Die Welt als Fantasie und Exzess
Eigentlich wollte der französische Comiczeichner Joann Sfar zur Eröffnung der Dresdener Ausstellung seiner Traumwelten gar nicht kommen, da mehrere Projekte darauf warteten, umgesetzt zu werden. Er kam dann aber doch – vielleicht, um zwei Tage der Liebesaffäre des französischen Staatspräsidenten François Hollande zu entkommen, in der er sich durch seine Karikaturen zum agent provocateur entwickelt hat. Sie veranschaulichen, wie Hollande peinlich berührt und trotzig um sein vermeintlich anständiges Privatleben ringt.
Viele französische Tageszeitungen publizierten die gezeichneten Schelmenstreiche, von denen Sfar in wenigen Tagen über 100 angefertigt hatte. Allein das lässt erahnen, mit welchem Elan er seiner Arbeit nachgeht.
Momente, in denen sein kreativer Geist ruht, kennt der Franzose nicht. Ständig brütet er über neuen Vorhaben. Genregrenzen kennt er ebenfalls nicht, er bewegt sich spielerisch zwischen Comic, Film und Roman. Ausgangspunkt ist dabei stets seine zeichnerische Tätigkeit. So verwendet er für seine Filme wie sein surreales Filmporträt „Gainsbourg – Der Mann, der die Frauen liebte“ (2010) bildhafte Storyboards statt Drehbücher. Und weil sich die einzelnen Teile seines vielfach ausgezeichneten Gesamtwerks wie Romane mit Bildern lesen, nennt er seine belletristischen Werke „Romane ohne Bilder“.
Der in Nizza geborene und in Paris lebende Joann Sfar gehört zu den vielseitigsten und erfolgreichsten Comickünstlern Europas. Ein Zufall, denn er habe eigentlich „immer davon geträumt, Musiker zu werden“ – was erklärt, warum Musik neben dem Verhältnis von Mann und Frau in seinem Werk eine prägende Rolle einnimmt. In den vergangenen 20 Jahren hat er über 100 Alben gezeichnet, darunter fantasievolle Märchen, kulturgeschichtliche Erzählungen und biografische Notizbücher.
Sfar studierte zunächst Philosophie in Nizza und ging anschließend an die Hochschule der Schönen Künste nach Paris. Dort traf er Zeichner wie Emmanuel Guibert, Lewis Trondheim, Christophe Blain, Marjane Satrapi und David B. Mit einigen teilte er sich jahrelang ein Atelier. „Diese Begegnungen waren immens wichtig für meine Entwicklung, ganz abgesehen davon, dass ich von ihnen meine ersten Aufträge zugeschanzt bekommen habe“, erklärt Sfar. Diese Hilfe hat er schon lange nicht mehr nötig, mit Alben wie „Die Katze des Rabbiners“ erreicht er ein Millionenpublikum in über 40 Ländern. Andere Arbeiten wie die Künstlerbiografie „Pascin“ verkaufen sich hingegen nur ein paar Tausend Mal. Sfar beeindruckt das nicht. Manche Fehlschläge müsse man riskieren, um voranzukommen, sagt er überzeugt.
Diese Bereitschaft zum produktiven Scheitern mag ein Grund sein, warum er eines der stilistisch vielfältigsten Portfolios überhaupt vorweisen kann. In seinem Werk findet man alles, von der sorgfältigen Tusche-Zeichnung über exzentrische Aquarell-Experimente bis hin zu Kombinationen von Zeichnung und Fotografie. Anregungen für seine kreativen Spielereien holt er sich mitunter bei Autoren wie Hugo Pratt, Quentin Blake, Robert Crumb, Sempé und Fred.
Sfars entworfene Welten setzen sich zusammen aus Fantastereien, Grotesken und Exzessen, Mythologischem, Historischem und Biografischem. Wolfsmenschen, Golems, Sphinxen und andere übernatürliche Wesen bevölkern seine Comics. Neben den jüdischen Legenden haben es ihm vor allem auch die Vampirgeschichten angetan. Eine der berührendsten ist im Herbst als prachtvoller Sammelband erschienen. Im Mittelpunkt steht der Untote Ferdinand, ein märchenhafter Mix aus Friedrich Wilhelm Murnaus Graf Orlok und Tim Burtons Jack Skellington, der nach der Trennung von seiner untreuen Alraune verloren durch die illustre Unterwelt Litauens geistert. Diese fantasievolle und weit verzweigte Abenteuergeschichte führt famos die allzu menschlichen Verhältnisse in dieser magischen Parallelwelt vor und bildet als solche eine Art Blaupause für Sfars Erzählstil.
In Deutschland sind vor allem seine Comics bekannt, in denen er sich mit der jüdischen Identität sowie den damit verbundenen Legenden und Folkloren auseinandersetzt. „Die Katze des Rabbiners“ ist sein Denkmal für die Juden Nordafrikas, das Doppelalbum „Chagall in Russland“ sowie der Zyklus „Klezmer“ sind eine Hommage an die osteuropäischen Juden. Da seine Familie ihre Wurzeln in Algerien und der Ukraine hat, bilden Algier und Odessa die Pole seiner religionskritischen jüdischen (Comic-)Welt.
Joann Sfars grafische Erzählungen sind fantastische Märchen, die in der Wirklichkeit wurzeln – am besten zu vergleichen mit „Pans Labyrinth“ von Guillermo del Toro. Sfars Leser entdecken einfallsreiche Abenteuer, in denen etwa die jüdische Dogmatik von einer schelmischen Katze hinterfragt oder dem Antisemitismus im zaristischen Russland die bauernschlaue Lebenslust einiger musikalischer Freigeister entgegengesetzt wird. Dies ist nie eindimensional oder kitschig, sondern vielschichtig und klug. Sfar holt auf diese Weise die jüdische Kultur aus dem Schatten des Holocaust und erinnert daran, dass sie seit Jahrtausenden ein Teil Europas ist.