Die West Side Story für Raver
Manni: „Lola, wenn ich jetzt sterben würde, was würdest du machen?“ Sie: „Ich würde dich nicht sterben lassen.“ In diesem knappen Dialog zwischen den Hauptfiguren aus „Lola rennt“ steckt alles drin, was bedeutendes Leinwanderleben generell und den neuen Film von Tom Tykwer im speziellen ausmacht: Verzweiflung, Leidenschaft, Tragik. Eigenschaften, die dem manischen Kinofan nicht nur in visueller, sondern auch in akustischer Hinsicht antreiben. Und daher komponiert Tykwer die Basis-Melodien für seine Filme selbst, bevor er professionelle Hilfe hinzuzieht. Nach „Winterschläfer“ (1997) sind das bereits zum zweiten Mal Reinhold Heil und Johnny Klimek.
Der in Melbourne geborene Klimek zog 1983 nach Berlin, wo er die mäßig erfolgreiche Band The Other Ones gründete. Jahre später erst brachte der Kontakt zur Techno-Szene Aufwind in sein musikalisches Dasein. Seither arbeitet der Produzent und Studiobesitzer auch regelmäßig mit Love Parade-Gründer Dr. Motto zusammen. Heil war Keyboarder der Nina Hagen Band, aus der sich dann die Berliner Band Spliffgründete, deren Alben wie „85555“ und Jierzlichen Glückwunsch“bis 1984 nationale Maßstäbe setzte durch die Verknüpfung modernster Studiotechnik mit einem ausgeprägten Popverständnis. Einen nicht unwesentlichen Anteil des Startkapitals für sein in Santa Barbara, Kalifonien beheimatetes „Heils Label Power Blues Music“-Studk>
verdiente er sich mit der Produktion des Nena-Hits „99 Luftballons“.
Trotz dieser unterschiedlichen Biografien haben Klimek und Heil ergänzende Ideen von bildhaften Sounds. Das erweiterte Klangverständnis nutzte Tykwer während der Dreharbeiten. „Ich mag den Prozeß, in dem ein Film einen eigenen Rhythmus, seinen Körper kriegt Uns fasziniert besonders das Komponieren von Bild und Musik.“ Bei „Lola rennt“ haben sie die ekstatischen short cuts des 82minütigen Films in einen rhythmischen Kontext gestellt Die dabei erreichte Perfektion offenbart aber auch eine altbekannte Problematik. Ohne den optischen Thrill, (Comicsequenzen, Slow Motion, Videotechnik, Standfotos) verliert der aus Techno, Progressive-House und Pop montierte Soundmix erheblich an Intensität Den 13 Songs des Soundtracks, darunter fünf Remixe, geht in der Isolation über die Spielzeit von knapp 70 Minuten schlicht die Luft aus. Obwohl, wie Heil betont, aus dem eigentlichen Score Versionen herausdestilliert wurden, die ohne Bild genießbar sind.
Ganz im Bewußtsein des marketinggesteuerten Cross-Promotion-Effekts wurde die Single „Believe“ ausgekoppelt An den Mikros: Franka Potente, die Lola darstellt, und Thomas D. von den Fantastischen Vier. Das entsprechende Video belegt bei VTVA und MTV bereits heftig rotierende Plätze. Über die musikalisch zweifelhafte Notwendigkeit des Duetts sollte geschwiegen werden angesichts des großartigen Films, der jede erdenkliche Aufmerksamkeit verdient. Für Potente spricht zudem das unprätentiöse Wissen um ihre stimmlichen Möglichkeiten. Einen Plattendeal hat sie abgelehnt, weil sie nicht irgendwann mit dem Satz konfrontiert werden will: „Muß die jetzt auch noch singen!“
Für die Produktionsfirma „X-Filme Creative Pool“ – einem Zusammenschluß des Produzenten Stefan Arndt mit den Regisseuren Dani Levy, Wolfgang Becker und Tom Tykwer – geht es dabei um alles oder nichts. Die hohen finanziellen Vorleistungen, mit denen „Winterschläfer“ und „Das Leben ist eine Baustelle“ parallel produziert wurden, erbrachten nicht die erhofften Einspielergebnisse. Damit war die Existenz des Unternehmens erschüttert Um dennoch der Philosophie gerecht zu werden, Filme für ein großes Publikum machen zu wollen, ohne die Inhalte preisgeben zu müssen, wurde die Idee zu einem schnellen, direkten Film umgesetzt: „Lola rennt“. Für drei Millionen Mark in sechs Wochen. Das Ergebnis ist ein neues popkulturelles Verständnis im deutschen Kino.
Das symbiotische Verhältnis, in dem Bild und Musik hier stehen, zeugt von Können und dem unbedingten Willen, filmische Grenzen niederzureißen. Anders als Josef Vilsmaier („Comedian Harmonists“) und Katja von Garnier („Bandits“), die, obgleich erfolgreich, lediglich Pop-Klischees bedient haben, greift Tykwer die Haltung der Punkbewegung auf: „Um Veränderungen herbeizuführen, muß man Explosionen in Kauf nehmen, bei denen einiges zu Bruch geht Um Manni zu retten, hinterläßt Lola ein Schlachtfeld. Bei den Betroffenen setzt danach aber eine Art Katharsis ein. Der erste Schritt zu einem neuen Bewußtsein.“
Tykwer, Klimek und Heil begreifen Musik als ästhetischen Bestandteil eines Films: im Sinne von Martin Scorsese („Casino“), David Lynch („Lost Highway), Quentin Tarantino (.Jackie Brown“), ohne in die Falle des Kopisten amerikanischer Vorbilder zu tappen. „Lola rennt“ ist ein unzweifelhaft deutscher Film, eine „West Side Story“ der Raver-Generation. Nicht zufällig sind mit Berlin der Ort der Handlung und die Geburtsstätte der Techno-Musik, die den größten Teil der Filmmusik ausmacht identisch. Deutschlands Großbaustelle – ein Synonym für Aufbruch und Veränderung.