Die Welt ist nicht genug
Gelobt sei der Fortschritt - so lautete eine der Maximen der siebziger Jahre. Folgerichtig nannte man den höchst ambitionierten Rock solcher Bands wie Yes, ELP, Genesis und Pink Floyd "progressiv"...
Wenn es ein Genre gibt, das die technischen und kulturellen Möglichkeiten des Albums bis zur bitteren Neige ausgeschöpft hat, dann ist das der Progrock in seiner klassischen Phase in den siebziger Jahren. Und wenn es ein Album gibt, dem dieser künstlerische Drang zur Größe – man könnte es auch als „„Wahn“ bezeichnen – anzusehen und anzuhören ist, dann „Tales From Topographie Oceans“. Erschienen im Frühjahr 1973, versuchten sich Yes damit ganz ironiefrei an der Verwirklichung ihres hehren Anspruchs, die Grenzen des Rock nicht nur neu auszuloten, sondern zu sprengen: Das aufklappbare und von Fantasy-Künstler Roger Dean optisch gestaltete Doppelalbum enthielt mit einer Spieldauer von 83 Minuten und 42 Sekunden mehr Musik, als heute auf eine CD passt – aber nur vier Songs, angelegt als weltmusikalisch-esoterische Traktate und inhaltlich angelehnt an die heiligen Schriften Indiens. Puh. Drunter machten sie’s nicht mehr, die Herren Virtuosen.
Und es waren ja ausschließlich Herren, die sich da gegenseitig in Megalomanie überboten und in einen bizarren Konkurrenzkampf verwickelten, bei dem die größte Beschallungsanlage, das längste Album mit dem krudesten „„Konzept“ (statt „„nur“ einer Sammlung gescheiter Songs), das aufwändigste Cover von Storm Thorgerson, das verschurbeltste Keyboardsolo oder die gewaltigste LKW-Flotte für den Transport des Equipments bei Tourneen entscheidend war. Kaum eine Platte, auf der man sich nicht an bildungsbürgerlichen Hürden wie Bach (Procol Harum) oder Mussorgski (Emerson, Lake And Palmer) versuchte – und kaum ein Song, der keine Suite mit rätselhaftem Titel und verästelten Unterteilungen sein wollte. Doch war nicht alles eitler Bombast, worum Gruppen wie Genesis, King Crimson, ELP, Pink Floyd, die unterschätzten Van der Graaf Generator oder eben Yes sich bemühten. „„Lucky Man“ von Emerson, Lake And Palmer oder „„Carpet Crawlers“ von Genesis gerieten zu veritablen Single-Hits, auch wenn die zugehörigen Alben vor Ehrgeiz nur so tropften.
Typisch waren dennoch die Vermeidung von textlichen Klischees wie auch des gängigen Blues-Schemas – und die Anleihen beim Jazz (Yes mit „The Yes Album“), der Klassik (ELP), Folk (Genesis mit „„Nursery Cryme“, Jethro Tull mit „„Thick As A Brick“, das als ausklappbare Zeitung gestaltet war), der musique concrete (Pink Floyd mit „„Ummagumma“) oder frühe weltmusikalische Ausflüge (Pink Floyd, Patrick Moraz). Hinzu kam, wie es das Progressive eben verlangt, ein Fortschrittsglaube in die Technik. Wer sonst konnte sich die teuersten Prototypen von Tasteninstrumenten leisten, Kirchen mieten, um auf der dortigen Orgel zu spielen – oder das heimische Badezimmer der Akustik wegen im Studio nachbauen lassen?
Das Erstaunlichste an dem ganzen Zirkus aber war, dass er die Leute nicht schon früher langweilte – so wie manche der Musiker selbst. Schon 1973, lange bevor Punk kam und alles wegfegte, verspeiste bei der Tour zu „„Tales From Topographie Oceans“ ein angeödeter Rick Wakeman, unterbeschäftigter Keyboarder von Yes, auf der Bühne demonstrativ ein Curry.