DIESEM MANN DROHEN 105 JAHRE KNAST.

Die Sonne geht gerade unter, als er in einem orangefarbenen Overall den Besucherraum betritt. Barrett Brown war mal so etwas wie das Gesicht von Anonymous, der radikalen Aktivisten-Gruppe, die eigentlich keine Gesichter kennt. Und Brown war mit Sicherheit einmal der gepflegteste Anarcho, den es in jener verschworenen, hierarchiefreien Netzwelt gab. Aber hier, im hoffnungslos überfüllten Mansfield-Gefängnis in der Nähe von Dallas, sieht er wie jeder andere Sträfling aus -schrille Plastik-Latschen inklusive.

Ahmed Ghappour, Browns junger Anwalt, wartet bereits auf ihn. Brown nimmt auf der anderen Seite des Tisches Platz und schwenkt triumphierend ein paar beschriebene Blätter in der Hand. „Ich hab’s tatsächlich zu Papier gebracht“, sagt er. „Nach zehn Monaten hab ich mich endlich mit diesen vorsintflutlichen Werkzeugen angefreundet.“ Er meint den altmodischen Bleistift -und reicht den Artikel mit dem Titel „The Cyber-Intelligence Complex And Its Useful Idiots“ seinem Anwalt hinüber. Er bittet ihn, das Manuskript an den „Guardian“ zu schicken. Vor seiner Inhaftierung hatte Brown für die britische Tageszeitung geschrieben, aber seither ist es eigentlich eher der „Guardian“, der regelmäßig über ihn und den bizarren Prozess berichtet, dem Brown nun schon seit einem Jahr entgegensieht. Sollte er in allen 17 Punkten schuldig gesprochen werden – von Behinderung der Justiz bis zur Bedrohung eines FBI-Agenten -, könnte er zu 105 Jahren Gefängnis verurteilt werden.

Jeder spricht über Edward Snowden, den heute wohl bekanntesten Whistleblower, dessen Enthüllungen das Ausmaß der Überwachungs-und Spionagepraktiken der US-Geheimdienste offenlegten und weltweit für Empörung sorgten. Der Fall Barrett Brown findet weit weniger Beachtung. Und das hat zwei Gründe: Er ist komplizierter -und der 32-jährige Whistleblower aus Texas weitaus sperriger als der smarte Snowden. Doch jetzt, im Besucherraum der Haftanstalt, wirkt Brown erstaunlich entspannt angesichts des Prozesses, der ihn erwartet. „Angst oder gar Panik ist nicht mein Ding“, sagt er. „Mir ist ja nicht mal bewusst, dass ich überhaupt ein Gesetz gebrochen habe.“ Brown beschreibt die Zeit im Gefängnis als willkommene Zäsur. Sie gab ihm Gelegenheit, sich von zwei Süchten zu befreien: Computer und Drogen sind hier für ihn tabu -eine digitale wie chemische Fastenzeit.

In den vier Jahren seines öffentlichen Lebens hat man Brown mit vielen Etiketten bedacht: Scherzkeks, Journalist, Anonymous-Sprachrohr, Atheist, Moral-Apostel, Rampenlicht-Hure und Prügelknabe des amerikanischen Überwachungsstaates. Seine Nachforschungen in den verborgenen Schlupflöchern der Daten-Krake kamen zu einem abrupten Ende, als FBI-Beamte mit gezückter Pistole sein Apartment in Dallas stürmten. „Wenn es eines gibt, das ich in den vergangenen Monaten nicht vermisst habe“, sagt Brown, „dann ist es der Computer. Es sieht ganz so aus, als hätte ich mir den ganzen Ärger nur übers Internet eingehandelt.“

Nun, Barrett Brown ist weder der erste noch der einzige Anonymous-Aktivist, der in jüngster Vergangenheit ins Fadenkreuz der US-Justiz geriet. Aber im Unterschied zu den meisten anderen ist er selbst kein Hacker -auch wenn er einige der namhaftesten Hacker kennt. Browns Fall liegt etwas anders. Seine Situation erinnert eher an die von Aaron Swartz, der im Januar Selbstmord beging, nachdem man ihm mit den gleichen strafrechtlichen Konsequenzen drohte wie nun Brown. Doch anders als Swartz, der illegal große Datensätze von wissenschaftlichen Arbeiten kopierte, ist Brown nie selbst in einen fremden Server eingebrochen. Er hat auch kein einziges Dokument „geleakt“. Die zentralen Anklagepunkte drehen sich gar nicht um Hacking und digitalen Diebstahl, sondern allein um die Tatsache, dass Brown einen Link zu gehackten Dateien publizierte.

„Was Barretts Fall so beunruhigend macht“, sagt sein Anwalt Ghappour, „ist die krasse Diskrepanz zwischen seinem faktischen Verhalten und dem vermeintlichen Verbrechen. Er copy-pasted einen Link zu öffentlich zugänglichen Informationen, die er als Journalist recherchierte. Man muss die Rechtslage schon extrem auf den Kopf stellen, um überhaupt eine Anklage gegen ihn konstruieren zu wollen. Und natürlich hat der Vorgang erhebliche Auswirkungen auf alle journalistischen und wissenschaftlichen Arbeiten: Denn wer ist künftig überhaupt noch autorisiert, sich geleakte Dokumente anzuschauen?“

Die Anklage gegen Brown ist ein Präzedenzfall in Sachen Pressefreiheit einer Generation, die anscheinend nur noch durch geleakte Informationen einen Einblick in den wuchernden Sicherheitsapparat bekommt. Der Digitale-Sicherheit-Komplex nahm nach den Anschlägen vom 11. September nicht nur gigantische Ausmaße in den USA an, sondern ist auch deshalb so undurchdringlich geworden, weil sich immer mehr Privatunternehmen in dieser Boom-Branche tummeln. Brown behauptet, er habe einfach alle greifbaren Informationen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen und so eine Info-Schneise in die 52,6-Milliarden-Dollar-Industrie schlagen wollen, die immerhin 73,2 Prozent des amerikanischen „Intelligence“-Budgets verschlingt. „Barrett war ein investigativer Journalist, der nur seiner Arbeit nachging“, sagt auch Christophe Deloire von „Reporter ohne Grenzen“.“Das Urteil, das gegen ihn verhängt werden soll, ist ebenso absurd wie gefährlich.“

W er also ist Barrett Brown? Und warum taugt er so wenig zum Posterboy der Netz-Rebellen?

