Drei, die den Blues haben
WENN DIESES HEFT erscheint, wird man das Gefühl haben, dass Depeche Mode überall sind: Bei der „Echo-Verleihung“ und bei „Wetten, dass..?“ traten sie auf, in Wien gaben sie ein erstes Konzert -pünktlich zur Veröffentlichung ihres 13. Studioalbums „Delta Machine“ warf das Trio also die Promotionmaschine an. In den Wochen davor war allerdings eine erstaunliche Verknappung zu bemerken: Das Trio, das immer stolz darauf war, zu jeder Platte Rede und Antwort zu stehen, war plötzlich abgetaucht. Vorbei die Zeiten, als sie in drei benachbarten Hotelsuiten saßen und trotzdem fast dasselbe erzählten. Gerade mal ein persönliches Interview gab Sänger Dave Gahan in Deutschland, der Rest der Presse – auch wir -musste sich mit Telefoninterviews zufriedengeben. Die erledigten Songschreiber Martin Gore und Keyboarder Andrew Fletcher natürlich gewohnt zuverlässig und freundlich – aber man fragt sich doch: Was ist los? Zumal die Konzentration auf TV-Auftritte mit größtmöglicher Zielgruppe nicht die einzige Neuerung im Depeche-Mode-Camp ist.
Im vergangenen Jahr wurde Gahan 50 (die anderen beiden sind Jahrgang 1961) – und anlässlich ihres fortschreitenden Alters müssen Depeche Mode beschlossen haben, noch einmal richtig Profit machen zu wollen. Man kennt es von den Stones und Bon Jovi, aber bei den zurückhaltenden Briten hätte man eher nicht erwartet, dass sie sich einmal für eine VW-Werbung hergeben – und dass in dem Spot nicht nur „People Are People“ ertönt, sondern Gahan tatsächlich noch lächelnd mitspielt.
Die Europa-Konzerte, die sie schon im Oktober 2012 bei einer Pressekonferenz in Paris verkündeten und die im Mai beginnen, werden hingegen von der Telekom „unterstützt“. Auch da hat Gahan gleich ein schickes Statement parat: „Es war uns schon immer sehr wichtig, innovative Technologien optimal zu nutzen, um jede Tour noch größer und besser als die vorherige zu machen. Mit Unterstützung der Telekom können wir es mehr Fans als jemals zuvor ermöglichen, an unserer kommenden Europa-Tour zu partizipieren und dieses Erlebnis zu teilen -egal, wo sie sind.“ Schon klar, sonst kann man sich als Pop-Millionär so eine Stadionsause ja gar nicht leisten! Selbst U2 ließen sich ihre letzte Tournee von BlackBerry sponsern. Bleibt die Frage: Wie haben R. E. M. oder Coldplay das eigentlich hinbekommen, ohne zu verarmen? Vielleicht sollte Gahan sich mal bei Chris Martin erkundigen.
Die größte geschäftliche Überraschung war allerdings, dass Depeche Mode nach 30 Jahren ihr Label Mute verließen und zu Sony wechselten. Hört man da jemanden „Just Can’t Get Enough“ summen? Martin Gore spielt die Angelegenheit herunter und betont die immer noch engen Kontakte zu Mute-Chef Daniel Miller: „Der eigentliche Ablauf ist genau der gleiche. Daniel Miller ist immer noch stark involviert. Dem Namen nach sind wir technisch nicht mehr bei Mute, aber in der Realität ist alles wie immer. Daniel hat uns alle zwei, drei Wochen im Studio während der Aufnahmen besucht. Und wir bauen darauf, dass er uns weiter unterstützt. Er ist eine Art Mentor und immer noch Teil unseres Teams. Nur, dass das alles jetzt nicht mehr auf Mute stattfindet.“
Auch die Entstehungsbedingungen für „Delta Machine“ unterschieden sich kaum von den Vorgängern „Playing The Angel“ (2005) und „Sounds Of The Universe“ (2009). Aufgenommen wurde wieder in Santa Barbara (Gores Wohnort) und New York (Gahans Zuhause), produziert von Ben Hillier, gemischt von Flood. Gahan konnte diesmal drei Songs unterbringen, die er zusammen mit dem Schweizer Produzenten und Songschreiber Kurt Uenala geschrieben hat, die restlichen neun stammen von Gore. Er beschreibt die ersten Schritte zu einem neuen Werk so: „Es war wie bei all unseren Alben -zuerst kommt die Schreibperiode. Da sitze ich im Studio vor einem leeren Block und denke: ,Oh Gott, wie soll ich anfangen?‘ Glücklicherweise kommt mir immer nach einer Weile die ein oder andere Idee. Diesmal war es ein Stück namens ,Always‘, das sich jetzt auf der Deluxe-Edition des Albums befindet. Der Song, den ich danach schrieb, war ,Welcome To My World‘, und darauf folgte ,Heaven‘. Ich bekam so langsam ein Gefühl für das Album als Ganzes, alles passte zueinander, ganz natürlich. Glücklicherweise. Ich habe immer große Angst, ins Studio zu gehen und vor einem leeren Blatt Papier zu sitzen, ohne dass mir etwas einfällt. Ich bin froh, dass das nicht passiert. Ich bin, was das angeht, wohl gesegnet.“
Dem Titel „Delta Machine“ sollte man keine allzu große Bedeutung beimessen, der Band gefiel einfach der Klang -und natürlich, dass es sich als „DM“ abkürzen lässt. Auf Nachfrage hat Gore aber noch eine andere Erklärung: „Über die Jahre hat es immer mehr Blues-Einflüsse in unserer Musik gegeben. Und auch auf diesem Album gibt es ein paar Songs, die in diese Richtung gehen. Daher kam die Idee. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass wir zwar viel Technologie und Computer verwenden, aber auch eher organisches Zeug wie Gitarren. Es ist auch die Verschmelzung verschiedener Einflüsse, die sich in der Verbindung der Wörter ,Delta‘ und ,Machine‘ darstellt.“
