Die Zeiten ändern sich
Selten wurde so viel über das Titelbild eines Magazins berichtet und diskutiert wie über das der Ausgabe 1202 des amerikanischen ROLLING STONE. Es zeigt den freundlich lächelnden Papst Franziskus, die Hand zum Gruß erhoben, Lachfältchen umspielen seine Augen, der Pileolus – die Amts-Kappe des Heiligen Vaters – ragt in den weltbekannten Schriftzug, verdeckt das NG in ROLLING STONE.
„The Times They Are A-Changin'“ wird Bob Dylan in der Titelzeile zitiert. Und tatsächlich: Ein echter Papst auf dem Cover der wichtigsten popkulturellen Stimme Amerikas, das gab es noch nie. Als würde das Steak-Fachblatt „Beef“ einen Gurkensalat zeigen. Einen Monat zuvor hatte das „Time Magazine“ Franziskus zum „Menschen des Jahres“ gekürt und auf den Titel gehoben, zuletzt zierte der Papst das Cover des „Spiegel“. Das gehört natürlich zum normalen Nachrichten-Business – die Paarung Franziskus und Rock’n’Roll eher nicht. Das Papst-Cover und die dazugehörige Geschichte seien „eine Heiligsprechung zu Lebzeiten“, zeigte sich Willi Winkler in der „Süddeutschen Zeitung“ beeindruckt.
Vom britischen „Guardian“ über die israelische „Haaretz“ bis zur „Bild“ – das Medienecho und das Interesse an Mark Binellis Titelgeschichte war bei ihrer Veröffentlichung Ende Januar so groß, dass wir nicht bis zum Druck dieser Ausgabe warten wollten. Wir haben sie sofort ins Deutsche übersetzt und zur freien Verfügung auf unsere Website www.rollingstone gestellt.
Was der ROLLING STONE-Reporter von seinem Trip in den Vatikan mitbrachte, ist ein ausführliches Porträt des Jorge Mario Bergoglio, der seit knapp einem Jahr als Papst Franziskus Chef von rund 1,2 Milliarden Katholiken weltweit ist. Binelli schildert den neuen Papst als bescheidenen, den Menschen zugewandten Religionsführer, der sich politischen und vor allem sozialen Fragen stellt und eine klare Haltung bezüglich der Menschenrechte hat. In weniger als einem Jahr habe sich der neue Papst von seinen reaktionären Vorgängern distanziert und sich als „Papst des Volkes“ etabliert.
Aber: „Die veränderte Tonlage des Papstes bedeutet nicht zwangsläufig auch eine komplette Abkehr von den alten Traditionen“, analysiert Binelli.
Dennoch: Die Zeiten ändern sich auch im Vatikan. Die politische Rechte – zumal in den USA – ist irritiert, vor allem über Franziskus‘ deutlich antikapitalistische Kritik. „Purer Marxismus“ sei es, was Franziskus da predige, schäumte Fox-Anchorman Rush Limbaugh, und die Frontfrau der Republikaner, Sarah Palin, bezeichnet Franziskus leicht angewidert als „irgendwie Liberalen“ – ein Schimpfwort, bei dem jeder Schusswaffenfreund und Obama-Hasser zusammenzuckt.
Überhaupt Obama: Er war nicht nur der vor Franziskus letzte Titelheld des ROLLING STONE mit weltpolitischer Bedeutung -auf ihn waren bei seiner Wahl zum ersten schwarzen US-Präsidenten ähnlich große und allumfassende Hoffnungen gerichtet wie nun auf Papst Franziskus. Welche dieser Hoffnungen in den kommenden Jahren auch immer erfüllt oder enttäuscht werden – eines scheint klar zu sein: Ein Platz in der Rock And Roll Hall Of Fame ist Franziskus nach dieser Titelstory auf jeden Fall sicher.
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Die deutsche Übersetzung von Mark Binellis Porträt über Papst Franziskus finden Sie in unserer iPad-App und auf www.rollingstone