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Die unbesungene Metropole: Fünf Alben aus Glasgow
Bei aller Verehrung des UK als unerschöpfliches musikalisches Quell und nimmermüder Impulsgeber der Popmusik, bleibt seine drittgrößte Metropole nicht selten unbesungen. Im Rahmen eines großen Glasgow-Specials befragte das aus dem Forum entstandene Musikmagazin get happy!? seine Redakteure und Autoren zu ihren liebsten Alben von Künstlern, die in der Stadt einst beheimatet waren, dort musizierten - oder es bis heute tun.
Blick auf Glasgow im Sonnenuntergang. Im Mittelpunkt: Trinity Tower und Park Circus
Foto:
Glasgow.
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Belle and Sebastian – The Boy with the Arab Strap [Jeepster, 1998] Es gibt Platten, die bei Erscheinen so fernab jeglicher Moden zu sein scheinen, dass sie schnell das Label „zeitlos“ aufgedrückt bekommen. Hört man sie dann aber Jahre später, sind sie so eindeutig als Kinder ihrer Zeit verortbar, dass man sich fragt, wo die vermeintliche Zeitlosigkeit geblieben ist. The Boy with the Arab Strap von Belle and Sebastian ist so eine Platte. Heute katapultiert sie den Hörer unmittelbar zurück ins Jahr 1998. Ihre auf LoFi gebürstete Lieblichkeit hat die Band zu dieser Zeit schon mit zwei LPs und drei EPs erprobt. Sie ist zusammen mit den traumwandlerischen Melodien zum Trademark geworden – ebenso wie Stuart Murdochs schlaue Texte. Die baden zum einen ganz ungehemmt in der Schönheit der alltäglichen Tristesse und dem generellen Unbehagen gegenüber einer sozial erwarteten Lebenstüchtigkeit. Zum anderen konterkarieren sie die Süßlichkeit der Musik – ein „arab strap“ etwa ist ein Ring, mit dem eine Erektion aufrecht erhalten wird. Ein paar Jahre lang blieben Belle and Sebastian diesem Konzept noch treu, dann kam 2003 Erfolgsproduzent Trevor Horn und nahm der Band für Dear Catastrophe Waitress ihre lang zelebrierte Unschuld. So richtig hat sie sich davon nie wieder erholt. Und so bleibt dem Hörer von heute nichts anderes übrig, als die Zeitreise ins Jahr 1998 anzutreten. Schön ist es dort.
Fabian Wallmeier
Copyright: Jeepster
Rustie – Glass Swords [Warp, 2011] „Bestimmte Musikformen passen einfach zu Glasgow“: Richard Chater, Labelbetreiber und Partymacher aus der schottischen Metropole, weiß, warum ausgerechnet diese merkwürdig verquere Melange aus Südstaaten-Hip-Hop und Intelligent Dance Music (IDM) hier zum Erfolg wurde. „Drum ’n‘ Bass ist hier genau so wenig durchgestartet wie Bassline House, aber Hip-Hop und Techno haben sich immer sehr gut eingefügt.“ Und wie: Die Partyreihe „Numbers“, Zentrifuge des örtlich als Aquacrunk benannten Stils, zählt mittlerweile zu den renommiertesten im gesamten UK. Als eine der tragenden Figuren dieser Szene gilt Rustie, dessen Debütalbum Glass Swords aus dem Jahr 2011 als Paradebeispiel für einen Sound steht, den es erst mal zu fassen gilt. Mittenbetonte Synthesizerklänge raven hyperaktiv, dringlich und immerwährend aus jeder Ecke des Lautsprechers, die hochgepitchten R’n’B-Vocal-Samples unterstützen dabei die stets präsente Hektik. Markenzeichen und bestimmender Sound von Glass Swords ist die insgesamt sehr fluide Produktion, ganz nach dem Vorbild der Detroiter Techno-Helden Drexciya. Da ist es umso bemerkenswerter, dass Rustie trotz der vor Referenzen aus allen Richtungen nur so strotzenden Produktion einen durchaus eigenständigen Sound entwickelt und damit einen wirklichen Weg aus der Post-Dubstep-Depression heraus aufzeigt. Glasgow als rettende Herberge der britischen Clubmusik?