Browns Lebensweg folgt allem anderen, bloß keiner geraden Linie. Schulversagen, Drogen, Sektierertum -er hat kaum etwas ausgelassen. Dabei wuchs Brown in einer wohlhabenden Familie in der Nähe von Dallas auf und lebte nach der Scheidung der Eltern mit seiner New-Age-Mutter Karen zusammen. Karen Lancaster war felsenfest davon überzeugt, dass ihr Sohn etwas Besonderes sei. Und so behandelte sie ihn auch. Gemeinsames Meditieren und Studium der Prophezeiungen des Nostradamus standen ebenso auf dem Freizeitprogramm wie das Führen eines „Journals der Träume“.“Die Aufzeichnungen“, erzählt Brown, „sollten mir später dabei helfen, meinen Draht zum kollektiven Unterbewusstsein zu nutzen.“

Doch zunächst fiel Brown als frühreifer Journalist auf. Schon auf der Grundschule gab er eine Schülerzeitung heraus und schrieb später für die Highschool-Zeitung, eckte aber umgehend mit der internen Zensur an, als er die Schulleitung kritisierte. „Bereits als Kind hat Barrett die Autoritäten immer infrage gestellt“, sagt sein Vater Robert.“Und wenn man Autoritäten infrage stellt, muss man mit Ärger rechnen. Insofern konnte man die gegenwärtigen Ereignisse fast schon kommen sehen.“

Auf der Highschool entdeckte er dann den Atheismus und die umstrittene Schriftstellerin Ayn Rand. Prompt gründete Brown eine „Objectivist Society“, in der er Rands Thesen eines „rationalen Egoismus“ und entfesselten Kapitalismus debattierte. Beim nationalen Ayn-Rand-Essay-Wettbewerb belegte er unter 5.000 Einsendungen den zweiten Platz. (Brown distanziert sich inzwischen übrigens nachdrücklich von dieser Episode seines Lebens.)

Nach dem zweiten Highschool-Jahr schmiss er die Schule. Er hatte sowieso mehr Zeit im schulischen Intranet und in obskuren Debatierclubs verbracht als im Unterricht. Nun ging er nach Afrika, wo sein Vater -ein Maserati-fahrender Unternehmer und Großwild-Jäger -eine Edelholz-Plantage aufbauen wollte. „Barrett liebte das Leben dort“, sagt sein Vater. „Das Abenteuer war eindeutig faszinierender als die Schulbank.“

Trotzdem kehrte Brown nach nur einem Jahr in die USA zurück und belegte an der University of Texas einen Kurs in kreativem Schreiben. In Austin führte er das Leben eines typischen Slackers: Er jobbte halbtags, rauchte reichlich Pot und wohnte mit Freunden in heruntergekommenen Häusern, die kaum Miete kosteten. Seine Wohngenossen erinnern sich daran, dass Browns Zimmer mit Büchertürmen und Zeitschriftenstapeln gepflastert war. Er verschlang Gore Vidal, P. J. O’Rourke und Hunter S. Thompson, viel politische Literatur, ohne selbst sonderlich politisch gewesen zu sein. „Nach 9/11 und dem Einmarsch im Irak gab es in Austin einige Protestaktionen“, sagt sein alter Schulfreund Ian Holmes. „Ich erinnere mich nicht, dass er daran teilgenommen oder sich anderweitig politisch engagiert hätte. Aber er war natürlich gegen den Krieg wie alle anderen auch.“

Brown begann zu schreiben. Und er zog mit ein paar Freunden nach Brooklyn um. Ihr Apartment wurde ab 2007 die zentrale Anlaufstelle der texanischen Exilanten in New York -sie knallten sich den Kopf zu, tranken Bier und spielten Computer-Games. „Es ging wie im Hühnerstall zu“, sagt Caleb Pritchard, der mit Brown in Austin und Brooklyn zusammenlebte. Zu den ständigen Besuchern zählten auch ein paar Gras-Dealer aus Puerto Rico und Honduras, die das Apartment tagsüber als ihr Headquarter benutzten. „Sie brachten eine Xbox mit, Bier und was zu essen und spielten dann Strategiespiele mit uns. Für ein paar schmächtige, weiße Jungs aus Dallas war es ein wichtiger kultureller Austausch.“

Barrett Brown tauchte immer tiefer in den virtuellen Games-Kosmos ein. Aber er spielte nicht so, wie es die anderen Gamer taten. Brown schloss sich den „Griefers“ in der Parallelwelt „Second Life“ an – das sind auch „Trolle“ genannte Hacker, die in der virtuellen Welt für gezieltes Chaos sorgen. Das Bulletin-Board „4chan.org“, über das sich die Hacker austauschten, sollte wenig später die Keimzelle von Anonymous werden.

