Die Zeit der Dramen ist vorbei
Privates Glück und ein musikalischer Durchbruch. Mary J. Bilge gibt dem belanglosen R&B den Soul zurück
Statt der Stilettos, auf denen sie durch ihre Videos stöckelt, trägt die Diva heute in einer Fünfsternesuite nahe der Pariser Oper filzene Hotelpantoffeln. Das falschblonde Haar hat sie achtlos unter ein Beret gestopft, und statt des engen weißen Gewandes, das sie gern auf CD-Hüllen vorführt, steckt sie in einem pludernden Strickpulli, der den bekannt üppigen Busen nur erahnen läßt. Mary Jane Blige ist ungeschminkt. Spröd die Lippen, vernarbt der bronzene Teint – sie wirkt älter als 34. Und blickt aus müden Mandelaugen sehr, sehr ernst.
Mrs. Blige, machen Sie etwa Witze? Ihr neues Album heißt „The Breakthrough“. Dabei war Ihr Durchbruch doch schon 1992. Nein, nein. Zuerst mußte ich „No More Drama“ sagen, das war 2001 und bedeutete meinen kommerziellen Durchbrach. Aber erst jetzt erlebe ich den emotionalen. Endlich habe ich einen klaren Kopf, Zuversicht, Selbstvertrauen.
Ohne großes Leiden keine große Kunst?
Es mag ein Klischee sein, auf mich trifft es zu. Ohne Schmerz kein Fortschritt. Ich mußte durch die Hölle gehen.
Und sie übertreibt nicht einmal. Aufgewachsen in einer Sozialsiedlung in Yonkers, 15 Meilen nördlich von Manhattan. „In unserer Zweizimmerwohnung hausten Millionen von Onkeln und Tanten aus den Südstaaten. Alle soffen.“ Kaum Bildung, Mary Jane prügelt und wird geprügelt. „Ich war häßlich, ich haßte mich.“ Pech mit den Männern. „Alle wollten mich vögeln, keiner liebte mich.“ Einer hat sie beinahe erdrosselt. An einem Karaoke-Automaten im Supermarkt nimmt sie eine Gesangsprobe auf, wird mit 19 entdeckt, mit 21 zum Star. Aschenbrödel aus dem Ghetto, das gefällt der Presse. Sie aber stürzt ab, Kokain, Alkohol. Neue Hoffnung, neues Elend. Und immer trägt sie ihr Herz auf der schnalzenden Zunge, eine manische Bekennerin. Die Trennung vom Verlobten K-Ci Hailey inszeniert sie gar als Duett auf CD, ihre Alben tragen Titel wie „My Life'“‚, „Share My World“, „Mary“.
Eine Stilbildnerin. Vor I4 Jahren, einer kleinen Ewigkeit im Popbusiness, trug sie als Erste R&B-Schmus zu rasselnden HipHop-Beats vor. Ashanti, Faith Evans, Destiny’s Child und TLC kamen und gingen, sie ist noch immer da. Keine lotet private Tragödien mit solchem Tiefgang aus, daß darin das gesellschaftliche Ganze mitschwingt. Auf „The Breakthrongh“ singt Blige göttlich, rappt sie wie der Teufel. Und hat das wohl erste Rfe?B-Album eingespielt, das den Namen Soul verdient. Rock-Papst Bono von U2 singt mit, die Rap-Kings Jay-Z und 50 Cent erweisen ihr mit Gastauftritten die Ehre. Jetzt sitzt die Königin im „Hyatt“ an der Rue de la Paix auf einem Louis-Quinze-Sofa, ist clean, trinkt Fiji-Mineralwasser und sieht noch immer aus wie – Aschenbrödel. Sie artikuliert in aller Ruhe, ja predigt fast. Keine Spur vom Nuscheln ihrer männlichen Kollegen, schon gar nicht von deren kaugummigen „Yo, man. it’s the truth“-Floskeln.
Wir Europäer sind etwas erstaunt über die starke Präsenz des Glaubens in der Black Music. Wie findet man eigentlich, wenn man wie Sie in der Kindheit von Drogen und Gewalt umgeben ist, Gott?
Den fand ich damals nicht. Ich sang in der Kirche, aber wenn Gott nicht in deinem Herzen ist, kannst du noch so klatschen und ihn preisen. Gott findest du erst, wenn du dich selber findest. Das geschah später.
Sind Sie eine Kirchgängerin?
Ich gehe nie hin. Als ich das letzte Mal ging, erzählte der Pfarrer baren Unsinn, er schilderte mein Unglück als eine Art Jüngstes Gericht. Jetzt lese ich daheim die Bibel, schaue der TV-Predigerin Joyce Myers zu, und sie erklärt mir, was ich gelesen habe.
Vor zwei Jahren war sie über beide Ohren verliebt. Überglückliche, man weiß es, singen die langweiligsten Lieder. Inzwischen ist Blige mit dem Produzenten Kendu Isaacs glücklich verheiratet, dennoch ist die neue Platte, ihre siebte, weit gelungener als „Love & Life“. Vielleicht weil der Mentor ihrer frühen Jahre, der vormals als Puff Daddy firmierende P Diddy, diesmal seine klebrigen Finger davon gelassen hat.
Sie singen, Sie wurden im Mann stets den Vater suchen. Kann das gutgehen?
