat er ein Händchen. Für mich ist dieser Album- Prozess sehr archaisch. Jetzt, in den Internet-Zeiten, sind die Leute immer sehr auf den Song fokussiert und auf das Image der Band oder Person. Wir sind da recht altmodisch. Wir versuchen, ein Album herzustellen – wie ein DJ sein Publikum durch den Abend fuhrt, so wollen wir den Zuhörer durch das Album führen, bis zum Ende. Hoffentlich gibt es immer einen roten Faden – etwas anderes als meine Stimme oder die akustische Gitarre – etwas, das dich mitnimmt.
Ist es Zufall, dass es oh auch zwischen Liedern von verschiedenen Alben Verbindungen gibt? Bei „E-Bow The Letter“ und „Chorus And The Ring“ gibt es diese Anspielungen auf Gifte, die Erkenntnis bringen, in Übermaßen aber zerstörerisch wirken.
Ja. Da geht es um Drogenmissbrauch oder Drogen an sich, that’s what that is. Etwas zu benutzen, das es in unserer Welt nun mal gibt, um aus sich selbst heraustreten zu können, um nicht mehr der Mensch zu sein, als den man sich sieht.
Warum, meinst du, wollen so viele Menschen nicht mehr sie selbst sein?
Ich bin kein Psychologe oder Psychiater, aber als Künstler würde ich sagen: Wir leben in einer Kultur und einer Zeit, in der wir nicht dazu ermutigt werden, unserem Instinkt oder unserer inneren Stimme zu vertrauen, unserem Bauchgefühl. Wir bekommen alles vorgesetzt, man gibt uns die Grenzen vor, und die übertritt man gefälligst nicht – weder im Benehmen noch im Denken. Die Leute kämpfen damit, ob es um Religion, Kultur oder Politik oder Sexualität geht, denn nichts ist so festgelegt, so genau definiert. Alles bewegt und verändert sich. Gleichzeitig ist da natürlich diese sehr menschliche Angst vor der Veränderung. Dabei ist das die eine Sache, die absolut inhärent ist Es gibt Leben, es gibt Tod, und das ist der kleinste gemeinsame Nenner: Wir werden alle sterben. Okay, wir haben das schon in den 90ern thematisiert und abgehakt, mit Automatic For The People“ und den death songs.
Also schauen wir uns an, was wir jetzt haben, bis dieser Moment irgendwann kommt. Und dann merkt man:
Veränderung ist die eine Sache, die unvermeidbar ist – aber wir alle kämpfen sehr dagegen an. Man sagt über Hunde, dass sie Gewohnheitstiere seien. Sie wollen jeden Tag so haben wie den Tag davor und den Tag davor. Das ist ihnen wichtig.
Hast du Verständnis dafür?
Sicher. Nimm „Daysleeper“: ein Mensch, der jede Nacht arbeitet, wenn er eigentlich schlafen sollte, und seinen Rhythmus verliert wegen des Jobs, und der Job ist seelenlos und schrecklich – als Rädchen in einer großen Maschine, ohne emotionellen Bezug. Sie bekommen einen Scheck und versuchen einfach, den Tag zu überstehen, der bei ihnen die Nacht ist Wie das den Menschen beeinflusst, darum geht es in dem Song – und bei „The Lifting“ im Grunde auch. Es ist derselbe Charakter für mich, und es ist ein Versuch, über das Konkrete hinauszudenken und – träumen. Sie bemüht sich verzweifelt, sich über die Decke hinauszubewegen – deshalb träumt sie nachts davon. Sie will über den Beton hinaus und kann es nicht. Am Ende des Songs kann sie es nicht, aber das weiß sie nicht. Sie weiß nicht, dass die Orte, an die sie sich erinnert, nur Träume waren. Sie war nie da. Die Erkenntnis liegt direkt vor ihr, aber sie hat sie noch nicht.
Inwieweit kannst du dich denn mit solchen Menschen identifizieren? Dein Leben sieht ja ganz anders aus.
Mein Job hat ein paar sehr sexy Bestandteile, die ihn nicht wie einen Job ausssehen lassen. Aber es ist einer.
Eis ist kein 9 to 5 job, aber mein Büro ist in meinem Kopf, und das macht es manchmal noch schwieriger, Wenn ich hart arbeite, kann ich nicht irgendwann die Lichter ausknipsen, die Tür abschließen und weggehen. Mein Job kommt immer mit mir. Also kann ich mich schon identifizieren mit hart arbeitenden Menschen.
Hast du Angst vor Schreibblockaden?