Während seine Freunde abends in die Kneipe gingen, blieb Brown lieber zu Hause. Entweder hing er vor dem Computer oder er schrieb -Artikel, Tagebücher und Blogs. Und das immer erfolgreicher. „Vanity Fair“ und „McSweeney’s“ veröffentlichten seine Beiträge. Brown versuchte sich sogar als Restaurant-Kritiker und schrieb Essays für Wochenzeitungen wie „New York Press“ und „The Onion’s A. V. Club“. Aber vor allem nahmen Websites wie „Daily Kos“ und „Huffington Post“ gern seine Beiträge an -sie zahlten ja auch kein Honorar. „Man konnte es nicht Arbeit nennen, was Barrett in New York machte“, sagt Pritchard. „Er schlug sich durch und ließ sich von Freunden und Familie unter die Arme greifen.“

Und er begann, Heroin zu drücken. „Als ich 2008 in das Apartment einzog“, erinnert sich Pritchard, „war Barrett schon ein klassischer Junkie.“

In dieser Zeit änderte sich auch Browns Blick auf die Medien. Mit giftigen Kommentaren und Blogs prügelte er auf sie ein, geißelte ihren fehlenden Wagemut. Doch dann, im März 2010, kündigte er in einem Blog großspurig an, dass er einen Weg gefunden habe, die überholten Medieninstitutionen mit Modellen zu ersetzen, die nur nach den Plänen eines 28-jährigen Junkies namens Barrett Brown geformt werden müssten. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass es sich bei ihm nicht nur um einen selbstbewussten, sondern um einen krankhaft egozentrischen Zeitgenossen handeln müsse. „Ich bin sicher nicht der Richtige“, sagte er später nicht ohne Selbstironie, „einem anderen Arroganz vorzuwerfen.“

Das Modell, mit dem Brown die Medien revolutionieren wollte, sollte eine virtuelle Denkfabrik sein, mit nicht mehr als „einer Handvoll qualifizierter Mitarbeiter“ – ausgewählt aufgrund „ihrer intellektuellen Unbestechlichkeit, ihrer Kenntnisse in einem spezifischen Metier und ihrer journalistischen Kompetenz“. Brown taufte seinen Think Tank „Project PM“ – nach den „Panther Moderns“, einer Gang aus William Gibsons berühmtem Hightech-Roman „Neuromancer“.

Etwa zur gleichen Zeit im Frühjahr 2010 legten Anonymous-Hacker die Server der australischen Regierung lahm. Die „Operation Titstorm“ sollte Rache dafür sein, dass Australien auf der Einführung von Filtern bestand, um Websites mit Extrem-Pornografie zu blockieren. Brown schrieb darüber in der „Huffington Post“. Er sah in „Titstorm“ eine geschichtliche Zäsur -den Vorboten einer Ära, in der Bürger mit ihren Laptops die Staatsmacht herausfordern, weil sie eigene Informationen gegen die vermeintliche Propaganda und Zensur setzen. Mit der ihm eigenen Vollmundigkeit schrieb er: „Auch wenn das Thema bislang totgeschwiegen wird, so bin ich mir doch sicher, dass dieses Phänomen zu den wichtigsten sozialen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte gehört.“

Zu denen, die über Browns Artikel stolperten, gehörte auch Gregg Housh, ein Web-Designer aus Boston, zu jener Zeit so etwas wie das inoffizielle Sprachrohr von Anonymous. Durch ihn fand Brown Zugang zum Allerheiligsten der Netz-Guerilla und traf genau die Leute, die in seinen Augen Geschichte schrieben. Housh, der von der Medienarbeit für Anonymous ausgelaugt war, sah in Brown seinen idealen Nachfolger. „Barrett hat einfach das gewisse Etwas, das nur wenige Journalisten haben“, sagt Housh. „Es dauerte nicht lange, bis er einer der Unsrigen war – und von da nahm eben alles seinen Lauf.“

Barrett Brown hat immer bestritten, eine offizielle Funktion bei Anonymous gehabt zu haben -das sei schlechterdings nicht möglich, weil Anonymous eine hierarchiefreie, amorphe Gruppe überzeugter Individualisten sei. Trotzdem übernahm er den Job des Lautsprechers mit sichtlicher Begeisterung -und schreckte bei Interviews nicht davor zurück, von sich selbst im Pluralis Majestatis zu reden.

Die Personalie Brown war bei den Hackern von Anfang an umstritten. Manche lehnten ihn ab, weil er schlicht nicht zu ihnen passe. Brown sei ein „namefag“ – Anonymous-Slang für Warmduscher, die unter echtem Namen auftreten und mit den verhassten Medien sprechen. Andere störten sich eher daran, dass er ein „moral fag“ sei -ein Ausdruck, mit dem sich alte „Trolls“ über die neue, moralisch argumentierende Generation von Hackern lustig machten, die seit 2008 überwiegend bei Anonymous ihre Heimat fanden. Und bei ihnen fühlte sich auch Brown zu Hause: Die neuen „Hacktivists“, sagt er, hätten aus einer „nihilistischen Lachnummer“ eine „Kraft des Guten“ geformt.

Und doch: Brown blieb anarchisch, blieb ein Stück weit der „Troll“, der er in seinen Gamer-Tagen war. „Er machte sich einen Spaß daraus, diese privaten Überwachungsfirmen durch den Kakao zu ziehen“, sagt Joe Fionda, ein New Yorker Aktivist, der Brown bei seinen Ermittlungen im Netz half. „Er verbiss sich nicht nur in dröge Materie, die niemand sonst anfassen wollte -Steuererklärungen und ähnlich prickelnde Dokumente -, sondern er rief auch die Geschäftsführer dieser Firmen zu Hause an, stellte sich vor und machte sich über sie lustig. Am Ende des Tages ist er eben auch ein witziger Typ, der in allem eine Prise Humor und Absurdität entdeckt.“

Indem er beide Facetten der Anonymous-Identität verkörperte, machte sich Brown jedenfalls mehr Freunde als Feinde in der Szene. Zum Teil beruhte seine zeitweise Popularität sogar auf der arroganten Arschloch-Persona, die er bei Interviews so perfekt verkörperte. Er verzichtete auf die populäre Guy-Fawkes-Maske und trug lieber ein auffälliges Jackett. Ein Foto zeigt Brown lässig in einem Sessel, einen ausgestopften Luchs an der Wand und die Marlboro zwischen den Lippen. Legendär ist eine seiner sogenannten „strategy sessions“, die er mit einem Glas Rotwein in seiner schaumgefüllten Badewanne abhielt.

Mit seinem Einstieg bei Anonymous kehrte Brown auch von Brooklyn nach Dallas zurück. Hier unterzog er sich einem ambulanten Drogenentzug, der auf dem Heroin-Ersatzstoff Suboxone basierte.

