Diskrete Scham des Bourgeois
Im englischen Brighton führt Nick Cave ein ruhiges Familienleben - doch in seiner Arbeit an Songs, Soundtracks und Drehbüchern artikuliert sich nicht zuletzt seine Wut über die eigene Bürgerlichkeit
Als hätten sich die Geister von Leonard Cohen, Iggy Pop und Robert Mitchum in „The Night Of The Hunter“ auf einen neuen Körper geeinigt. Schon wie Nick Cave im Raum steht, macht klar: Die Modelle sensibler Dichter, wilder Mann und dunkler Brüter schließen sich keinesfalls aus. Wie so oft trägt der 50-Jährige einen dunklen, schmal geschnitten Anzug (diesmal mit feinen Nadelstreifen), ein weißes Hemd und dazu schwarze Cowboystiefel. Ein Regisseur würde den sehr schlanken, 1,90 Meter großen Australier vielleicht als zwielichtigen Spieler einsetzen, möglicherweise aber auch als von religiösen Wahnvorstellungen gequälten Killer. Die hohe, fliehende Stirn, die kleine Nase und die wulstigen Knochen über den Augen geben ihm etwas wild Primitives. Wenn ihm die langen, strähnigen Haare ins Gesicht fallen, traut man Cave auch heute noch allerhand zu.
„Ich glaube, viele von uns haben die Schnauze voll von einer Welt, die uns das Gefühl gibt, impotent zu sein und nichts tun zu können“, sagt der Anführer der Bad Seeds grüblerisch. Er sitzt in einem in Pastelltönen gehaltenen Zimmer eines Berliner Hotels und blickt auf ein paar signierte Exemplare seiner letzten beiden Alben, die ausgebreitet auf dem Bett auf Abnehmer warten. Der Sänger ist hier, weil er über sein neues Album „Dig, Lazarus, Dig!!!“ reden möchte. Doch soweit sind wir noch nicht, denn Cave referiert gerade über die Ohnmacht der Menschen: „Wir können uns ärgern über bestimmte Dinge“, schnaubt er jetzt etwas lauter. , Aber was bringt uns das, wenn wir uns über Afrika oder den Irak aufregen, solange nichts getan wird? Wir sind impotent! Alles was ich tun kann, ist in meinen Texten zu toben und eine Musik zu spielen, die diesen Arger transportiert. Ich habe einen Kontext kreiert, wo Wut, Hass und Zorn sehr gut existieren. Obwohl auch der Comic-Aspekt zunimmt, werden meine Alben auf eine bestimmte Art immer zorniger. Unter der absurden Komödie brodelt eine ohnmächtige Wut.“ Cave lässt das Gesagte mit einer kleinen rhetorischen Pause nachklingen. Dann sagt er mit charmantem Lächeln: „So sehe ich das jedenfalls.“
Nick Cave verfügte schon immer über ein großes Maß an Selbstironie. Bei einem Interview Anfang der Neunziger fragte ich ihn, warum in seinen Liedern so viele Frauen auf grausame Weise sterben müssen. Er setzte ein maliziöses Lächeln auf und wandte sich an meine Begleiterin: „Hast Du ihm gesagt, dass er das fragen soll? Dann redete er sich mit dem Comic-Element heraus, dass sich tatsächlich auch heute noch in vielen von Caves Texten findet.
Eine grelle Überzeichnung von Personen und Situationen, die für eine pralle Bildhaftigkeit sorgt und ihren Ursprung nicht nur im Blues hat, sondern auch im Alten Testament: „Die Bibel war für mich eine endlose Quelle der Inspiration, auf eine eher literarischen Art“, gibt Cave unumwunden zu. Doch das gilt für „Dig, Lazarus, Dig!!!“ nur bedingt: „Das Album hat keinen religiösen Kern.“
Tatsächlich ist der Titelsong eher ein neongrelles Gleichnis über Entfremdung, angesiedelt im New York der Siebziger, einer säkularisierten Welt voller Drogen, Gier und Verwahrlosung: „Ich fand es einen interessanten Gedanken, dass Lazarus vielleicht gar nicht von den Toten auferstehen wollte. Man hat ihn ja nie gefragt, sondern einfach rausgeholt aus seinem ruhigen Grab. Es ist im Prinzip eine Art zu sagen: This world is fucked up!“ Doch Cave langweilt auch auf seinem 14. Studioalbum mit den Bad Seeds selten und erzählt die Geschichte des modernen Lazarus mit ironischer Lakonie. Trotzdem: Musikalisch neu oder überraschend ist das alles längst nicht mehr. Die Themen der Songs sind sehr komplex und unterschiedlich, meist stehen Leidenschaften und das Verschwinden von Sicherheiten jeder Art im Mittelpunkt.