(Erstockt.) Darüber sprechen wir jetzt nicht (Lacht.) Tatsächlich war es bei der letzten Platte kein Problem, und dies- mal scheint es auch keins zu sein. „Up“ war schrecklich, einfach schrecklich, aber bisher läuft’s. (Klopft auf den Hoktisch.)
Gelingt es dir immer, dich nicht selbst zu zensieren oder zu korrigieren, um anderen zu gefallen oder die Texte leichter verständlich zu machen?
Da wird mein Job wirklich schwierig. Die besten Songs sind die, die einfach kommen und die ich nicht in Frage stelle. Da ändere ich die eine oder andere Zeile, fuge eine hinzu oder wiederhole den Chorus, aber das ist es dann. Oft weiß ich monatelang nicht, worum es in diesen Songs eigentlich geht, aber dann erkenne ich es und bringe sie raus. Die, an denen ich lang arbeiten muss, sind meiner Meinung nach die weniger erfolgreichen Stücke. Mein Job ist es also, mich in eine Stimmung zu versetzen und mich mit den richtigen Leuten zu umgeben, so dass ich etwas ganz Einfaches wie deine Halskette nehmen kann, und es öffnet sich ein ganzes Universum. Da kann ich das Universum betreten, und Warte tauchen auf, und ich kann sie nehmen und forme sie zu etwas, das dann ein Songtext wird- und hoffentlich etwas in sich trägt, das universell ist und mit dem die Menschen etwas anfangen können. Aber da muss ich mir selbst vertrauen und darauf, dass meine Gefühle nicht singulär sind, dass ich nicht allein bin. Wenn ich etwas empfinde, dann gibt es wahrscheinlich immer eine ganze Menge Menschen, die etwas ähnliches empfinden. Meine Fähigkeit, das auszudrücken ist., (überlegt lange)
… ziemlich gut.
Danke. Aber wenn ich übers Ziel hinausschieße und zu viel an etwas arbeite, dann wird es nie so gut
Welcher Songtext gefällt dir selbst denn am besten?
Lustigerweise höre ich, wenn ich nicht gerade selbst Musik schreibe, fast nur Instrumentalmusik. Ich reagiere nicht auf Sänger, außer sie haben eine Stimme, bei der es dir den Magen umdreht, einen Charakter. Das ist absolut attraktiv für mich. Und dann gibt es die Wegwerf-Popmusik, die ich auch attraktiv finde – wie diesen Song von den beiden Russinnen, t.a.T.u., großartig! Aber all der Kram in der Mitte – der interessiert mich kein bisschen.
Pretty persuason – Die Tücken des Songschreibens
Peter Bück hat ein Problem. Etwa 30 Songs schreibt er pro Album, aber nur zwölf passen drauf. Wenn es nach ihm ginge, würde man das beheben, indem man jedes Jahr ein Album rausbringt – und jeden Sommer tourt. „Aber Mike und Michael brauchen ihre Zeit. Ich würde immer den ersten Take nehmen und mehr oder weniger live aufnehmen. Aber so funktioniert das bei uns nicht“ Demokratie hat auch ihre Tücken. Und manchmal muss es schwer sein für Stipe, der zu Bucks und Mills‘ Liedern oft noch Texte finden muss, während alle im Studio sitzen. „Zurzeit ist so eine Phase, in der wir ihm dauernd über die Schulter gucken und fragen, welche Songs er bearbeitet Wir drängeln, bitte diesen, bitte jenen – und natürlich macht ihn das verrückt“, lacht Bück.