2010 war sein erstes Jahr als inoffizieller Anonymous-Sprecher -und es war ein ereignisreiches Jahr. Die Hacker hatten sich organisiert, um die Protestbewegungen des „Arabischen Frühlings“ zu unterstützen. Sie hatten einen Angriff auf Paypal und jene Finanzinstitute gefahren, die sich geweigert hatten, Spenden für WikiLeaks weiterzuleiten. Doch es war der Angriff auf die Finanzinstitute, „Operation Payback“ getauft, der gravierende Folgen für Barrett Brown und die Anonymous-Hacker haben sollte.

Die spektakuläre Aktion rückte Anonymous ins Blickfeld der privaten Security-Firmen, die sich von einer erfolgreichen Hacker-Jagd lukrative Verträge versprachen. Aaron Barr, Chef der Digital-Security-Firma HBGary Federal, war überzeugt, dass ihm bei einer erfolgreichen Ausschaltung von Anonymous fette Regierungsaufträge winken würden. Im Februar 2011 prahlte er in der „Financial Times“ mit einer supergeheimen Ortungstechnik, mit der er den Anonymous-Mitgliedern auf die Spur kommen werde. Er behauptete auch, die Identität der führenden Mitglieder bereits zu kennen -und ließ durchblicken, dass die entsprechenden Polizei-Razzien wohl nur noch eine Frage der Zeit seien.

Sei es, um das zu verhindern, sei es, um ihre Neugier zu befriedigen, setzte sich eine Anonymous-Gruppe daran, den Server von HBGary zu knacken. Sie entdeckten, dass Barrs geheime Ortungsmethode bloß darin bestand, die üblichen Social-Media-Seiten zu durchkämmen und willkürlich Listen mit Namen zu erstellen. Innerhalb von Minuten hatten die Hacker die Firewalls der Firma ausgeschaltet, die Server durchsucht und dabei 70.000 interne E-Mails mitgehen lassen.

Barr und seine Firma HBGary waren als Schaumschläger geoutet – und das Interesse der Hacker an dem Internet-Security-Unternehmen kühlte umgehend ab. „Es gab Zehntausende von E-Mails“, erzählt einer der Hacker, „und niemand hatte Bock, sich da durchzukämpfen. Alle sagten:,Es lohnt nicht mal, das dumme Zeugs zu leaken. Es hat keinen Nährwert.'“

Brown war anderer Meinung. Als die Hacker die Unterlagen auf eine BitTorrent-Seite stellten, nutzte er seine „Project PM“-Infrastruktur und stellte ein Arbeitsteam auf die Beine, das sich die Unterlagen genauer ansehen sollte. „Niemand von uns hatte mehr als ein paar E-Mails gelesen, weil es stinklangweilig war“, sagt der beteiligte Hacker, „aber Barrett hat diese seltsame journalistische Verbissenheit und kann zehn Stunden am Stück solche Sachen auswerten. Es saß allein in dem HBGary-Chatroom-Channel und postulierte:,Ihr müsst euch konzentrieren! Schaut her, auf welchen Scheiß ich schon gestoßen bin!'“ Er hatte rund 100 Freiwillige klargemacht, um sich durch die Daten-Halde zu quälen.

Und tatsächlich: Das HBGary-Material lieferte einen Einblick in die symbiotische Arbeitsweise von Regierungsstellen und Privatwirtschaft, wie er in dieser Fülle noch nie dokumentiert werden konnte. Politische Gruppierungen, die als subversiv eingestuft wurden, standen ebenso auf den Beobachtungslisten wie harmlosere Bürgerinitiativen oder kritische Journalisten. Cyber-Sabotage gehörte ebenso zum HBGary-Arsenal wie Desinformations-Kampagnen. Sogar Supermodel-Avatare wurden eingesetzt, um linke oder anarchistische Netzwerke zu infiltrieren. Joe Fionda erinnert sich daran, mit welch ungläubigem Staunen er entdeckte, dass man ein Pin-up dazu verwendete, um potenzielle Spione zu rekrutieren.

Browns größter Fund war jedoch der Hinweis auf eine Kooperation mehrerer „Private Contractors“ – also digitaler Security-Firmen -die unter dem Namen „Team Themis“ lief. Ausgelöst worden war diese geheime Kooperation durch den berühmtesten Whistleblower der Welt: Julian Assange. Er hatte 2010 behauptet, im Besitz von Unterlagen zu sein, die „ein, zwei US-Großbanken in den Abgrund reißen könnten“. Das US-Justizministerium empfahl daraufhin der Bank of America, die Dienste der Anwaltskanzlei Hunton &Williams in Anspruch zu nehmen. Im Auftrag der Bank of America stellte Hunton &Williams daraufhin ein Team zusammen, das aus drei privaten Information-Security-Firmen rekrutiert wurde -eine davon war HBGary.

Doch „Team Themis“ beschränkte sich nicht auf die Wühlarbeit bei der Bank. Die geleakten HBGary-Dokumente enthalten auch Vorschläge von „Team Themis“, wie man gewerkschaftsnahe Organisationen ausspionieren oder diskreditieren könnte. Ein entsprechendes Angebot sollte via Anwaltskanzlei Hunton & Williams an die amerikanische Industrie-und Handelskammer herangetragen werden. Das gewünschte Honorar war üppig: Für monatlich zwei Millionen Dollar könne man ein spezielles Cyber-Team einsetzen, das linke Organisationen unter die Lupe nähme. (Die Handelskammer wie auch die Bank of America behaupteten später, „Team Themis“ nie engagiert und nicht mal von den Vorschlägen gehört zu haben.)