Solang er mich respektiert, ja. Früher schmiß ich mich an Typen, die mir sagten: „Du bist mein Baby, ich werd dir nie wehtun.“ Und dann mißbrauchten sie mich doch. Diesmal weiß ich, daß er mich nicht verletzen wird. Ich hätte diesen Mann nicht gefunden, wenn ich nicht zuerst gelernt hätte, mich selbst zu lieben. In ihm kann ich getrost den Vater suchen.
Die meisten schwarzen Kinder in den USA wachsen ohne Vater auf…
Ein riesiges gesellschaftliches Problem. Das einzig Gute daran: Die Frauen können nicht länger erwarten, daß der Mann sie ernährt. Sie müssen sich selber helfen.
Sie verharrten selbst lange in der stolzen Opferpose. Diesbezüglich ist „I love myself, too“ wohl der Schlüsselsatz des neuen Albums.
Endlich bin ich nicht mehr victim, sondern victor. Wer auch immer uns erniedrigt hat, es ist verdammt noch mal an uns, aufzustehen. Wir dürfen nicht immer anderen die Schuld geben a la: „Die Regierung will uns keinen Job geben!“
Diese Opferhaltung dominierte freilich jahrzehntelang das Lebensgefühl der schwarzen Community.
Wir sagten: „Der Staat soll für uns sorgen, weil unsere Urururgroßeltern Sklaven waren.“ Quatsch. Endlich propagieren Schwarze wie der Senator Barack Obama und der Rapper Kanye West ein neues Selbstwertgefuhl. Wir brauchen keine Almosen mehr.
Sehen Sie sich als ein Vorbild für die Mädchen in den Ghettos?
Das bin ich, absolut. Sie schauen zu mir auf, und ich zeige ihnen, wie die Mary es geschafft hat. Indem ich meinem Vater vergeben habe, daß er uns verließ, als ich vier war. Er hat mir unglaublich wehgetan, aber ich liebe ihn. Ich verzeihe sogar dem Präsidenten…
…daß er die Flutopfer in New Orleans im Stich ließ?
Himmel, das waren meine Leute! Was für eine Katastrophe, niemand darf solches Leid dulden. Amerika hat sein Dntte-Welt-Gesicht entblößt.
Sie erwarten also doch Hilfe von der Regierung?
In New Orleans hätten sie helfen sollen. Sonst aber müssen wir selber darum kämpfen, daß wir Jobs und Schulbildung bekommen. Die Haltung „Her mit meinem Sozialhilfegeld“ führt zu nichts, das hab ich auf die harte Tour gelernt. Ich mußte selber aus meinem Loch hochkriechen.
Blige redet nicht nur. Sie besucht auf ihren Reisen die Ghettos, sie spendet, engagiert sich gegen Drogen, für Aidskranke, sie ermuntert die Jungen, zu wählen, und bringt den Kindern in den Armensiedlungen das Zähneputzen bei. Eine Mutter Courage für Amerikas Hinterhöfe.
Wollen Sie keine eigenen Kinder?
Eine kleine Mary, das wär’s schon. Doch im Augenblick hab ich zu viel zu tun. Außerdem hat mein Mann drei Kinder in die Ehe gebracht.
Kann man mit Musik die Menschen erziehen?
Bestimmt, Kanye West etwa, der informiert und klärt auf in seinen Raps.
Ich dachte eher an Sie.
Meine Musik kann den Menschen zeigen, daß man glücklich werden kann, auch wenn man von ganz unten kommt. Aufzuzeigen, daß jede Niederlage einen weiterbringt, das macht eine Leaderin aus.
Der Silberschmuck an ihren Fingern und Ohrläppchen ist untypisch schlicht fürs protzige HipHop-Fach. Stereotypen meidet sie ohnehin, und mit „The Breakthrough“ zeigt sie Black Beautys und Blondinen gleichermaßen die Altmeisterin: der hysterisch tremolierenden R&B-Schönheit Beyonce Knowles genauso wie der blaß hechelnden Britin Joss Stone, die sich marktgerecht im Retro-Soul suhlt. Mary J. Blige hat ein gelebtes Leben vorzuweisen, deshalb rückt sie einen Stil, der zum belanglosen Hintergrundgesäusel degeneriert war, wieder in den Vordergrund. „Jeder, der Seele hat, kann Soul singen“, sagt sie. „Und wenn du ein trauriges Leben gemeistert hast, dann hast du noch mehr Soul.“
Ein einziges Mal kichert Mary J. Blige. Auf die Frage, ob es in den R&B- und Rap-Videos nicht viel zu viele Titten und Ärsche gebe. „Das klingt so lustig, wie Sie das sagen! Aber Sie haben Recht, das Genre ist übersexualisiert. Ich möchte nicht, daß Mütter rot anlaufen müssen, wenn ihre Kinder mich im TV sehen.“ Einen bedachten Umgang mit ihrer Erotik, auch das hat sie den Nachahmerinnen voraus, die zumeist nur das Produkt männlicher Fantasien sind. ,Aber ohne all die Girls wäre ich nicht die, die ich bin. Die Konkurrenz hat mich angespornt. Sonst war ich vielleicht längst vergessen.“
So aber sind Sie die Queen?
(Sie senkt den Blick, legt die Hände in den Schoß, murmelt:) Offenbar schon.
Nun soll sie für Hollywood die verstorbene Jazzlegende Nina Simone spielen. Man könnte sie sich auch als Billie Holiday vorstellen, als Aretha Franklin, Gladys Knight. Mavis Staples oder Bettye LaVette. Aber am besten ist sie als Mary J. Blige. Besser denn je.