Jetzt, da sie jeden Tag zusammensitzen, arbeiten Mills und Bück auch mal gemeinsam an Liedern, aber einen großen Unterschied macht das laut Mills nicht: Die ursprüngliche Idee kommt immer nur von einem. „Es gibt diesen Song, der auf dem nächsten Album landen könnte: ,Make It All Okay‘. Ich saß am Piano und erwischte diesen Akkord und dann den nächsten und den nächsten, es schrieb sich praktisch von selbst Peter hörte zu, es gefiel ihm, er schlug weitere Akkorde vor. Er nahm die Gitarre – und in zehn Minuten hatten wir den Song. Schön, wenn das passiert!“
Konkurrenz gibt es zwischen den beiden Komponisten nicht, behauptet Mills – man gibt Stipe die Songs, er bringt die zu Ende, die er zu Ende bringen kann, das war’s. Ziemlich schlau, einem anderen die Entscheidung zu über- lassen. „Manchmal ist es auch frustrierend, aber Michael kann ja nicht jeden Song fertig machen, dann hätte er keine Zeit zum Essen mehr. Er pickt so- wieso meistens die besten raus – oder manchmal auch einen, den Peter und ich eher langweilig finden, und dann macht er was Großartiges daraus. ,Everybody Hurts‘ ist ohne die Stimme und den Text ja ziemlich gewöhnlich. Nett, aber nichts Besonderes.'“ Und wenn al- les nichts hilft und keiner mehr weiter- weiß, ist Pat McCarthy gefragt, der Produzent, der seit „ Up“ dabei ist. Ihn auszutauschen, kam laut Mills gar nicht in Frage: „Wir vertrauen ihm. Wenn wir drei uns nicht einigen können, brauchen wir einen, der sagt wo’s langgeht“
Mehr singen will Mills als auf den letzten Alben, „wahrscheinlich keine lead, aber mehr backing vocals“, und nicht zu viel Zeit im Studio verbringen. Okay, bei „Bad Day“ haben sie lang überlegt welche Version die richtige ist Aber Mills weiß, dass man manch- mal mit Fehlern leben muss: „Auf je- dem Album gibt es einen Song, den wir am liebsten noch mal aufnehmen würden oder etwas hinzufügen oder weg- nehmen. Am Ende weiß man eben oft nicht mehr, was das Beste ist weil man zu nahe dran ist“ So passiert es auch, dass Mills sein Urteil über Stipes Texte hin und wieder revidieren muss: „Ich bin oft überrascht von seinen Texten, und ich liebe das. Sehr selten bin ich enttäuscht – und wenn, dann sind das komischerweise später oft meine Lieblingssongs. ,Cuyahoga‘ zum Beispiel – auf welchem Album war das noch mal? ‚Pegeant‘, genau. Zuerst fand ich die Gesangslinie komisch. ,World Leader Pretend‘ – ich dachte, das würde ein toller Popsong werden, unterschrieb diesen deprimierenden Text Ich habe mich richtig aufgeregt, und jetzt liebe ich es. Er ist einer der besten Texter, die es auf der Welt zurzeit gibt, ich vertraue ihm also. Erwartungen sind immer eine gefährliche Sache – in jeder Art von Beziehung.“
Shaking through – Die Freuden der Dreisamkeit
Buck, Mills, Stipe, nicht mehr Berry. Seit fast sechs Jahren sind REM ein Trio – auch wenn sie auf der Bühne wie- der zu sechs sein werden. Gitarrist Scott McCaughey, Drummer Bill Rieflin, Keyboarder Ken Stringfellow – wie gehören sie zur Band, gehören sie überhaupt zur Band? Mills differenziert: „Sie gehören zur Live-Band, sind Freunde, spielen auf den Alben. Aber R.E.M. sind immer noch nur ich und Peter und Michael, und das wird immer so bleiben.“
Bei R.E.M. ist selbst für den tollen Songschreiber McCaughey einfach kein Platz – und Mills‘ Erklärung ist so simpel, dass man sich wundert, dass man nicht selbst daraufgekommen ist. „Wir sind ja am stolzesten auf die Songs, die wir schreiben. Es ist der schwerste Teil des Musikerdaseins: gute Songs zu schreiben, Jahr um Jahr, Album um Album.