Um die beiden Aufträge an Land zu ziehen, unterbreitete „Team Themis“ der Anwaltskanzlei konkrete Vorschläge, wie der Gegner unterwandert werden könne: „Man forciert die Differenzen zwischen zwei konkurrierenden Gruppen, streut Desinformation. Anlässlich konkreter Veranstaltungen lanciert man fiktive Aussagen, um die gegnerische Gruppierung zu diskreditieren. Man bringt fiktive Dokumente in Umlauf und weist dann öffentlich auf die Fehler in diesen Dokumenten hin.“

Die Enthüllungen waren ein Triumph für Brown und seine Wiki-Krieger. Sie hatten die nebulöse Information-Security-Industrie demaskiert und aufgedeckt, wie hier Bundesbehörden und Privatunternehmen zusammenarbeiten, um Überwachungstechnologien zu entwickeln, die -so Browns Vermutung – in vielen Fällen gegen die US-Verfassung verstießen. Und er war bei diesen Nachforschungen natürlich so unverfroren wie immer: Er rief Geschäftsführer der betreffenden Firmen an, nannte sie Lügner und drohte damit, ihre gesamte Technologie dem Erdboden gleichzumachen. Einige demokratische Kongressabgeordnete forderten einen Untersuchungsausschuss, um den „tief beunruhigenden“ Vorfall zu klären, doch die Empörung verlief schnell im Sand. Das mangelnde Interesse der Medien bestätigte natürlich Browns Vorurteile: Politiker und Medien, so glaubte er, wollten „offensichtlich um jeden Preis verhindern, dass diese Untersuchung an die Öffentlichkeit dringt -auch wenn sie genau jenes unsichtbare Imperium durchleuchtet, das uns alle bis ins letzte Detail ausspioniert“.

Brown musste sich letztlich bei Anonymous für den Enthüllungs-Scoup bedanken – aber sein Verhältnis zum Hacker-Netzwerk kühlte in der Folge merklich ab. „Es gibt wenig Qualitätskontrolle in einer derartigen Bewegung“, sagte er. „Man zieht einfach zu viele Leute an, deren einziges Interesse darin besteht, einer verhassten Videogame-Company Sand ins Getriebe zu werfen.“

Browns abschätziger Blick auf die jüngste Hacker-Generation wurde vom FBI allerdings nicht geteilt. Die US-Regierung sah in Anonymous noch immer eine wachsende Gefahr und fand im Sommer 2011 endlich den Schlüssel, um die Organisation auszuhebeln. In der Nacht vom 7. Juni, vier Monate nach dem HBGary-Hack, besuchten zwei FBI-Beamte einen 27-jährigen arbeitslosen Hacker namens Hector Monsegur auf Manhattans Lower East Side. Der Anonymous-Aktivist – im Netz als „Sabu“ bekannt – hatte bereits mehrere Server von öffentlichen und privaten Institutionen geknackt. Doch Anfang 2011 waren ihm ein paar Fehler unterlaufen, die das FBI auf seine Spur geführt hatten. Konfrontiert mit der Aussicht, wegen „krimineller Konspiration“ in zwölf Punkten zu einer Gefängnisstrafe verurteilt zu werden, gab Sabu seine Kontakte in der Hacker-Szene preis. Das FBI drehte ihn um. Sabu unterschrieb eine Kooperationsvereinbarung und verriet der Bundesbehörde anstehende Anonymous-Pläne. Der größte Coup sollte offenbar ein Hack bei einer digitalen Intelligence-Security-Firma namens Stratfor sein. Ihr Sitz: Austin -direkt neben Barrett Browns Haustür.

Anfang Dezember knackte Jeremy Hammond, ein junger Hacker aus Chicago, den Stratfor-Server und kopierte rund fünf Millionen interne Dokumente. Der heimlich mit dem FBI kooperierende Sabu bot seinen Server als Zwischenlager an. Hammond nahm das Angebot an und machte die geleakten Daten publik. Um den gigantischen Datenberg zu sichten, war wieder Manpower gefordert – die Hacker brauchten das Team von „Project PM“. Brown und seine Freiwilligen machten sich an die Arbeit. „30 bis 50 Leute stürzten sich auf die Dateien“, sagt Lauren Pespisa, die von Boston aus das Projekt unterstützte -und heute Spenden für Browns Anwaltskosten organisiert.

Nach sechsmonatiger Auswertung glaubte Brown, die dickste Spinne im Stratfor-Netz geortet zu haben: eine Cyber-Security-Firma aus San Diego namens Cubic. Als Brown die Querverbindungen weiter verfolgte, fiel ihm Cubics enger Kontakt zu ein paar Datenanalytikern auf, die wiederum in Verbindung mit CIA-Veteranen standen. Brown war sicher, einen brisanten Fund gemacht zu haben. Doch wieder bissen die Medien nicht an. Einige große Tageszeitungen winkten sofort ab -und Online-Magazine wie „Gawker“ oder „Slate“ bezeichneten seine Verschwörungstheorien gar als „haarsträubend“.

Auch Kenner der Cyber-Intelligence-Szene mahnten Brown zur Vorsicht, die Verbindung der Security-Firma zu ein paar CIA-Veteranen nicht überzubewerten. „Ich verneige mich vor jedem, der sich in diese Materie reinbeißt“, sagt Tim Shorrock, der 2008 mit seinem Buch „Spies For Hire“ erstmals einen Einblick in die wuchernde Intelligence-Contractor-Industrie lieferte. „Aber man kann aus den E-Mails nicht unbedingt solche Rückschlüsse ziehen, weil diese Unternehmen immer viel Staub aufwirbeln, um neue Aufträge an Land zu ziehen. Einiges, was Stratfor als ,Intelligence‘ bezeichnete, war einfach nur lächerlich. Warum sollte eine Regierungsorganisation diesen Krempel kaufen?“

Doch nicht sein vermeintlich brisanter Verdacht, sondern etwas viel Banaleres wurde Brown schließlich zum Verhängnis: in dem Stratfor-Datensatz versteckten sich auch die Kreditkarten-Informationen von 5.000 Kunden. Brown dürften diese Informationen kaum interessiert haben, doch es sind genau diese Kreditkarten, die heute das Hauptargument der Anklage liefern. Als Brown das bereits veröffentlichte Material verlinkte, so die Staatsanwaltschaft, habe er damit wissentlich Daten „freigeschaltet“, die zum Kreditkarten-Diebstahl und Identitätsbetrug genutzt werden konnten.

