Donna Tartt – Der kleine Freund
Viele dachten, die Bestseller-Autorin Donna Tartt würde - nach zehn Jahren ohne neues Buch - zu den großen Verschwindern wie Salinger und Pynchon zählen. Ihr zweiter Roman ist wieder brillant
Sie scheint Interviews zu hassen. Ihre Züge wirken angespannt, und manchmal lächelt sie, als würde sie jeden Moment ein Messer zücken. Dabei hätte sie allen Grund, aufgekratzt zu sein. Denn all denen, die sie bereits abgeschrieben und vorschnell zur sogenannten One-Shot-Autorin gestempelt hatten, hat sie mit ihrem zweiten, backsteindicken Roman J3er kleine Freund“ eindrucksvoll das Maul gestopft.
Zehn Jahre hat Donna Tartt für ihre Rückkehr auf die Literaturbühne gebraucht. Ein selbstmörderisches Unterfangen, denn wer sich wie sie eine derartige Zeitspanne gönnt, um einen einzigen Roman zu schreiben, den hakt die auf andere Rhythmen geeichte Branche in der Regel ab. Doch die Tartt hat für derlei Bräuche bloß ein müdes Lächeln übrig. „Denn wer es ernst meint mit dem Schreiben“ sagt sie selbstbewußt, „der hat anderes im Kopf als irgendwelche Marktgesetze. Wenn ein Buch gut ist, setzt es sich ohnehin durch. Was spielt es da für eine Rolle, wie lange einer dran schreibt?“
1992 hatte sie es der ganzen Welt schon einmal gezeigt. Für ihren makellosen Romanerstling „Die geheime Geschichte“ wurde die seinerzeit 29-Jährige als literarisches Wunderkind gefeiert. Der angesehene New Yorker Verlag Knopf zahlte satte 450 000 Dollar Vorschuß, nachdem ihr Schulfreund Brett Easton Ellis das Manuskript dorthin vermittelt hatte – und die Medien starteten einen Interview-Marathon. Das Buch entwickelte sich zum Mega-Seller, und wer fortan über die Zukunft der US-Literatur schwadronierte, der redete auch über Donna Tartt. Nachdem die globalen Feierlichen um ihre Person verklungen waren, wurde es auf Jahre hinaus still um die junge Frau aus Greenwood/Mississippi. Manche fühlten sich bereits an J. D. Salinger und Thomas Pynchon erinnert, die ebenfalls auf der Höhe ihres Ruhms abgedankt hatten und spurlos verschwanden.
Doch während Salinger und Pynchon ihren Existenzen als lebende Tote frönten, vergrub sich Tartt in einer neuen Geschichte, die ihr so ziemlich alles abverlangte. Nun spült es sie also zusammen mit ihrem neuen Roman „Der kleine Freund“ wieder an die Öffentlichkeit: eine ätherische, damenhaft wirkende Person, die nur noch von fern an die einst smarte College-Abgängerin erinnert. Der dunkle, streng in der Mitte gescheitelte Pagenschnitt wirkt wie mit dem Tranchiermesser frisiert. Ihr Outfit ein enges Kostüm und eine weiße Stehkragenbluse – erinnert an Mantel-und Degenfilme. Und wenn sie ihren Gegenüber fixiert, verwandeln sich ihre eben noch zu Schlitzen verengten Augen plötzlich in Murmeln, die eisblau glühen.
Donna Tartt gibt die große Unterkühlte, bis sie sich schließlich warm geredet hat und sagt: „Schriftstellerisch gesehen bin ich eine Langstreckenläuferin, das Sprinten überlasse ich anderen.“ Und wie um die gewaltige Zeitspanne zu illustrieren, die sie ihr 763-Seiten-Schmöker kostete, fügt sie hinzu: „Andere ziehen in so einer langen Zeit ein ganzes Studium durch oder zwei Kinder groß. Ich hatte einen festen Plan, als ich loslegte, und er war groß und ausufernd genug, um mich zehn Jahre lang zu beschäftigen.“
Das Resultat ist ein Buch, das wie ein Riesenkrake mit seinen tausend Armen nach dem Leser greift und ihn hinabwirft in eine Welt aus Sünde, Verdrängung, Trug und Desillusion. Als hätten William Faulknerjames Lee Burke und die „Vom Winde verweht“-Schöpferin Margaret Mitchell gemeinsam in die Tasten gedrückt. Ausgehend von dem geheimnisvollen Mord an einem ^-Jährigen, verdichtet Tartt immer neue, mitreißende Sequenzen zu einer kolossalen Familiengeschichte mit einer Fülle plastischer Figuren. Bis sich der finstere Kreis in einem ebenso wüsten wie brillant geschilderten Finale schließt – und all jene ins Leere laufen, die eine schlüssige Klärung des Falles erwartet haben.