Und es macht ja so viel Spaß, zurück- zuschauen und diese Lieder zu spielen, weil man weiß: Das haben wir geschafft! Diesen Stolz möchte ich nicht missen. Ich finde es toll, Songs zu haben, die nur von uns dreien sind. Und ich habe nicht das Gefühl, dass die Quelle versiegt Ich muss nicht mit anderen arbeiten, die gerade angesagt sind – wie Linda Perry, die für alle von Pink bis Courtney Love schreibt. Wir brauchen das nicht, wir kommen gut allein zurecht.“
Das Klischee von der Band als einer anderen Form der Ehe hasst er, aber Mills will auch nicht verneinen, dass dies eine besonders glückliche Gemeinschaft ist: „Wir haben andere Interessen und Projekte und werden das später vielleicht noch vertiefen, aber wir werden uns immer bewusst sein, dass dies das Beste ist, was wir je gemacht haben. Es ist uns sehr wichtig, das am Leben zu erhalten. Es ist immer noch aufregend.“ Und manchmal regt sich einer auf, aber das ist dann auch okay. An die „kleinen Charakterschwächen“, wie Mills sie milde lächelnd nennt, gewöhnt man sich im Laufe der Jahre. ,,Peter ist immer pünktlich, Michael und ich schaffen es einfach nicht.“ Also kommt Bück um Punkt 13 Uhr, der Rest später, man isst, hängt nun, probiert Songs aus, spielt bis etwa 22 Uhr oder „wenn wir Deadlines haben, bis zwei oder drei. Ich mag keine Stundenpläne. Ich bin ja nicht Musiker geworden, um nach der Stechuhr zu arbeiten.“ Mills grinst, als habe er der Welt ein Schnippchen geschlagen: Hier gelten nur die Regeln, die die Band selbst aufstellt
Als Schlagzeuger Bill Betty im Oktober 1997 verkündete, dass er R.E.M. verlässt, war das anders. Da galt plötzlich gar nichts mehr von allem, was die Band vorher als selbstverständlich erachtet hatte, und plötzlich kamen ihnen die kleinen Unterschiede der Persönlichkeiten doch riesengroß vor, so Mills: „Es ist ein bisschen, wie wenn man neu lernen muss zu essen, nachdem man einen Unfall hatte. Wir mussten als Trio klarkommen. Das hat lange gedauert, und wir verändern uns immer noch, aber jetzt fühlen wir uns wohl.“ Manchmal, wenn er in Athens ist, spielt er Betty Songs vor. „Wir trinken ein paar Bier und tauschen Neuigkeiten aus. Wir sind immer noch sehr gute Freunde.“
Wo R.E.M. heute stünden, wäre Berry nicht gegangen, weiß freilich keiner. Aber Stipe hat so eine Ahnung: „Ganz woanders. Weniger experimentell. Das hat nichts mit Bill zu tun, sondern da- mit, dass wir in gewisse Schemata verfallen waren, weil Menschen nun mal so sind, Gewohnheitstiere. Er hat uns auf die Straße geworfen, als er ging – das Schlagzeug ist ja das Fundament einer Band. Wir flogen also in der Luft her- um, und ich finde, es sind wunderbare Dinge dabei herausgekommen.“ Stipe gefallt die neue Dynamik zwischen den dreien, „die Live-Aufnahmen zu verbinden mit dem eher maschinellen Kram. Ich mag die Spannung. Der eine will das, der andere das, ich will das – und dann einigt man sich, oder der eine bekommt diesmal Recht und der andere das nächste Mal. Das sind die neuen R.E.M., das ist das Trio. Wir haben so viel zusammen durchgemacht“
Er überlegt kurz. Er ist jetzt 43. „Ich bin mehr als die Hälfte meines Lebens in dieser Band. Damals C97) dachte ich, es wäre vorbei. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte, und erkannte, wie viel Angst ich vor einem Leben nach R.E.M. hatte – und dann sah ich mir dieses potenzielle Leben an, und es war okay. I’m a survivor. Der Tag wird kommen – nicht bald, aber irgendwann. Und dann werde ich damit klarkommen. Es ist hart, denn in der Musik steckt so viel von unserer Identität Und wir hängen sehr aneinander. R.E.M. ist der Großteil meines Lebens, und das ist in Ordnung. I welcome that.“ Er sinniert noch ein wenig über die komische Beziehung zwischen diesen drei so unterschiedlichen und doch so eng verbundenen Männern und resümiert: „Wie in jeder Beziehung muss man ein bisschen von sich selbst hergeben, um den anderen komplett zu machen. Wir sind gut darin. Wie Yin und Yang, bloß dass wir drei sind.“
Departure – Gedanken zur Tournee
R.E.M. kommen nach Europa, zuerst. Danach touren sie endlich auch wieder in Amerika, aber daran will Stipe noch gar nicht denken. Ob er sich auf die Konzerte freut? „Nicht diese Woche. Aber langsam komme ich rein. Das Bühnen- Design entsteht, ich habe viele Ideen für T-Shirts. Zurzeit bin ich noch nicht bereit zu performen, aber das wird schon.“ Die größte Herausforderung für ihn: zum festgelegten Zeitpunkt eine Show abzuliefern. Stipe seufzt herzzerreißend und sagt: „Man muss immer alles geben, was man kann. Das ist die einzige Möglichkeit. Wenn ich auf der Bühne mit mir zu kämpfen habe, dann kannst du mir auch glauben, dass ich kämpfe. Ich bemühe mich, so sehr ich kann, aber an manchen Abenden geht einfach weniger als an anderen. Ich könnte nie perfekt sein. Ich bin nicht so ein Showman, der sich selbst anknipsen kann.“
Peter Bucks Freund, der tragikomische Songschreiber Mark Eitzel, sang einmal: „A true showman knows how to disappear in the Spotlight“
Zwei wären dann aber doch einer zu wenig.