„Wenn die ,Pentagon Papers‘ (die 1971 von Daniel Ellsberg geleakt wurden -Anm. d. Red.) eine Kreditkarten-Information enthalten hätten -hätte das die ,New York Times‘ davon abgehalten, die Unterlagen zu studieren?“, fragt Browns Anwalt Ghappour. „Es gibt keinerlei Hinweis, dass sich Barrett mit diesen Unterlagen bereichern wollte -ja, dass ihm diese spezifischen Informationen überhaupt vorlagen.“ Das FBI stürmte Browns Apartment am Morgen des 6. März 2012 -drei Monate nach dem Stratfor-Hack und einen Tag, nachdem man Jeremy Hammond in Chicago festgenommen hatte. Mehr als ein Dutzend FBI-Beamte, angeführt von Agent Robert Smith, traten die Tür ein und konfiszierten Browns Computer und Xbox. Brown befand sich zu diesem Zeitpunkt im Haus seiner Mutter ganz in der Nähe. Dort klopften die Agenten mit einem zweiten Durchsuchungsbeschluss wenige Stunden später an. In der Küche fanden sie Browns Laptop und nahmen ihn mit. Brown selbst stand unter der Dusche. Er wurde nicht verhaftet. Aber seine Mutter bekam eine Strafanzeige -wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt.

In Hacker-Kreisen kursieren heute verschiedene Theorien, warum sich das FBI gerade auf Brown eingeschossen habe. Er war natürlich eines der wenigen öffentlichen Gesichter, die mit Anonymous assoziiert wurden. Er war ein „weiches Ziel“, hatte auf den Festplatten aber möglicherweise handfeste Informationen. Einige glauben, es sei ein Warnschuss gewesen, andere vermuten, dass sich Brown zu viele Feinde gemacht habe – oder möglicherweise unmittelbar vor einer sensationellen Enthüllung gestanden habe. Die Legenden ranken.

Dann gibt es eine Theorie, die von Browns Förderer bei Anonymous, Gregg Housh, verbreitet wird: Dass Brown und Hammond dran glauben mussten, weil sie indirekt eine verdeckte Operation gegen WikiLeaks-Gründer Julian Assange vereitelt hätten. Housh glaubt, dass das FBI den Stratfor-Hack nicht unterband, um auf diesem Umweg Assange erwischen zu können. „Sabu sollte das gestohlene Stratfor-Material an Assange weiterverkaufen. Damit hätten sie einen konkreten Beweis gehabt, dass er wissentlich gestohlenes Material aufkauft, um es auf WikiLeaks zu veröffentlichen.“

Housh vermutet, dass Hammond von dem Plan Wind bekam und die Papiere selbst leakte, bevor es zu dem Kuhhandel kommen konnte. Auch wenn ein Kontakt zwischen Sabu und Assange nicht nachweisbar ist, so kommunizierte Sabu angeblich doch mit Sigurdur Thordarson, einem jungen isländischen WikiLeaks-Mitarbeiter -und FBI-Informanten.

„Hammond hatte keine Ahnung, was er da angerichtet hatte“, so Housh. „Das FBI war sich sicher, am nächsten Tag Beweise gegen Assange in der Hand zu haben -und dann kommt Hammond des Weges und macht ihren schönen Plan zunichte. Nur das war der Grund, warum sie ihm mit einer derart überzogenen Strafe drohten.“ 30 Jahre Gefängnis forderte die Staatsanwaltschaft für Hammond -nach einem Vergleich wurde die Srafandrohung dann auf zehn Jahre reduziert. Bei Barrett Brown indes bleibt die Staatsanwaltschaft hart: 105 Jahre soll er hinter Gitter. Nach der Hausdurchsuchung im März konnte Brown seine Recherchen jedoch zunächst ungehindert fortsetzen. Er griff dabei aber immer seltener auf das Anonymous-Netzwerk zurück. In Gruppen wie „Telecomix“, die sich ebenfalls mit der Cyber-Überwachungsindustrie beschäftigten, hatte er neue Mitstreiter gefunden. Im Sommer besuchte er die „Hackers on Planet Earth“-Konferenz in New York, wo er einige seiner „Project PM“-Kollegen zum ersten Mal persönlich kennenlernte. „Ich erinnere mich, dass Barrett trotz der unfassbaren Hitze im Anzug erschien und unglaublich schwitzte“, sagt Fionda. „Er war noch immer auf Heroin-Entzug und sah aus, als habe er große Schmerzen.“

Auch mit seinem psychischen Gleichgewicht schien es in diesem Sommer bergab zu gehen. Nachdem Brown sein Leben lang mit Depressionen zu kämpfen hatte, setzte er nun die Medikation ab. Auf seinem YouTube-Kanal konnte man die Auswirkungen verfolgen. Im August postete Brown ein Video, das ihn beim Tontauben-Schießen zeigt. Er benannte das Kurzfilmchen nach einem Zitat von Caligula:“Hätte das Volk von Rom doch nur einen einzigen Nacken damit ich es mit einem Mal erwürgen kann.“

Im September lud er ein weiteres wirres Video hoch, dessen dritter Teil die Überschrift trug:“Why I’m Going to Destroy FBI-Agent Robert Smith“. Brown, der sichtlich Konzentrationsprobleme hat, verlangt darin die Rückgabe seiner Xbox und warnt, dass er aus einer ,,militärischen Familie“ stamme, die ihm den Umgang mit Waffen beigebracht habe – Waffen, die er auch künftig einzusetzen gedenke, um sein Heim zu verteidigen. Er nennt Smith „a fucking chickenshit little faggot cocksucker“, bevor er dann die Worte in den Mund nimmt, die er inzwischen bedauert und auf seinen prekären biochemischen Gesamtzustand zurückführt:“Das Leben von Robert Smith ist vorbei. Und wenn ich sage, sein Leben ist vorbei, bedeutet das nicht, dass ich ihn umbringen werde. Aber ich werde sein Leben ruinieren und das seiner Kinder gleich mit. Na, wie schmeckt euch das denn?“

Man muss schon viel Fantasie haben, um daraus eine „ernste und glaubhafte Bedrohung“ von Smiths Leben konstruieren zu können -so wie es im Gesetzbuch definiert ist. Brown, schmächtig, pathetisch und offensichtlich völlig neben der Tasse, klingt eher so, als brauche er dringend psychiatrische Hilfe. Ein etwas umsichtigeres FBI-Büro hätte vielleicht einen Arzt geschickt statt waffenstrotzende Agenten. Aber das FBI schickte keinen Arzt. Noch am selben Abend stürmte ein bewaffnetes FBI-Team Browns Apartment, warf ihn zu Boden und verhaftete ihn wegen Bedrohung eines Bundespolizisten.