Im mitreißenden „We Call Upon The Author“ spielt Cave mit der Idee, dass man sich bei Gott (ein paar Mal taucht er eben doch auf) ebenso gut über eine schlechte Lebensgeschichte beschweren kann wie bei dem Autor einer ungenügenden fiktiven Story. Und natürlich kann Cave einer saftigen Refrainzeile wie „Prolix! Prolix! Nothing a pair of scissors can’t fix“ unmöglich widerstehen. In Caves Welt ist der Autor tatsächlich ein Gott: „Ich erlaube meinen Charakteren eben viel Bewegungsfreiheit“, grinst er. „Sie führen viel interessantere und extreme Leben als ich oder wir alle.“ So wie der Typ aus dem rhythmisch brodelnden „Moonland“, der auf der Suche nach seiner Frau durch apokalyptische Landschaften irrt und dabei immer wieder verzweifelt ruft „I’m not your favorite lover“.
Dabei ist Nick Cave schon seit einer ganzen Weile ein verheirateter Mann mit Kindern macht einen das nicht sanftmütiger? „Ich bin glücklich verheiratet, ich liebe meine Kinder und so weiter. Aber hinter all dem ist trotzdem ein Zorn. Vielleicht, weil ich mich gefangen fühle in einem bourgeoisen Lebensstil. Natürlich möchte ich das auch so, ich habe ja eine Menge investiert. Aber es gibt doch eine Neigung, all das wieder in die Tonne zu treten.“
Man könnte es sicher auch weniger dunkelromantisch sehen und behaupten: Es war eine banale Midlife-crisis, die Cave zu einem späten Sturm-und-Drang-Projekt wie Gnnderman trieb. Das im letzten Jahr erschienene Album entstand zusammen mit Warren Ellis, Martyn Casey und Jim Sclavunos, dem harten Kern der Bad Seeds, und war befeuert von dem Wunsch noch einmal ganz von vorn anzufangen, wie es in „Get It On“ programmatisch hieß. Diese Punkrock-Attitüde kam nicht nur bei den alten Fans prächtig an – Cave ist eben noch immer umwerfend in seiner Rolle als Wüterich vom Dienst. Doch verglichen mit der dekonstruktivistischen Expressivität von The Birthday Party, waren Grinderman letztlich doch bloß eine Verneigung vor dem lustvoll krachenden Stumpfsinn der Stooges. Was Cave auch sofort zugibt: „Das Grinderman-Album war sehr schlicht. Ich habe die Songs wahnsinnig schnell geschrieben, aber wir alle hatten eine enorme Menge Spaß dabei.“
Und ein wenig Spaß sollte man dem extrem produktiven Künstler schon gönnen. Zusammen mit Warren Ellis – seit dem Ausstieg von Blixa Bargeld der Kapellmeister der Bad Seeds – hat Cave allein in den letzten zwei Jahren drei Theatermusiken und drei Filmsoundtracks aufgenommen. Atmosphärische Landschaftsmalereien, voller Weite und spröder Schönheit, wie für Andrew Dominiks „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“. Die Dokumentation „The English Surgeon“ ist das jüngste dieser Projekte und bisher nicht einmal im Kino gelaufen. Trotzdem kann sich Cave kaum noch an den Inhalt erinnern: „Es geht da um einen englischen Gehirnchirurgen… äh, ich komme nicht drauf… Es geht also um diesen Chirurgen, er arbeitet in… Fuck! Ich muss drüber nachdenken.“
Bei allem Hang zum Grüblerischen ist Nick Cave ein Mann mit viel Humor. Als Kunstfreund widmet er sich sogar einem recht skurrilen Thema: Er sammelt die Werke des 1939 verstorbenen Kätzchen-Malers Louis Wain. Die Frage, was ihn an Bildern begeistert, die viele Menschen wohl als Kitsch bezeichnen würden, verfinstert das Gesicht des Sängers bedrohlich: „Was ist das überhaupt für ein Wort: Kitsch? Ich hasse dieses Wort! Was für eine überhebliche…“ Im letzten Moment zieht er die Notbremse und wirbt in einem eher ruhigen Tonfall für den Maler: „Ich finde seine Kunst auserlesen schön. Er ist wahnsinnig geworden und hat vielejahre damit verbracht, in einer Irrenanstalt diese Katzen zu malen.“ Eine Mitarbeiterin der Plattenfirma signalisiert, dass die Gesprächszeit um ist. Doch Cave ist noch nicht am Ende: „Googeln Sie ihn! Finden Sie Wains Geschichte heraus!“