„Das Buch unterscheidet sich fast vollkommen vom ersten Roman“, referiert sie, „denn diesmal haben mich vor allem soziale Fragen interessiert, das Verhältnis von Kindern zu Erwachsenen,Farbigen zu Weißen, Armen zu Reichen. Außerdem wollte ich etwas ganz anderes machen, auch wenn ich mir der Gefahr bewußt war, die ein solches Vorhaben bedeutet, weil mein erster Roman so erfolgreich war.“ Ihr sinistrer Campus-Thriller „Die geheime Geschichte“ (um eine Gruppe von Griechischstudenten, die ihrem charismatischen Lehrer erliegen) las sich geradezu süchtigmachend süffig, und auch Donna Tartts neues Buch arbeitet vordergründig mit Thriller-Versatzstücken, wobei sich ihre spiralförmigen Sätze immer tiefer in die Geschichte bohren, die in dem fiktiven Südtstaatennest Alexandria spielt. Wie eine Ahnenforscherin durchleuchtet sie das Treiben des Familien-Gans, zeigt dessen abgründige Kehrseite.
Denn die Spur, die die 12-jährige Harriet auf ihrer Suche nach dem Mörder ihres Bruders (mehr als zehn Jahre nach dem Vorfall) hinter sich herzieht, ist eine Fährte aus Lüge, Vertuschung und notdürftig kaschierter Gewalt. „Mich hat das kindliche Bewusstsein Harriets interessiert, wie ihre Moral funktioniert. Ich habe viele Passagen des Romans wie Kurzgeschichten geschrieben. Denn in Wahrheit bin ich eine Art Miniaturistin“, sagt Donna Tartt, und rollt kokett die Augen. „Ich liebe die Arbeit am Detail. Wohl darum schreibe ich so dicke Bücher, denn immerzu sehe ich all diese Details, auf die ich mich einlassen muss, kleinste Dinge, die offenbar niemand außer mir so sieht oder sehen will!“
So breitet sie sämtliche Zusammenhänge und Verstrickungen ihrer Figuren wie unter einer Lupe vor dem Leser aus, ohne dabei langatmig oder langweilig zu werden. Dabei versteht sie es überaus geschickt, unter der Folie der Kriminalgeschichte eine hochdifferenzierte psychologische Studie zweier Familien anzulegen – hier der gesittete Cleeve-Clan, den die Ermordung des Jungen zu zerreißen droht, dort die finsteren Ratliffs, die mit ihrer krebskranken Großmutter in einem Vfohnwagen hausen und sich als Kleinkriminelle und saufende Laienprediger durchs Leben schlagen. Zwei Welten, die die Tartt wie fette, dunkle Gewitterwolken wieder und wieder aufeinanderkrachen läßt.
Am Ende treibt sie die beiden Parteien in Gestalt von Harriet auf der einen und dem Streuner Danny Ratliff auf der anderen Seite einem dramatischen Finale entgegen. Wo andere Autoren auf die Tube drücken würden, glänzt die Amerikanerin mit kalkulierter Reduktion: Ein paar eindeutige Blicke, eine ins Spiel gebrachte Giftschlange – und die Sätze legen sich wie Schlingen um den Hals des Lesers. „Das Buch ist eine Hommage an die großen Geschichtenerzähler des W.Jahrhunderts, Autoren wie Kipling, Stevenson oder Arthur Conan Doyle, deren Bücher ich als Mädchen verschlungen habe“, sagt Donna Tartt. „Es ist ein Abenteuerroman im klassischen Sinn, der von der einfach gestrickten Moral und dem Schwarz-Weiß-Denken erzählt, wie es für 12-Jährige typisch ist.“
Donna Tartt hat sich mit „Der kleine Freund“ eindrucksvoll zurückgemeldet. Mit einem Buch, das Vieles ist: eine Untersuchung über den Verlust der Unschuld und eine Studie über Klassenbewußtsein und Rassenunterschiede. Doch vor allem ein mitreißender Roman darüber, was es heißt, mit einer Frage leben zu müssen, auf die es keine Antwort gibt.
„Nach dem wahnsinnigen Erfolg meines ersten Romans sagten viele mit Blick auf mein neues Buch: Du hast keine Chance, Donna! Nutze sie!“, erinnert sie sich abschließend. „Das hat mir natürlich Angst gemacht, mich aber auch irgendwie befreit“ So wird sie weiter schreiben über Schuld und Sühne, über Wahn und Verdrängung, in ihrer bildmächtigen, eisig-schönen Sprache, wie sie keine Zweite schreibt, wird verschwinden und wieder auferstehen, verschwinden und wieder auferstehen. Da ist sie sicher.