Im Lauf der nächsten vier Monate segneten drei verschiedene Grand Jurys mehrfache Anklagen gegen Brown ab: Im Kern ging es um Widerstand gegen die Staatsgewalt und den Hack bei Stratfor, im Amtsenglisch „access device-fraud“ genannt. Und es ist dieser letzte Punkt, der Bürgerrechtler auf die Palme bringt. „Man kann die Weiterabgabe-Klausel des Gesetzes nicht in Anwendung bringen, wenn jemand den Inhalt eines Leaks nur recherchiert“, sagt Browns Anwalt Ghappour. „Wenn copypaste schon gleichbedeutend ist mit dem tatsächlichen Diebstahl der Daten, dann läuft praktisch jeder Internetuser Gefahr, gegen den ,Computer Fraud and Abuse Act‘ zu verstoßen.“

Das FBI bemühte sich jedenfalls, diese Interpretation der juristischen Sachlage gleich auch auf Browns freiwillige Helfer anzuwenden. Im März wurden „Project PM“-Administratoren vorgeladen und nach ihren digitalen Fingerabdrücken befragt. Das sorgte erwartungsgemäß für erhebliche Irritation in der Aktivisten-Gruppe -was natürlich auch die Absicht des FBI war. „Es war nur ein Vorwand, um Angst zu schüren und Unfrieden zu säen“, sagt Alan Ross, der von England aus für „Project PM“ arbeitet. „Das FBI bemüht sich verzweifelt, die Anklage noch fetter zu machen. Nach den Vorladungen befürchteten jedenfalls viele Mitglieder, nun komplett überwacht zu werden. Ich selbst habe Sorge, was meine persönliche Sicherheit angeht -auch wenn ich weiß, dass ich nie gegen ein Gesetz verstoßen habe. Ich zögere, überhaupt noch zu reisen.“

Darüber muss sich Barrett Brown bis auf Weiteres keine Sorgen machen. Wenn es nach der US-Regierung geht, kann er auch sein Kommunikationstalent vorläufig einmotten: Im August beantragte die Staatsanwalt eine „gag order“ – einen Maulkorberlass für Brown und seine Anwälte. Offensichtlich ist man sich bewusst, dass der Fall „United States vs. Barrett Lancaster Brown“ doch noch für unliebsames Interesse sorgen könnte, wenn erst einmal eine breitere Öffentlichkeit davon Notiz nähme.

Brown hat bislang allerdings darauf verzichtet, sich hinter Gittern mit den juristischen Details der „Cyber-Fraud“-Statuten auseinanderzusetzen. Er beschäftigt sich weiterhin lieber mit privaten „Intelligence Contractors“ und „den nützlichen Idioten in den Medien“, die den „Handlangern des Überwachungsstaates sogar noch einen Freibrief ausstellen“.

Seit einem Jahr sitzt Barrett Brown hinter Gittern. „Niemand spricht hier mit mir“, sagt er. Aber eine der schwersten Prüfungen sei es für einen Atheisten wie ihn, seinen Zellengenossen beim Singen von Kirchenliedern zuhören zu müssen.

Browns Freunde halten ihn mit Artikeln auf dem Laufenden -in jüngster Zeit natürlich auch häufig mit Material über den Edward-Snowden-Leak. „Mein Fall ist unwichtig im Vergleich zu den Größenordnungen, die dieser gesamte Themenkomplex hat“, sagt Brown im Gefängnis beim Gespräch mit dem ROLLING STONE. Er lehnt sich über den Tisch und pocht auf sein handgeschriebenes Manuskript. Die letzte Seite lugt aus dem Stapel hervor. „So sieht die Welt aus, die wir gutheißen, wenn wir weiter unsere Augen verschließen. Und es sieht danach aus, als sollte alles nur noch schlimmer werden.“

THIS IS THE HEADLINE DIE WHISTLEBLOWER

Bescheidenheit ist die Sache der wenigsten Whistleblower. So erklärte Julian Assange der Zeitung „El Pais“, dass die Geopolitik künftig in die Epoche vor und nach seiner monumentalen Publikation eingeteilt werde. Ganz so dramatisch hat sich die Welt durch Assanges Enthüllungen nicht verändert. Aber das Leaken der geheimen Dokumente des US-Militärs zu den Kriegen in Afghanistan und Irak war Tabubruch und Premiere zugleich. WikiLeaks, Assanges Enthüllungsplattform im Internet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, geheim gehaltene Dokumente allgemein verfügbar zu machen, ist heute Legende. Ob Assange und später Bradley Manning das Ausmaß der Veröffentlichung wirklich einordnen konnten? Die WikiLeaks-Daten wurden auch auf dem Computer von Osama bin Laden sichergestellt.

Aktuell haben die Leaks von Edward Snowden über die Geheimdienst-Praxis der USA und der Briten den kooperierenden Medien zwar im Sommer 2013 ordentliche Schlagzeilen gebracht -aber ob sie die Politik verändern können? Zudem bleibt Snowdens strategische und salamimäßige Veröffentlichung der geleakten Dokumente etwas zweifelhaft. Juristisch interessant ist, dass ein systematischer Rechtsverstoß weder in Deutschland noch in den USA als erwiesen gilt. Assange und Snowden bewegen sich in rechtlichem Neuland -und sind Meister der Selbstvermarktung.

