Die „verlorenen Söhne“ und der Männlichkeitswahn
Die Bestseller-Autorin Necla Kelek analysiert die Ursachen der schwierigen Integration in Deutschland lebender Muslime.
Wenn wir über die Ursachen der teilweise gescheiterten Integration und der zunehmenden Fundamentalisierung von Teilen der muslimischen Gemeinde sprechen, denke ich oft an die Anfänge. Ende der 60er-Jahre kamen die Gastarbeiter nach Deutschland, wurden in Heimen untergebracht und mehr oder weniger sieh selbst überlassen. Wenn diesen Menschen bereits damals die inzwischen üblichen Deutschkurse und Unterweisungen in Staatsrecht angeboten worden wären, hätte sich die Sache vielleicht anders entwickelt. Obwohl wir beobachten, dass Bevölkerungsgruppen aus ähnlich strukturierten Ländern wie Portugal oder Griechenland weniger Probleme mit der Integration haben. Angehörige dieser Nationen hatten jedoch schon aus ihrer Kultur heraus eine andere Chance, sich zu individualisieren und hier anzukommen. Der Knackpunkt ist: Wenn man aus einem quasi-feudalistischen Kollektiv kommt, in dem Begriffe wie Ehre, Schande und das „Dienen und Gehorchen“ dem Älteren gegenüber die Werteorientierung und somit die Sozialisation der Jungen und Mädchen bestimmen, hat man Probleme, sich in eine freie Gesellschaft zu integrieren.
Dieses muslimische Menschen- und Weltbild prägt die Großfamilie. Wenn etwa ein hypothetischer Ahmet nach Deutschland kommt, sagt er nicht, „Ich begebe mich jetzt auf einen neuen Weg in ein anderes Leben“, und holt vielleicht seine Frau und seine Kinder nach. Nein, er fühlt sich auch für die gesamte Großfamilie in seinem Dorf verantwortlich und verspricht ihr, sie nachzuholen. Seine Tochter wird er später eventuell in sein Dorf verheiraten, für seine Söhne sucht er eine Braut aus diesem Dorf.
Darin liegt der Kern der meisten Probleme. Nehmen Sie die Aussagen von Thilo Sarrazin zu den Gemüseläden. Die Formulierung ist natürlich furchtbar, aber im Kern hat Sarrazin Recht. Ich kritisiere nicht, dass es so viele Gemüseläden gibt, aber wer arbeitet denn da? Die Großfamilien-Mitglieder, oft die eigenen Kinder, die neben der Schule für den Vater oder Onkel arbeiten müssen. Ohne Lohn oder Versicherung. Zur „Belohnung“ verheiratet der Vater den Sohn und ist spendabel bei der Großhochzeit. So kriegen sie keinen Zugang zu Bildung und reproduzieren die alten Strukturen und Traditionen. Ich kenne diese Kämpfe, ich habe sie erlebt und ausgefochten.
Seit Jahrzehnten beobachte ich mit Sorge, dass vor allem junge Leute hier in Deutschland an diesen alten Traditionen festhalten. Auch die zweite und dritte Generation holt die Bräute aus den eigenen Dörfern, aus traditionellen ländlichen Gebieten der Türkei. Diese Mütter der Zukunft bringen die Tradition des „Dienens und Gehorchens“ mit nach Deutschland, die sie wieder an ihre Kinder weitergeben.
Nachdem man sich jahrelang den Mädchen gewidmet hat, um Chancengleichheit herzustellen, sollten jetzt auch die Jungs nicht aus den Augen verloren werden – auch nicht in der deutschen Gesellschaft. Vor allem die Migrantensöhne, die ich ja als verlorene Söhne bezeichne, brauchen unsere Hilfe. Dem Vater zu gehorchen, die Schwestern zu überwachen, als Kontrollinstanz missbraucht zu werden – all das setzt sie unglaublich unter Druck. Die einem Ehrenmord zum Opfer gefallene Hatun Sürücü hat vor ihrem Tod immer wieder die Nähe ihrer Familie gesucht, ihre Brüder empfangen – sie hätte ja auch wegziehen können. Dass diese Kinder so erzogen werden, dass sie ihre eigene Schwester als Feind sehen, ist die Folge dieses Männlichkeitswahns, dieser Erziehung.
Keine Sekunde habe ich wegen der Anfeindungen gegen mich an meinem Engagement gezweifelt. Im Gegenteil: Je tiefer ich vordringe und je mehr ich merke, wie viele meiner Landsleute aus diesen Strukturen raus wollen, desto klarer wird mir, was für ein wichtiges Thema das ist. Im letzten Jahr scheint sich vor allem „Die fremde Braut“ zunehmend auch unter Migranten verbreitet zu haben, ich bekomme immer mehr Reaktionen aus diesen Bevölkerungsgruppen. Noch nicht immer offen und ehrlich – viele Frauen schreiben mir, dass die Eltern nicht wissen dürfen, dass sie das Buch gelesen haben -, aber die Zustimmung wächst. Auch auf den Lesungen teilt sich die Gruppe der Migranten inzwischen auf in Gegner und jene, die sagen: Wir müssen endlich mal offen über diese Dinge reden. Ein Dialog übrigens, in dem global betrachtet die Türkei eine entscheidende Rolle als Vermittler zwischen Orient und Okzident einnehmen könnte – wenn sie sich noch deutlicher auf Europa zubewegt und dabei nicht nur die wirtschaftlichen Vorteile sieht.
Necla Kelek: Streitbare Autorin, Aktivistin, Wissenschaftlerin.
Hauptthema der in Istanbul geborenen Sozialwissenschaftlerin und Autorin Necla Kelek ist die „islamisch geprägte Parallelgesellschaft“. Mit dem Buch „Die fremde Braut“ gelang ihr ein Bestseller über Zwangsheirat und die Unterdrückung muslimischer Mädchen. Kelek, 52, gehört der Islamkonferenz an und lebt in Hamburg.