Digitale Bohéme
Man hatte es ja irgendwie schon selbst gemerkt, aber nun haben wir es endlich schriftlich: Der wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen drei Jahre ist an den meisten deutschen Arbeitnehmern komplett vorbeigegangen. Das ergab eine im März veröffentlichte Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung. Einer anderen Untersuchung zufolge glauben nur noch 15 Prozent der Bürger, dass es hierzulande gerecht zugeht. Deprimierende Wahrheiten – aber regt sich jemand darüber auf? Nur ein paar schlecht frisierte Menschen mit selbstgemalten Schildern in der Hand: „Habe Arbeit brauche Geld“.
Die popkulturelle Meinungs-Elite hält sich lieber raus. Das oft erschütternd mittellose Medien-Prekariat nennt sich euphemistisch „digitale Boheme“ und spart Heizkosten durch ganztägige Kaffeehaus-Besuche. Hartz IV ist für viele der leibhaftige Anti-Pop, allein schon die Erwähnung des Begriffs scheint zur sofortigen kreativen Blockade zu führen. Musiker, die in den Medien gern „Popstars“ heißen, aber oft von der Hand in den Mund leben müssen, versinken zur Sicherheit lieber gleich ganzheitlich in ihrer Kunst. Warten wie der arme Poet auf bessere Zeiten. Doch die Ökonomisierung aller Lebensbereiche macht natürlich vor der Kunst erst recht nicht halt: Die großen Plattenfirmen versuchen gerade mit dem sogenannten 360°-Modell, auch Konzerte, Merchandising und Song-Rechte ihrer Schützlinge abzuschöpfen. Man muss schon Madonna heißen, um davon zu profitieren.
„Warum seid ihr alle so scheiße leise!“ würde man da gerne mit dem seligen DJ Mark Spoon rufen. War Rock’n’Roll nicht mal das Medium für Querulanten und Revolutionäre mit Anspruch auf die Weltherrschaft? Schnee von gestern – Die Linke und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer sind jetzt die Avantgarde der Unzufriedenen. Insgeheim möchten natürlich viele mal die Faust wie einen Vorschlaghammer auf den Tisch sausen lassen und dabei rufen: „Hey Boss, ich brauch mehr Geld!“ Aber das gilt heute als so proletenhaft und „ewiggestrig“, wie Die Linke, die immerhin einen alten Tocotronic-Slogan hochhält: „Wir kommen, um uns zu beschweren“.
Unter den deutschen Bands beschwert sich kaum noch jemand. Wer denn auch: Juli? Mia? Paula? Oder die fidelen Sportfreunde Stiller? Lediglich zornige alte Männer wie die Goldenen Zitronen wagen es noch, ein Album „Lenin“ zu nennen und zu singen: „Ich weiß, ich muss flexibel sein, nach Überprüfung der Unterwerfungskompetenz. Ich weiß, es liegt an mir allein.“ Auch die Lieder von Britta handeln von den Schwierigkeiten, in wirtschaftsliberalen Zeiten so etwas wie Würde zu behalten. Die alten Helden Blumfeld, Tocotronic, Die Sterne – natürlich haben sie noch immer kritische Fragen. Auch wenn manche Kritiker ihnen das absprechen möchten.
Aber es fehlen junge Songwriter, die uns mitnehmen in ihren Alltag, der vielleicht ja auch etwas mit unserem Alltag zu tun hat. Nichts gegen einen sinnenfrohem Eskapismus – Pop ist nicht das Bundesamt für sozialistischen Realismus. Aber da muss es doch noch mehr geben!
Doch nicht einmal Rapper fühlen sich heute noch wohl in der Wüste des Realen. Aus einer Form der Selbstdarstellung, die tief in der eigenen Lebenswirklichkeit verwurzelt war, ist ein überproduzierter, klischeestrotzender Gangsterfilm geworden. Ein Wort wie Solidarität ist ja auch unpassend in einer darwinistischen Medienwelt, die mit großem Erfolg Menschen in den Circus Maximus der Casting-Shows wirft.
Einigen deutschsprachigen Regisseuren gelingt es allerdings seit einigen Jahren ausgesprochen gut, unsere veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen abzubilden: Rene Pollesch, Christian Petzold oder Ulrich Seidl thematisieren Ohnmacht und Ausgrenzung auf sehr unterschiedliche Weise. Warum funktioniert das in deutschen Popsongs nicht mehr?
„Hang the blessed DJ, because the music that they constantly play, it says nothing about my life“, sang Morrissey im Smiths-Song „Panic“. Keine Angst, wir wollen niemanden aufknüpfen. Aber eine Rockmusik, die alle Problemzonen ausspart, kann uns auch gestohlen bleiben. „Don’t follow leaders, watch the parking meters“: Verdammt noch mal, das kann doch nicht so schwer sein!