Kein Vergleich mit den großen Whistleblow-Vorbildern von Watergate oder den Enthüllungen der „Pentagon Papers“ aus dem Jahr 1971. Der Leaker Daniel Ellsberg inszenierte sich damals nicht. Er wählte die Veröffentlichung als Ultima Ratio, nachdem er sich einigen Politikern anvertraut hatte, die sich aber nicht für das Thema interessierten.

Bei den digitalen Revoluzzern des Internetkollektivs Anonymous war das anders: Als einigen Jungs die Penisse und Pornos auf der Bilderplattform 4chan.org zu langweilig wurden, schlossen sich einige der sogenannten Anons zusammen, die -wie Barrett Brown – mit Anonymous ein bisschen Weltpolitik machen wollten. Erst hatten sie Scientology im Visier, 2010 dann wurden Unternehmen wie Paypal und Mastercard geleakt. Grund: Die Finanzinstitute wollten keine Spenden mehr an WikiLeaks weiterleiten. Die Operation hieß „Payback“: Jeder PC-Nutzer konnte sich der Attacke auf die Unternehmens-Websites anschließen -bequem mit einem Mausklick vom Schreibtisch aus. Die Attacke soll von einigen Schlüsselfiguren im Hintergrund gefahren worden sein: Hacker aus dem Umfeld von Barrett Brown wie Jake Davis, ein Teenie aus England, Anonymous-Urgestein Gregg Housh oder der später vom FBI rekrutierte Hector Monsegur. Nachdem der harte Kern der „Operation Payback“-Gang aufgeflogen ist, hat es keine nennenswerte Attacke mehr von Anonymous gegeben.

Auch in Deutschland nutzten einige politisch Aktive das Label Anonymous für ihre Netzpolitik. Berühmt wurden etwa ihre Anti-ACTA-Kampage und der Aufstand gegen die GEMA -deren Website gehackt wurde. Seit aber die Polizei bei einigen Netz-Aktivisten vor der Tür stand, ist dieses digitale Sit-in in Deutschland erst mal vorbei.

THIS IS THE HEADLINE WAS IST WAS?

4CHAN.ORG ist wohl das wildeste Forum im Internet. Die Einträge werden grundsätzlich nicht zensiert und alle unter dem Namen „Anons“ veröffentlicht. In dieser Ursuppe des Web entstanden auch die ersten Verbindungen des Kollektivs „Anonymus“.

ANONYMUS ist eine lose Verbindung von Hackern und Internet-Aktivisten. Bekannt wurde das (nach eigenen Angaben) führerlose Kollektiv durch das Projekt „Operation Payback“. Dabei attackierten Anonymous-Aktivisten die Internetseiten von Firmen wie Visa, Mastercard oder Pay-Pal, weil diese sich geweigert hatten,

Spenden an die Enthüllungsplattform WikiLeaks weiterzuleiten oder deren Konten einfroren.

AVATAR bezeichnet im Internetjargon eine Online-Persönlichkeit. Jeder, der sich für einen Onlinedienst einen Nutzernamen und ein Profilbild anlegt, erschafft damit einen Avatar. Wer von einem ihm völlig unbekannten Supermodel eine Freundschaftsanfrage bei Facebook bekommt, und nicht im Showbusiness arbeitet, hat es höchstwahrscheinlich mit einem unehrlichen Avatar zu tun.

BITTORRENT-SEITEN bieten Nutzern die Infrastruktur, Daten auszutauschen. Wenn viele Nutzer online sind, funktionieren BitTorren-Seiten wie eine gigantische Datenbank für wirklich alle Arten von Daten.

COPY-PASTE wird im Computerjargon das Kopieren und Wiedereinsetzen von Daten genannt.

CYBER INTELLIGENCE Internet-Spionage und Spionage-Abwehr.

FIREWALL wird ein Sicherheits-Programm genannt, das den Ein-und Ausgang von Daten eines Computers kontrolliert.

INFORMATION SECURITY-INDUSTRIE sind Unternehmen, die ihr Geld mit dem Auskundschaften oder Geheimhalten von Daten verdienen.

INTELLIGENCE BUDGET ist die Summe, die der größte Geheimdienst- Apparat der Welt (nämlich der amerikanische) jährlich von Senat und Repräsentantenhaus zugebilligt bekommt. Laut den Enthüllungen des Whistleblowers Snowden beläuft sich dieser Etat zurzeit auf 52,6 Milliarden Dollar. Vor allem der Anteil der CIA wurde seit den 9/11-Anschlägen deutlich aufgestockt. Zweitgrößter Empfänger ist die NSA.

LULZSEC ist die Abkürzung von Lulz Security, einer ambitionierten Hacker-Clique aus dem Anonymous-Umfeld. Die Gruppe wurde mit einigen schweren Angriffen in Verbindung gebracht und bekannte sich dazu, die CIA-Website gehackt zu haben. Tatsächlich war cia.gov im Juni 2011 offline.

PRIVATE CONTRACTORS sind private Unternehmen in der IT-Security-Branche, die im Auftrag von Geheimdiensten arbeiten. Der Whistleblower Edward Snowden war über den „Private Contractor“ Booz Allen Hamilton bei der NSA angestellt.

SECOND LIFE ist eine virtuelle, dreidimensionale Online-Landschaft. Nutzer können sich einen Charakter (Avatar) zusammenstellen und damit im Second Life wie in einem Computerspiel herumlaufen und andere Nutzer/Avatare treffen.

SERVER sind in der Regel an das Internet angeschlossene Speichereinheiten. Eine Website aufzurufen bedeutet, Informationen von einem Server herunterzuladen. Server können damit aber auch zum Einfallstor für Hacker werden.

SOFT TARGET ist ein militärischer Begriff, der ein Ziel beschreibt, dass nicht auf einen Angriff vorbereitet ist. TROLL ist ein Nutzer, der in Internetforen die Diskussion durch störende Beiträge behindert, indem er beispielsweise alle drei Sekunden ein Foto von einer schielenden Robbe postet.

JV

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