Die Welt braucht Ai Weiwei
Kennengelernt habe ich Ai Weiwei im Mai 2009. Sein Luzerner Galerist Urs Meile hatte mir von den Fotos erzählt, mit denen der Künstler in den 80er- und 90er-Jahren seine Zeit in New York dokumentiert hatte. Das klang interessant. Ich flog nach Peking, wohnte zehn Tage lang im Künstlerdorf Caochangdi. Vom Start weg erlebte ich Ai Weiwei als ungewöhnliche Persönlichkeit. Als sehr ruhigen und überlegten Mann, in keiner Weise hektisch oder arrogant.
Die Ideen für die Ausstellung „Interlacing“, die nun im Fotomuseum Winterthur eröffnet wird, konkretisierten sich Anfang 2010. Im Oktober kam er in die Schweiz, arbeitete mit uns am Konzept. Ich sprach ihn auch auf seine Situation an – auf die seelischen und körperlichen Angriffe, denen er als kritischer Künstler in China ausgesetzt war. Damals meinte er, es gebe Anzeichen dafür, dass die Dinge sich bessern würden. Die Sicherheitskräfte hätten ihn zuletzt nicht mehr nur aus der Ferne überwacht, sondern bei ihm geklingelt und das Gespräch gesucht. Illusionen machte er sich nicht. Trotzdem war er deutlich positiver gelaunt und hatte leise Hoffnung, es könne sich etwas bewegen.
Aber die Zuversicht verschwand schnell. Als in den arabischen Ländern die Revolutionen aufflammten, reagierte die chinesische Regierung heftig. Nur drei Tage vor Ai Weiweis Verhaftung hörte ich, die Polizei sei mehrfach zu Personenkontrollen in sein Studio gekommen. Assistenten waren durch die Hintertür geflüchtet – nicht, weil sie etwas zu verbergen hatten, sondern einfach aus Angst, weil in der Stimmung alles passieren konnte. Am Morgen des 2. April erfuhr ich per Mail von seiner Verhaftung. Die Arbeit an der Ausstellung lief längst auf Hochtouren.
Einige Stimmen im Westen haben Ai Weiwei vorgeworfen, er trage eine Mitschuld an dem, was passiert sei – weil er den Staat provoziert habe. Ich sehe das nicht so. Mein Eindruck ist, dass es in Ai Weiweis Arbeit immer um die Sache geht, nie um Ruhmsucht und Geltungsdrang. Auf Kompromisse hat er sich nie eingelassen. Mehrfach haben die Sicherheitsbehörden ihm Angebote zur Güte gemacht, wenn er zu gewissen Themen schweigen oder bestimmte Bilder nicht zeigen würde. Aber schweigen ist das Letzte, was er tun könnte.
Im Kern geht es Ai Weiwei um ganz einfache Dinge. Um Rechtsstaatlichkeit. Darum, dass Gesetze eingehalten und nicht ständig von der Regierung missachtet werden. Solche Künstler und Menschen muss es nicht nur in China geben. Jedes Land der Erde braucht einen Ai Weiwei. Deutschland, die Schweiz, Frankreich, Italien. Auch bei uns gibt es genug Missstände, Rechtsbeugung und Filz. Auch bei uns werden Stimmen gebraucht, die sich erheben. Persönlichkeiten, die die Fähigkeit zur künstlerischen Selbstdarstellung haben, denen es aber um die Sache geht und um nicht anderes.
In einem unserer Gespräche hat Ai Weiwei mir einmal erklärt, wie vertrackt seine Situation sei: Wirtschaftlich ist sein Land heute so wichtig, dass der Westen praktisch keine Wahl hat – er muss auf Chinas Seite stehen. Aber wie kann man gleichzeitig China und Ai Weiwei lieben? In einer Welt, in der die Ökonomie jede Ethik bestimmt, werden Menschenrechtsfragen immer erst dann diskutiert, wenn die Wirtschaftsverträge schon unterzeichnet sind. Die große Hoffnung, die meiner Meinung nach bleibt: dass steter Tropfen irgendwann den Stein höhlt. Die Veränderungen können nur von innen heraus kommen. Viele Eingeweihte behaupten sogar, die heftigen Reaktionen des Westens auf Ai Weiweis Verhaftung hätten die Türen für ihn noch fester geschlossen. Weil China sich den Gesichtsverlust, ihn freizulassen, jetzt nicht mehr leisten kann und will.
Mir selbst ist durch die Ereignisse erst richtig bewusst geworden, dass dies eine politische Ausstellung ist. Eine Schau, die die Arbeit des Bürgerrechtlers Ai Weiwei dokumentiert. Anfang Mai traf sein Assistent bei uns in Winterthur ein, um vor Ort mit uns alles fertigzustellen. Er meinte, es sei ein unglaublich seltsames Gefühl, dass Ai Weiwei nicht dabei sei. Die Ausstellung wird wie geplant eröffnet werden. Aber der Künstler fehlt. protokolliert von joachim Hentschel
Urs Stahel ist Direktor des Fotomuseums Winterthur. Die von ihm kuratierte Ausstellung „Interlacing“ mit dem fotografischen Werk von Ai Weiwei ist vom 28.5. bis zum 21.8. zu sehen. Der regimekritische Künstler ist seit Anfang April an einem unbekannten Ort in Haft. Offiziell werden ihm Wirtschaftsverbrechen vorgeworfen.