Gore redet gern über seine Geräte, er benutzt viele Modular-Synthesizer und einen alten Moog, aber diesmal auch „sehr viel modernen Kram wie das Eurorack-oder Dotcom-Format“. Er scheint die unwissenden Blicke zu ahnen und ergänzt: „Das ist das, was man heute kaufen kann, wenn man sich für so etwas interessiert. Die Sounds sind wirklich gut, und es ist eine andere Art zu arbeiten: Alles passiert im Augenblick. Wenn du einen Sound kreierst und dann einen der Kabelstöpsel rausziehst, ist der Sound weg. Du musst es entweder gleich richtig hinbekommen, oder du kannst es vergessen.“
Es sind offensichtlich die kleinen Herausforderungen, die ihm besondere Freude bereiten. So hat er im vergangenen Jahr mit seinem alten Schulfreund Vince Clarke als VCMG ein reines Elektro-Album veröffentlicht, „Ssss“. 1981 hatte Clarke Depeche Mode schon nach wenigen Monaten verlassen -und Gore damit praktisch gezwungen, den Songschreiber-Posten zu übernehmen. Dass die beiden nach mehr als 30 Jahren noch einmal zusammenarbeiten, hat viele überrascht. Für Gore war es vor allem eine Gelegenheit, sich neu kennenzulernen: „Es hat Spaß gemacht, wieder mit ihm Kontakt aufzunehmen – auch wenn wir bei den Aufnahmen dann nicht gleichzeitig in einem Raum waren. Wir schickten uns Dateien hin und her. Aber nachdem wir fertig waren, haben wir ein paar Interviews und Foto-Sessions gemeinsam gemacht. Es war sehr nett, mit ihm unterwegs zu sein.“
Auf die neuen Depeche-Songs hatte das Projekt aber wenig Einfluss, betont Gore: „Es hat bestimmt nicht den Wunsch in mir ausgelöst, Techno-Tracks für Depeche Mode zu schreiben! Aber in gewisser Weise hat es mich schon geprägt, schließlich habe ich vier, oder fünf Monate an dem VCMG-Projekt gearbeitet. Und in dieser Zeit habe ich praktisch keinen Gedanken daran verschwendet, Songs oder Texte zu schreiben. Als das VCMG-Projekt beendet war und ich anfing, Songs für Depeche Mode zu schreiben, hatte ich das Gefühl, dass in mir bereits jede Menge Ideen steckten – so, als hätte ich sie im Keller eingelagert. Für ,Delta Machine‘ Songs zu schreiben, fiel mir also sehr viel leichter als sonst.“
Wenn Depeche Mode ab Mai auf Welttournee gehen, stehen sie wieder vor dem üblichen Luxusproblem: Welche Lieder sollen sie spielen?“Wir haben da die Qual der Wahl. Wenn man sich die neuen Stücke anhört, weiß man, dass sie live sicher gut funktionieren. Wenn wir – wie heißt das Wort? – na, wenn wir grausam zu den Fans sein wollten, dann würden wir das komplette neue Album spielen. Aber das werden wir nicht machen. Uns ist schon klar, dass wir als Band eine lange Geschichte haben. Wenn wir live spielen, versuchen wir, diese Geschichte zu reflektieren. Das ist nicht ganz unproblematisch, denn bei jeder neuen Tour haben wir wieder ein paar Songs mehr, und die Entscheidung, welche gespielt werden, fällt uns immer schwerer.“
Wer so viele Hits geschrieben hat, wird natürlich zwangsläufig daran gemessen -und es fallen einem nicht gerade viele Stücke aus den vergangenen Jahren ein, die mit den alten mithalten können. Wie geht man als Songschreiber mit diesem Erwartungsdruck um, mit den hohen Ansprüchen all derer, die einen so sehr lieben, dass sie jede Schwäche sofort bemerken? Martin Gore hat auch kein Patentrezept: „Ich weiß gar nicht, was unsere Fans von uns erwarten. Wenn man unser Forum (auf www.depechemode. com) liest – das ist alles, was ich weiß -, hat man das Gefühl, dass niemand wirklich glücklich ist.“ Er lacht darüber, aber so lustig ist das eigentlich nicht, oder? Und woran liegt es denn?“Na ja, wer sich die Mühe macht, etwas in einem Forum zu posten, hat meistens eine Beschwerde. Die Leute gehen nicht in Foren, um glücklich zu sein.“
Tatsächlich kann man in allen Foren langlebiger Bands, ob bei den Pet Shop Boys oder U2, Ähnliches beobachten: Am kritischsten sind immer die größten Fans. Bei Depeche Mode hat sich allerdings parallel noch ein Phänomen entwickelt, dass es so bei keiner anderen Band gibt: Seit mehr als 20 Jahren feiert man in Hamburg die „Partys For The Masses“, zu denen von überall her Fans anreisen. Es werden nur DM-Songs gespielt, erwachsene Menschen versuchen sich im „Dave-Dancing“. Gore wundert sich ein wenig über dieses Engagement: „Das ist wirklich außergewöhnlich, was da gemacht wird -und vor allem, wie lange das schon läuft. Wirklich einzigartig.“ Und wenn VW und Telekom längst wieder aus dem Depeche-Mode-Universum verschwunden sind, werden diese Leute immer noch tanzen.