Dennis Raabe
Copyright: Warp
Bert Jansch – Bert Jansch [Transatlantic, 1965] Kein Jahr war für die Entwicklung des britischen Folk Revivals konstitutiver als 1965. Den einflussreichen, stilistischen Erkundungen von Davy Graham und Shirley Collins folgte im Frühjahr des Jahres das Debüt von Bert Jansch, kostengünstig aufgenommen in der mit Eierschachteln isolierten Wohnung des Produzenten Bill Leader. Janschs damit einhergehender Umzug von Edinburgh in die britische Hauptstadt bedingte nicht zuletzt auch maßgeblich den Anschluss der Folkbewegung an den ersten Sommer des Swingin’ London. Durch neue Auftrittsorte verlegten die Künstler ihr Zentrum zunehmend in ein von Hipstern bevölkertes Soho. Betont kontemporär ist somit auch Janschs eigenes Material für das Album, vornehmlich bestehend aus autobiografischen Songs über die Unwegsamkeiten junger Liebe oder dem so befreienden wie zerstörerischen Leben auf der Straße. Charles Mingus wird in Worten und Tönen gleich zweimal als Inspiration belehnt. Die einzige tatsächliche Fremdkomposition auf dem Album ist ein Stück, das Jansch zwei Jahre zuvor entschieden geprägt hatte. Auf einer schlichten Basslinie schlug Grahams „Angi“ damals melodisch wagemutige Kapriolen, wie sie bislang im instrumentalen Folk ungehört waren. Das Zentrum des Albums bildet jedoch Janschs bester Song überhaupt: „Needle Of Death“ räsoniert mitfühlend über den durch Drogenmissbrauch induzierten Tod eines befreundeten Folksängers. Das populäre Stück fand seinerzeit auch Verbreitung in Live-Sets, die ansonsten nur aus traditionellem Material bestanden, in der Presse verfolgte Jansch alsbald der Ruf, selbst an der Nadel zu hängen. Sein eigener, ihn in den nächsten zweiten Jahrzehnten bis an die Schwelle zum Tod bringender Dämon sollte jedoch der Alkohol werden.Kamil Moll
Copyright: Transatlantic
Orange Juice – You Can’t Hide Your Love Forever [Polydor, 1981] Als Bindeglied vom überwiegend düsteren spät-70er-Post-Punk zum Phänomen „New Pop“ mit seinen prominentesten Vertretern Heaven 17, Associates und ABC hatten Orange Juice es zunächst nicht leicht. Sie stellten bewusst dem feierlichen Ernst der Zeit eine Verspieltheit und mondänere Ästhetik entgegen, ohne aber damit nennenswerten kommerziellen Erfolg verbuchen zu können (obgleich man mit dem Debüt immerhin eine Woche in der Top 30 der britischen Charts verbrachte). Die Songs handelten von unerfüllter Liebe und suhlten sich in adoleszenter Romantik, insgesamt war „You Can’t Hide Your Love Forever“ aber zu clever und sarkastisch, zu gestylt, um zum klassischen WG-Zimmer-Klassiker ala „The Velvet Underground & Nico“ oder Joy Divisions „Closer“ zu taugen, in dem ein Seelenverwandter ausgemacht wird. Gleichzeitig war es aber auch zu nostalgisch und zu wenig kunstbeflissen, um von der intellektuellen, anno 1981 den kreativen Post-Punk-Ton angebenden Byrne- und Eno-affinen Gemeinde als Offenbarung aufgenommen zu werden. Mit Drummer Zeke Manyika und dem Nachfolger „Rip It Up“ sollten Orange Juice sich zumindest dem Klangbild der Talking Heads mehr annähern, auf dem Debütalbum sind Funk, Disco und Rythm&Blues-Grooves allerdings noch wohl dosiert und weniger geschmeidig, dafür hören wir in den tänzelnden Gitarren irgendwo zwischen den Byrds und Chic einen kantigeren Proto-Sound des Jangle-Pops, den Johnny Marr später für die Smiths entwarf. Morrissey seinerseits scheint im gleichaltrigen Edwyn Collins mindestens einen Freund im Geiste erlebt zu haben: In der zuweilen humorvollen Annäherung an die frustrierenden Themen spätjugendlicher Ruhelosigkeit und einer gemeinsamen Vorliebe für altertümlich-liebliche Vokabeln (Goodness gracious/You’re so audacious – „In a Nutshell“). Highlights des wohl wichtigsten Glasgow-Albums der Achtziger, dessen Einfluss auf die ungleich erfolgreicheren Glasgower Botschafter Franz Ferdinand gar nicht überschätzt werden kann, sind das von Gitarrist James Kirk verfasste „Felicity“, das Al Green-Cover „L.O.V.E. Love“ und die punktgenaue Neuaufnahme der Postcard-Debütsingle „Falling and Laughing“, dessen Titel die neckische Qualität dieser kleinen Glasgower Sehnsuchtsgedichte vorzüglich auf den Punkt bringt.
Kristina Ruhnke
Copyright: Polydor
Travis – The Invisible Band [Independiente, 2001] Es beginnt mit einem gedämpften asymmetrischen Fiepen, als zöge Wind durch einen Raum. Dann schwillt ein Klingeln an. Doch bevor der Hörer auch nur an einen Gedanken daran verschwenden kann, dass nun die Kakophonie über ihn hereinbrechen könnte, löst sich wenige Sekunden alles in satten Wohlklang auf. So beginnt „Sing“, der erste Track auf „The Invisible Band“ (2001). Und so bleibt die Platte auch: eine typische Nigel-Godrich-Produktion. Sie bettet ihre irritierenden Akzente so behutsam ins musikalische Plüsch, dass sie niemals aufrütteln, aber sacht kleine Widerhaken in die klangliche Harmonie bohren. „The Invisible Band“ setzt damit fort, was die Band auf „The Man Who“ begonnen hat, nur dass sie ihre Songs nun noch ein bisschen feiner poliert. Einige dieser Lieder gehören zu den schönsten, die Fran Healy bisher geschrieben hat: Das verhältnismäßig düstere „Last Train“ suhlt sich in süßem Selbstmitleid. Das annähernd schmissige „Side“ tritt in strahlendem Moll für Zufriedenheit mit dem Status quo ein. Und „Flowers in the Window“ feiert ohne Netz und doppelten Boden und mit einer unwiderstehlichen Melodie die traute Zweisamkeit. All das ist nicht unbedingt aufregend, aber so ungehemmt schön, dass man gern auf Aufregung verzichtet.
Fabian Wallmaier
Copyright: Independiente
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